EM 2024 | Georgien: Nur an der Endrunde teilzunehmen reicht nicht

18. Juni 2024 | EM 2024 | BY Manuel Behlert

Die georgische Nationalmannschaft ist wohl der Außenseiter des Turniers. Jeder Punkt dürfte ein Erfolg sein, trotzdem rechnet sich das Team bei diesem Turnier etwas aus. Mit Stars wie Kvicha Kvaratskhelia im Kader muss sich Georgien jedenfalls nicht verstecken. 

Klar, es muss viel passieren, damit die georgische Auswahl die K.O.-Runde erreichen kann. Aber jeder weiß, wie schnell sich bei einem Turnier Dynamiken entwickeln können. Und ein tiefer Block, viel Disziplin und Hero-Ball mit “Kvaradona” klingt doch nach einem Plan.



Georgien: Schon die Qualifikation ist ein Erfolg

Mit der Qualifikation für die EM-Endrunde gelang Georgien schon Historisches. Das wird niemand im Land dieser Mannschaft vergessen. Qualifiziert hat man sich dabei über Umwege, also die Playoff-Spiele. Im dortigen Finale wurde Griechenland im Elfmeterschießen bezwungen, es war also ein EM-Ticket in aller letzter Sekunde.

Vorher, in der Qualifikationsgruppe, lief es nämlich nicht rund. Spanien und Schottland marschierten durch, Georgien kassierte in acht Spielen vier Niederlagen, unter anderem ein sehr deftiges 1:7 gegen Spanien. Nur gegen Zypern konnte zweimal gewonnen werden, aber es gab ja noch die Nations League, die für das Playoff-Ticket sorgte. 

Und dort zeigte man sich mit guten Nerven ausgestattet. Die Chance auf diese Turnierteilnahme wurde ergriffen und ist die logische Folge einer guten Entwicklung des Fußballs im gesamten Land. Der letzte Test vor der Europameisterschaft verlief auch positiv, hier wurde Montenegro mit 3:1 bezwungen.

Das Konterspiel als Waffe

Es überrascht nun nicht, dass die georgische Auswahl keinen Ballbesitz- und Dominanzfußball spielt. Im Gegenteil: “Eine der Hauptwaffen des Teams von Willy Sagnol ist das Konterspiel, daher erwarte ich, dass sie vor allem gegen Portugal, aber auch gegen die Türkei abwartend spielen werden. Gerade gegen Portugal wäre es unklug, wenn das Team mitspielt. Aber 90 Minuten defensiven Fußball wird es auch nicht geben, dafür hat Georgien zu starke Spieler”, teilte uns Lasha Kokiashvili, georgischer Sportjournalist für Gazzetta, vor dem Turnier mit.

Sagnol Georgien

(Photo by INA FASSBENDER/AFP via Getty Images)

Die Basis für das Spiel der Georgier ist eine sehr gute Organisation. Die Abwehrreihe wird deswegen eher konservativ zu Werke gehen. Das heißt, dass der Ball gerne auch mal lange nach vorn geschlagen wird. Ein flacher Aufbau ist nicht verboten, aber je nach Gegner einfach nicht angebracht. Vielmehr geht es darum, die Räume eng zu machen, klug zu verschieben und zu wissen, in welchen Räumen sich das gegnerische Team gerne aufhält. Hinter der Defensivreihe, die das alles im Blick haben muss, steht ein sehr guter Torhüter, nämlich Giorgi Mamardashvili vom FC Valencia. Er könnte enorm wichtig sein, gilt als einer der besten Keeper in La Liga und stand vor einem Jahr vor einem Wechsel zum FC Bayern München.

Kvaratskhelia als Hoffnung einer Nation

Auch wenn Mamardashvili ein hervorragender Torhüter ist, der Star des Teams hört auf den Namen Kvicha Kvaratskhelia. Den Offensivspieler verpflichtete die SSC Neapel im Sommer 2023 von Dinamo Batumi und tätigte zweifellos den Transfer des Jahres. “Kvaradona”, wie sie ihn am Fuße des Vesuv nach nur wenigen Wochen riefen, führte die Partenopei zum ersten Scudetto seit Ewigkeiten und spielte sich in die Herzen der heimischen Fans. Wenig überraschend ist er auch der Hoffnungsträger im georgischen Team.

“Kvaratskhelia ist der wichtigste Spieler, der Anführer der georgischen Nationalmannschaft, was logisch ist, denn er ist ein Spitzenspieler. Es gab oft Zeiten, in denen die Nationalmannschaft Schwierigkeiten hatte, ein Tor zu schießen, und Kvicha hat dann die Führung übernommen und die Mannschaft nach vorne gebracht. Er hat die größte Unterstützung von der gesamten Mannschaft und dem Land, er weiß sehr wohl, dass er aufgrund seiner Fähigkeiten besonders unter Druck steht”, erklärt Lasha Kokiashvili.

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Kvaratskhelia hat außerdem einen entscheidenden Vorteil: Er kann sowohl aus dem Ballbesitz heraus als auch bei Kontern für Gefahr sorgen. Er liebt es, Raum zu erhalten, aber er braucht ihn nicht unbedingt. Mit viel Wiese vor sich fühlt er sich wohl, aber er kann auch in den engen Räumen mit einer Körpertäuschung in Schussposition kommen, durch seine schnellen Haken Standardsituationen herausholen. Und gerade ruhende Bälle können den Unterschied ausmachen, wenn ein Außenseiter individuell nicht die allerbesten Voraussetzungen hat. Genau das trifft auf Georgien zu.

Georgien: Auch diese Spieler haben einen großen Einfluss

Es wäre falsch, sowohl von Seiten der Georgier als auch der Gegner, wenn man nur Kvarataskhelia als Schlüsselspieler identifizieren würde. Die Georgier haben definitiv mehr zu bieten. Da wäre beispielsweise Otar Kiteishvili, ein Mittelfeldspieler von Sturm Graz, der die Meisterschaft gewann und einer der drei besten Spieler in der österreichischen Bundesliga war. Auch über Edeltechniker Giorgi Chakvetadze, bei dem Verletzungen und mangelnde Konstanz eine größere Karriere bis dato verhindert haben, muss gesprochen werden.

Dann wäre da noch Georges Mikautadze, “der in Metz eine tolle Rückrunde spielte und viele Tore schoss. Giorgi kann aus jeder Position einen Schuss in Richtung Tor abgeben. Er hat eine erstaunliche Technik”, sagt Experte Kokiashvili über ihn. Etwas unter dem Radar fliegt Budu Zivzivadze, der beim Karlsruher SC spielt. Er ist offensiv schwer zu greifen, hat eine gute Physis und vor allem ist er beidfüßig. Er kann vor allem als Joker eine gute Rolle spielen und in der Schlussphase einer Partie noch einmal für Schwung sorgen.

Die Gruppe der Georgier ist nicht übermächtig

Profitieren könnte Georgien indes davon, dass die Gruppe machbar ist. Portugal, Tschechien und die Türkei sind keine ganz leichten Gegner, aber diese findet man bei einer EM-Endrunde ohnehin nicht. Portugal dürfte rein von den individuellen Voraussetzungen her übermächtig sein, aber gegen die anderen beiden Kontrahenten scheint etwas möglich zu sein. Der Vorteil ist, dass Georgien den defensiven, kompakten Ansatz durchziehen kann, individuell aber nicht drastisch unterlegen ist.

Vielleicht reichen diese Zutaten ja schon, um am Ende aus der georgischen Überraschung der EM-Qualifikation auch noch das Märchen der Teilnahme an der K.O.-Runde zu machen. Zu verlieren hat dieses Teams ganz gewiss nichts. Ist nach der Gruppenphase Schluss und man hat sich einigermaßen ordentlich präsentiert, wird ihnen das keiner übel nehmen. Es gibt schlechtere Ausgangslagen als diese vor einem großen Turnier. Vielleicht weiß es die Mannschaft ja zu nutzen.

(Photo by Filip Filipovic/Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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