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FIFA-Schiedsrichter Osmers im exklusiven 90PLUS-Interview: „Will man Akzeptanz, muss man Transparenz schaffen“

10. Juni 2024 | Spotlight | BY Jannek Ringen

Bei der Europameisterschaft in Deutschland werden erstmals neue Regeln zum Einsatz kommen. Im Vorfeld des Turniers haben wir uns mit FIFA-Schiedsrichter Harm Osmers unterhalten, der uns spannende Einblicke in das Schiedsrichterwesen gegeben hat und mit großer Vorfreude auf die EM 2024 blickt.

Osmers über VAR, neue Regeln und das Schiedsrichterwesen

Die Schiedsrichter sind ein wesentlicher Bestandteil des Fußballs und stehen immer wieder im Fokus. Dies wird auch bei der Europameisterschaft in Deutschland der Fall sein, denn erstmals kommen neue Regeln zum Einsatz. Vor dem Turnierbeginn hat sich 90PLUS-Redakteur Jannek Ringen mit FIFA-Schiedsrichter Harm Osmers (39) unterhalten. Der 39-Jährige gab im Jahr 2016 sein Bundesliga-Debüt und hat mittlerweile über 100 Spiele in der höchsten deutschen Spielklasse gepfiffen. Zudem kam er bereits mehrfach in der Europa League und Conference League sowie bei Länderspielen zum Einsatz.

Im 90PLUS-Interview gibt Osmers spannende Einblicke in die Schiedsrichterei. Er lässt die abgelaufene Saison Revue passieren, zeigt uns, was gut lief und wo es noch Verbesserungsbedarf gibt. Zudem spricht der Diplom-Betriebswirt über die neuen Regeln bei der Europameisterschaft, den VAR und wie er Fußballspiele verfolgt.



Osmers betrachtet die Saison rückblickend: „Die wichtigen Spiele liefen gut“

90PLUS: Die Bundesligasaison ist vorbei und es wurde viel über Schiedsrichter gesprochen. Dabei wird deren Perspektive wenig gehört. Was lief aus deiner Sicht gut?

Harm Osmers: Am besten ist es eigentlich, wenn man nach dem Spiel nicht über den Schiedsrichter spricht. Wenn ich so die Saison Revue passieren lasse, dann haben die Bundesliga-Schiedsrichter im Saisonendspurt, in den Relegationsspielen, aber auch im Pokalfinale gute Leistungen gezeigt. Das waren alles Spielleitungen, die sehr wichtig und geräuschlos waren.

Wo besteht Verbesserungsbedarf?

HO: Das Thema Handspiel ist bei vielen Beteiligten immer noch mit einem Störfaktor versehen. Mein Eindruck ist jedoch, dass es wesentlich besser geworden ist. Es wird weniger Handspiel gepfiffen und mehr auf den natürlichen Bewegungsablauf geachtet, was auch im Sinne der Beteiligten ist. Es gab zudem 50 Prozent mehr Rote Karten als in der Saison davor. Das ist ein Kennzeichen dafür, dass wir versuchen, die Gesundheit der Spieler zu schützen.“

Hatte die Saison für dich ein besonderes Highlight?

HO: Für mich war national die Nominierung für den Klassiker zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund ein Highlight, weil es das bedeutsamste Spiel in Deutschland ist. Dazu kommen die K.o.-Spiele in den internationalen Wettbewerben. Da hatte ich mit Spielen in Warschau und Thessaloniki erstmals zwei attraktive Partien. Und ich war bei KI Klaksvik auf den Faröer Inseln. Da war allein die Reise schon ein absolutes Highlight. Das wird mir immer in Erinnerung bleiben.

Wie bereitet ihr Schiedsrichter euch auf die neue Saison vor. Sowohl was Regeln als auch den Fitnesszustand angeht?

HO: Nach zehn anstrengenden Monaten nutze ich die Pause während der EM auch ein Stück weit, um mich zu erholen, fange jedoch dann zur Mitte auch an, mich mit Training auf die neue Saison vorzubereiten. Zudem gucken wir uns viele Spielszenen an und verfolgen natürlich auch mit großer Spannung, wie Neuerungen bei der EM umgesetzt werden. Ende Juli haben wir das Sommer-Trainingslager in Herzogenaurach und stimmen uns dort auf die neue Saison ein.

Harm Osmers im Klassiker zwischen dem FC Bayern und dem BVB.

(Photo by Alexander Hassenstein/Getty Images)

Die neuen Regeln bei der EM: „Die Rolle des Kapitäns wird aufgewertet“

Die Europameisterschaft steht vor der Tür. Für Deutschland sind Felix Zwayer und Daniel Siebert nominiert. Wie blickst du als Schiedsrichter auf das Turnier? Kannst du die Perspektive des Schiedsrichters komplett außen vorlassen?

HO: Ich schaue Fußball wirklich aus der Sicht des Schiedsrichters. Ich fiebere natürlich auch mit meinen Schiedsrichterkollegen mit und drücke ihnen die Daumen. Es ist wie bei einem Film-Regisseur, der geht auch nicht ins Kino und guckt den Film wie ein normaler Zuschauer. Und so geht’s mir als Schiedsrichter. Natürlich freue ich mich über spannende Spiele mit fußballerischen Highlights, aber der Blick geht in erster Linie auf die Schiedsrichterleistung.

Bei der Europameisterschaft werden erstmals neue Regeln zum Einsatz kommen. Unter anderem darf nur noch der Kapitän mit dem Schiedsrichter sprechen. Bei einem Regelbruch drohen persönliche Strafen, wie eine Gelbe Karte. Nicht wenige sehen diese Regel kritisch. Nimm uns mit in die Perspektive der Schiedsrichter.

HO: Ich habe eigentlich durchgängig gutes Feedback dazu erhalten, sowohl von Schiedsrichtern als auch von Spielern. Nicht gerade wenige freuen sich darüber, dass bei diesen Dingen wie in anderen Sportarten mehr Ordnung reingebracht wird. Es ist auch einfach unmöglich, mit acht Spielern gleichzeitig einen Sachverhalt zu diskutieren. Oftmals wollen die auch keine Erklärung, sondern einfach Druck ausüben.

Wie schätzt du die Umsetzung ein?

HO: Ich bin gespannt, wie es genau in der Umsetzung aussehen wird. Das wird auf jeden Fall interessant. Die Rolle des Kapitäns wird massiv aufgewertet. Die Sonderrolle, die er laut Regelwerk innehat, wurde so kaum gelebt. Jetzt besteht die Möglichkeit und ich denke, dass ein Kapitän hier auch besser auf seine Mitspieler einwirken kann als der Schiedsrichter. Deshalb finde ich den Ansatz sehr gut.

Was erhoffst du dir davon?

HO: Diese Neuerung geht am besten vor einem Großereignis wie einer EM. So ein Turnier bietet die Möglichkeit, auf großer Bühne solche Themen einzustreuen, weil man es nicht in der laufenden Saison machen kann. Deshalb finde ich es gut, dass es von ganz oben kommt und die UEFA da voranschreitet. Ich erhoffe mir Effekte bis in die Kreisliga und in den Jugendfußball.

Du durftest bereits mehrere internationale Spiele als Schiedsrichter leiten. Nicht immer kommen der vierte Offizielle und der VAR aus demselben Land bzw. sprechen die gleiche Sprache. Hat das Auswirkungen auf die Toleranz bei Eingriffen? Werden beispielsweise Handspiele anders wahrgenommen?

HO: Die Zusammenarbeit mit internationalen Kollegen funktioniert gut und verdeutlicht die einheitliche Linie im europäischen Fußball. Die Kommunikation wird ein Stück weit auf das Wesentliche reduziert. Es ist natürlich komplizierter, wenn man im Team deutsch und mit dem VAR englisch spricht, das stimmt. Das ändert jedoch nichts am Prozess und vor allem an der einheitlichen Auslegung. Die Kommunikation auf dem Feld ist herausfordernder, aber daran gewöhnt man sich schnell. Eine Motivation bei der Arbeit mit internationalen Kollegen ist, dass man raus aus der Komfortzone kommt und viel voneinander lernt.

Osmers über den Videobeweis: „Will man Akzeptanz schaffen, muss man Transparenz schaffen“

Du bist sowohl als VAR als auch als Schiedsrichter auf dem Platz unterwegs. Nimm uns gerne mit in deine Rolle. Wie läuft es im Keller ab, bevor ihr dem Schiedsrichter ein Signal gebt?

HO: Anspruchsvoller als viele denken. Der Idealzustand ist natürlich, wenn wir nicht eingreifen müssen, das ist klar. Aber auch dann laufen viele sogenannte stille Checks im Hintergrund. Der größte Spagat besteht vermutlich darin, gründlich alle Sachverhalte zu prüfen und gleichzeitig nicht zu detektivisch und kleinteilig zu werden. Ein Videoassistent muss sein Gespür und seine Erfahrung für eine Szene auch am Monitor und in Zeitlupen bewahren.

Die größte Herausforderung ist der Faktor Zeit, was zugleich auch oft bemängelt wird. Du musst sehr schnell zu einer Entscheidung kommen und das setzt einen unter Druck, von dem man sich lösen muss. Nur ein Beispiel: Wir müssen vor dem Signal an den Schiedsrichter immer auch die Angriffsphase prüfen, falls es ein Foul oder eine Abseitsstellung in der Entstehung gab. Dabei geht auch nochmal Zeit drauf. Im Durchschnitt sind wir aktuell bei 85 Sekunden. Wenn man sich anschaut, wodurch alles im Spiel Zeit verloren geht, finde ich das noch im Rahmen. Aber dem Zuschauer im Stadion, der keine Bilder hat, kommt das natürlich sehr lange vor. Ich vergleiche es gerne mit dem Notruf: Die Zeit bis der Krankenwagen da ist, kommt einem auch vor wie eine Ewigkeit. Diese gefühlte Dauer, vor allem wenn du im Stadion keine Bilder hast, ist ein Aspekt, warum der VAR kritisch gesehen wird. Besonders dem Stadionzuschauer fehlt es hierbei an Information und Transparenz. Und das wiederum kostet ein Stück weit Akzeptanz.

Immer wieder kritisieren Fans den Videobeweis. Was ist dein Plädoyer für ihn?

HO:  Der Videobeweis im modernen Profifußball ist zeitgemäß und alternativlos. Es geht um enorme Summen und daher wäre es fahrlässig, auf ihn zu verzichten. Würde man den Videobeweis abschaffen, bin ich mir sicher, es würde keine drei Wochen dauern und eine riesige Debatte pro Videobeweis würde entstehen. Das klare Votum der Profivereine pro Videobeweis in England kürzlich zeigt auch deutlich auf, dass die Vereine den Nutzen sehen. Ein Blick auf die Zahlen in Deutschland verdeutlicht: 118 Fehlentscheidungen wurden in der Bundesliga durch den VAR verhindert, also etwa in jedem dritten Spiel. Aber natürlich sind auch wir verpflichtet, selbstkritisch zu schauen, wo es besser geht.

Wo siehst du im Konstrukt VAR noch Verbesserungsbedarf?

HO: Das Projekt VAR war mit die größte Änderung im Fußball und ist vor sieben Jahren mit einer riesigen Erwartungshaltung gestartet. Und da ist sicherlich nicht alles direkt gelungen, das würde ich selbstkritisch schon festhalten. Fairerweise muss man einer solchen Veränderung aber auch Zeit geben. Mittlerweile habe ich aber den Eindruck, dass die Akzeptanz für den VAR deutlich besser geworden ist. Man hat sich an den VAR gewöhnt und das meine ich im positiven Sinn. Jeder weiß, was passiert.

Es gilt für Entscheidungen grundsätzlich und somit auch beim VAR: Will man Akzeptanz erzielen, muss man Transparenz und Vertrauen schaffen. Denkbar für die Zukunft wäre zum Beispiel, dass regelmäßig Videosequenzen im Nachgang zum Wochenende veröffentlicht und erklärt werden.

Viele Fans fordern, dass sich der Fußball ein Beispiel am US-Sport nimmt. Sind Challenges oder die Kommunikation der Schiedsrichter über Stadion-Lautsprecher eine Option?

HO: Das sind Modelle, die wiederkehrend in die Diskussion reingekippt werden und als Super-Lösung gelten. Wenn man diese Dinge weiterdenkt, dann wird es wieder kompliziert und im Detail gibt es so viele offene Fragen, die nicht beantwortet werden. Ich kann den Ruf nach Challenges sogar ein Stück weit verstehen und vermutlich würde es den Videoassistenten auch aus der Schussbahn nehmen, aber es gibt so viele Fragen, die beantwortet werden müssen. Fußball ist kein Experimentierfeld, wo man einfach Challenges ausprobiert. Die Stadiondurchsage wäre sehr technisch und hätte keinen Mehrwert in meinen Augen, weil kaum Informationsgewinn entstehen würde. Ich würde Bilder deutlich besser finden.

Harm Osmers spricht über den Videobeweis.

(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)

Osmers über das Schiedsrichterwesen: „Der Job ist unglaublich charakterbildend“

Du hast Anfang April eine Partie in der Saudi Pro League zwischen dem Meister Al-Hilal und Al-Khaleej geleitet. Wie kam dies zustande?

HO: Es gibt grundsätzlich viele Anfragen von ausländischen Ligen, aber es sind dann eher europäische wie beispielsweise Griechenland, Türkei und Kroatien. Zum Ende der Saison kam dann aber die Anfrage aus Saudi-Arabien und das hat bei mir auch zeitlich gepasst. Die vielen Anfragen zeigen auch den Stellenwert für das deutsche Schiedsrichterwesen.

Der Boom in Saudi-Arabien ist seit dem vergangenen Sommer riesig. Welche Unterschiede konntest du zur Bundesliga wahrnehmen?

HO: Es war schon eine Herausforderung, vor allem aufgrund des Klimas und der Uhrzeit, denn das Spiel war um 22 Uhr Ortszeit. Außerdem war vor Ort eine ganze andere Mentalität. Die Entscheidung an den Mann zu bringen benötigt in Saudi-Arabien schon mehr Verhandlungsgeschick. Da muss man viel sprechen und auf die Spieler eingehen.

Zum Abschluss: Der DFB hat das Jahr der Schiedsrichter ausgerufen. Weshalb sollten Jugendliche Schiedsrichter werden?

HO: Der Job des Schiedsrichters ist einfach unglaublich charakterbildend. Als Jugendlicher kann man das einfach mal parallel zum Fußball ausprobieren – ganz ungezwungen. Das gibt erstmal eine neue Perspektive auf den Fußball und man lernt viel dazu. Du lernst viele neue Leute und Orte kennen. Das fand ich als Jugendlicher spannend. Aber natürlich würde ich es nicht nur jungen Leuten raten, sondern auch denjenigen, die vielleicht mit Fußballspielen aufgehört haben, Anfang 30 sind und im Fußball bleiben wollen oder nach etwas suchen, wo sie sich sportlich weiter betätigen können. Ideale Voraussetzung, um Schiedsrichter zu werden.

Was ich auch immer betone: Auch als Schiedsrichter gewinnt und verliert man Spiele. Mal liefert man eine super Performance ab und freut sich, mal war man nicht gut und fährt geknickt nach Hause. Das kennt jeder Spieler, aber es geht auch jedem Schiedsrichter so und das macht auch den Reiz des Schiedsrichterjobs aus, immer sein Bestes zu geben.

(Photo by Matthias Hangst/Getty Images)

Jannek Ringen

Sozialisiert durch die Raute von Thomas Schaaf, gebrochen durch den Abstieg unter Florian Kohfeldt. Fußball in Deutschland ist sein Fachgebiet, aber immer mit einem Blick in England und Italien.


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