EM 2024 | Topstars ja, große Chancen nein: Warum es für Polen besonders schwierig wird

6. Juni 2024 | News | BY Manuel Behlert

Zugegeben, für die ganz historischen EM-Momente war Polen bisher noch nicht zuständig. Trotzdem hat sich die Nationalmannschaft zum fünften Mal in Folge für die Endrunde qualifiziert, einmal davon war sie als Gastgeber automatisch im Teilnehmerfeld. Mehr als das Viertelfinale 2016 sprang noch nicht heraus, dreimal war in der Vorrunde Schluss. 

Und auch wenn diesmal der dritte Platz ausreichen kann, um die K.O.-Runde zu erreichen, erscheint das unwahrscheinlich. Gründe gibt es viele, angefangen bei der fehlenden Breite auf einigen Positionen im Kader. Zudem gibt es fußballerisch viele Probleme zu kaschieren, die letzten Monate und Jahre waren alles andere als vielversprechend. Doch woran liegt das? Und können sie Topstars, die zweifelsohne noch im Aufgebot zu finden sind, das vielleicht kaschieren?

Vor der EM 2024: Eine Spurensuche nach Polens Problemen

Die polnische Nationalmannschaft ging selten in ein Turnier und hatte den Anspruch, zu den Anwärtern auf den Titel zu gehören oder zumindest in Richtung Halbfinale zu schielen. Das Überstehen der Gruppenphase war schon immer das Hauptziel, das selten genug erreicht werden konnte. Was den Polen über einen langen Zeitraum aber nicht nachgesagt werden konnte, war fehlende Kontinuität. Von 2013 bis 2018 dauerte die Amtszeit von Adam Nawalka als Nationaltrainer an, auch Jerzy Brzeczek hielt sich immerhin über 900 Tage. Unter beiden spielten die Bialo-Czerwoni zumindest stabil, wenn auch nicht hochmodern. 

Das ist bei Nationalteams ohnehin schwierig, weil weniger Zeit zur Verfügung steht, um Elemente auf höchstem Niveau einzustudieren. Nun ist es aber so, dass nach der Brzeczek-Amtszeit eine Entscheidung getroffen wurde, die dafür sorgte, dass die Polen das ruhige Fahrwasser verließen. Paulo Sousa wurde im Januar 2021 zum Trainer ernannt, gewann nur eines seiner ersten acht Spiele, verlor in der Gruppenphase der letzten EM 2021 gegen die Slowakei und Schweden, was das Gruppenaus aus Tabellenletzter bedeutete. 



Am Ende des Jahres war er schon wieder weg. Unter Czeslaw Michniewicz wurde es nicht besser, im Gegenteil. Die Mannschaft wirkte von Länderspielperiode zu Länderspielperiode unsicherer. Es fehlte eine Führungskraft auf der Trainerposition, die den Rhythmus vorgeben konnte. Auch Michniewicz hielt sich nur ein knappes Jahr, ehe Fernando Santos installiert wurde. Immerhin sechs Spiele (drei Niederlagen) hielt er es auf der Bank der Polen aus. Von Kontinuität war keine Spur mehr. Und auch die fußballerischen Ideale der engagierten Trainer entschieden sich voneinander. 

Bedenken wir nun, was wir schon vorher gesagt haben, nämlich, dass es schwer ist, hochkomplexe taktische Elemente bei einem Nationalteam einzuüben, dann sind mehrere Stilwechsel in Folge suboptimal. Vor allem dann, wenn davon auf dem Feld nicht viel zu sehen ist. Dass darüber hinaus im Verband selbst keine Einigkeit herrschte, befeuerte die Situation noch weiter.

EM 2024: Santos ist schon länger nicht mehr Trainer Polens

Fernando Santos, Europameister von 2016, hielt sich nur sechs Spiele polnischer Nationaltrainer. (Photo by Rafal Oleksiewicz/Getty Images)

Polen: Nicht viel Grund zur Vorfreude auf die EM

Bei der Auslosung der Gruppenphase der EM 2024 hatten die Polen kein Glück. Im Gegenteil. Es geht gegen Frankreich, die Niederlande und Österreich. Selbst die ÖFB-Elf wirkt nach ihrem Formanstieg unter Ralf Rangnick wie ein übermächtiger Gegner. Zwar haben die Polen vor einem guten Jahr die DFB-Auswahl schlagen können, aber einen besonderen Wert hatte das nicht. Das sieht auch Filip Zielinski, der sich für Przegląd Sportowy unter anderem mit der polnischen Nationalmannschaft beschäftigt, so.

Er hadert vielmehr mit den letzten Jahren: “Ich würde dem Spiel gegen Deutschland keine große Bedeutung beimessen, denn es war nur ein Freundschaftsspiel. Die Qualifikation und die Zeit unter Fernando Santos war die schlechteste für die polnische Nationalmannschaft im 21. Jahrhundert, vielleicht sogar in der Geschichte. Die Spiele gegen Moldawien (2:3, 1:1) waren eine einzige Blamage. Aus diesem Grund sind die Erwartungen an die Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft sehr gering.”

Heißt: Die Mannschaft muss sich erst einmal wieder einen gewissen Kredit erspielen. Die Tests gegen die Ukraine und die Türkei werden besonders wichtig sein, um die Fans wieder abzuholen, ein Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen. Schließlich gelang die Qualifikation gegen Estland und Wales auch nur durch die Playoffs, nachdem sich das Team in der Qualifikationsrunde deutlich Tschechien und Albanien geschlagen geben musste. Anspruch und Wirklichkeit klafften hier doch weit auseinander.

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Letzte Hoffnung Außenseiterrolle?

Auch der Kader der polnischen Nationalmannschaft hat seine Schwächen. Michal Probierz, aktuell als Cheftrainer im Amt, hat nicht den ganz großen Pool an Topspielern zur Verfügung. Klar, es stechen einige Spieler hervor, darunter natürlich Robert Lewandowski vom FC Barcelona, Piotr Zielinski von der SSC Napoli und Nikola Zalewski von der Roma, aber sonst wird es schon etwas dünn. „Erwähnenswert ist noch Wojciech Szczesny, der bei der Weltmeisterschaft in Katar unser größter Held war und seit einiger Zeit in der Nationalmannschaft hervorragend spielt. Der Schlüssel wird jedoch darin liegen, unsere Defensivschwächen zu überdecken. Abgesehen von Jakub Kiwior haben wir keinen einzigen Verteidiger auf einem guten Niveau“, legt auch der Experte den Finger in die Wunde.

Auch die Statistiken untermauern, dass es defensive Schwierigkeiten gibt. Zwar hielt Polen hier und da die Null, aber Moldawien (zweimal), Estland, Tschechien (zweimal) und Albanien, allesamt nicht die größten Gegner, konnten gegen Polen treffen. Liegt die Chance vielleicht darin, Außenseiter zu sein? Alle Gruppengegner haben einen individuellen Vorteil gegenüber den Polen, alle sollten technisch das bessere Team sein. Für Filip Zielinski liegt hier eine kleine Chance: “Im Allgemeinen fühlen sich polnische Mannschaften, sowohl Nationalmannschaften als auch Vereine, wohler, wenn sie nicht in der Favoritenrolle sind und niemand auf sie setzt. Zumal unsere Stärke im Konterspiel und nicht im Positionsangriff liegt.”

Kontern wird Polen definitiv können, diese Möglichkeiten werden sich bieten. Für eine positive Prognose reicht das aber nicht: “Mir scheint, dass jeder Punkt in dieser Gruppe ein Erfolg ist. Ich lasse das Szenario zu, dass man vom dritten Platz aus irgendwie noch die K.O.-Runde erreicht, aber ich gebe dem keine allzu große prozentuale Chance.”

Doch was muss passieren, dass die kleine prozentuale Chance irgendwie genutzt werden kann? Wohl zu viel. Die Defensive wurde schon angesprochen. Hier kommt es auf individuelle Leistungen an. Ein hochgrad effektives Defensivkonstrukt zu entwickeln, ist in der Kürze der Zeit nicht möglich. Jan Bednarek, Bartosz Salomon, Bartosz Bereszynski & Co. müssen am Maximum der eigenen Leistungsfähigkeit agieren, damit etwas möglich ist. Damit die Verteidigung stabil genug steht, sind auch die Offensivspieler gefragt, die gegen den Ball viel investieren müssen, um zu unterstützen. 

Das wiederum wirkt sich auf die Energiereserven aus, der Weg zum gegnerischen Tor wird weiter, weswegen noch einmal mehr Präzision bei den eigenen Kontern gefragt sein wird. Zumal Spielern wie Lewandowski die Tore und Torchancen auch nicht vor die Füße fallen, nur viermal traf er in den letzten zehn Länderspielen. Kurzum: Polen muss über sich hinauswachsen. Und braucht zudem noch Spielglück, denn mehr Chancen und mehr Ballbesitz werden wohl die Gegner haben. Wenn all das der Fall ist, dann müssen die Gegner auch noch etwas anbieten. Ein Element alleine reicht nicht, all das muss zusammenkommen. Deswegen wird es für Polen bei der EM 2024 besonders schwierig.

(Photo by WOJTEK RADWANSKI/AFP via Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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