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EM 2024 | Interview mit Taktik-Experte: „Bei so einem Turnier gewinnt die Einfachheit“

13. Juni 2024 | Spotlight | BY Michael Bojkov

Julius Riemann (24) arbeitet als Referent und Trainer für den Fußballverband Sachsen-Anhalt und ist dort unter anderen für die Talentförderung verantwortlich. Regelmäßig bereitet er die Landesauswahl unterer Jahrgangsstufen auf Turniere vor und verfügt daher auch über das nötige Wissen, wie man einer Mannschaften innerhalb weniger Wochen die eigene Spielidee vermittelt.

EM 2024: Welche Rolle spielt die Taktik?

Was der ehemalige Jugendtrainer des 1. FC Magdeburg im Kleinen macht, ist für die Bundestrainer eine elementare Aufgabe: Vor einer Europameisterschaft müssen die Spieler innerhalb kürzester Zeit lernen und verinnerlichen, was sie wann auf dem Platz tun müssen, um perfekt vorbereitet zu sein, wenn es drauf ankommt.

Im Interview mit 90PLUS-Redakteur Michael Bojkov erklärt Julius Riemann unter anderem, welche Prinzipien sich in der Kürze der Zeit einstudieren lassen und welchen Raum Spielidee und Taktik während eines großen Turniers wie der Europameisterschaft einnehmen.



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90PLUS: Hallo Julius, lass uns mal etwas allgemeiner einsteigen: Welche Rolle spielt Taktik bei einer Europameisterschaft aus deiner Sicht? 

Julius Riemann: Taktik umfasst neben dem, was der Zuschauer sieht, die komplette Kommunikation zwischen den Spielern auf dem Platz – auch nonverbal, in dem der Spieler sieht, wo sich Ball, die Mitspieler und der freie Raum befinden. Vor diesem Hintergrund ist Taktik auch bei einem Turnier wie der Europameisterschaft ein absolut übergeordnetes Thema, wenngleich es in diesem kurzen Zeitraum vergleichsweise natürlich deutlich schwieriger ist, gewisse Prinzipien einzustudieren. In Summe lassen sich klassische taktische Abläufe bei einer EM also schlechter beobachten als im Vereinsfußball. 

Was kann in der Kürze der Zeit überhaupt einstudiert werden? Sind ausgefeiltere Spielideen möglich oder bleibt es bei den Grundprinzipien?

JR: Ausgefeiltere Spielideen einzustudieren ist vor so einer EM eigentlich kaum möglich. Gucken wir uns doch anhand der DFB-Elf an, aus wie vielen verschiedenen Klubs die Spieler kommen. Alle haben über die reguläre Saison hinweg ganz unterschiedliche Trainer mit unterschiedlichen Spielprinzipien und taktischen Abläufen. Natürlich: Je mehr klare Abläufe die Spieler an die Hand kriegen, desto besser. Wo soll das Team am besten angreifen, welche Räume sollen bespielt werden, wie will man vereidigen – je konkreter diese Vorgaben sind, desto schwieriger wird es in der Regel auch für den Gegner. Gleichzeitig kann man in der Kürze der Zeit nicht alles über den Haufen werfen, wie Julian Nagelsmann ja selbst angekündigt hatte. Natürlich kannst du 100 neue Prinzipien einbringen, aber letztendlich gewinnt die Einfachheit. Das gilt es auch so umzusetzen, weil du als Nationaltrainer eigentlich nicht die Zeit und die Anzahl an Trainings hast, wie das im Vereinsfußball der Fall ist.

Julian Nagelsmann und Sandro Wagner tüfteln vor der EM 2024 an der Taktik für das DFB-Team

(Photo by Alex Grimm/Getty Images)

Welche Rolle nimmt die mentale Arbeit vor einer EM ein? Ist sie wichtiger als während einer Saison im Vereinsfußball?

JR: Definitiv. Das lässt sich auch am Beispiel Nagelsmann beobachten, der ja sehr viele Einzelgespräche geführt und ein klares Rollenverständnis für jeden Spieler eingefordert hat. Wenn du als Spieler weißt, welche Rolle du in der Mannschaft und auf dem Feld hast, mindert das den Druckfaktor schon mal um ein Vielfaches. Wenn die Mannschaft als Einheit zusammenwächst und dazu Erfolgserlebnisse wie Testspiel-Siege feiert, kann sie das durch so ein Turnier tragen. Auch ein erfolgreicher Start ins Turnier kann Großes bewirken.

EM 2024: Über den Worst Case für Trainer und „Blöcke“

Wie kann man sich komplementär dazu die taktische Arbeit vorstellen? Welche Unterschiede zum Klubfußball siehst du im Workflow?

JR: Im Vorfeld geht es für einen Bundestrainer erst einmal darum, die Spieler zu beobachten. Daraus ergibt sich dann, wer wie in deine Mannschaft passt. Dabei stellt sich aus Bundestrainer-Sicht auch immer die Frage, inwieweit es vielleicht Sinn ergibt, in Blöcken zu denken, also mehrere Spieler aus einem Klub in die Nationalmannschaft zu holen. Der Worst Case als Coach ist es, elf Spieler aus elf verschiedenen Teams zu haben, weil du dann hinsichtlich der taktischen Prinzipien absolut bei Null stehst. Ein Grund für Spaniens Erfolg bei der WM 2010 war mit Sicherheit auch, dass mehrere Spieler von Real Madrid und dem FC Barcelona in der Nationalmannschaft waren. Gleiches gilt für Deutschland, das beim Triumph 2014 in Brasilien jeweils über einen großen Block aus München und Dortmund verfügte.

Nehmen wir als aktuelles Beispiel den DFB: Mit Tah, Andrich und Wirtz besteht die Startelf aus einer sehr erfolgreichen Leverkusener Achse. Inwieweit kann Nagelsmann daraus Profit schlagen?

JR: Für Nagelsmann wird das definitiv von Vorteil sein, weil so eine Achse die Abläufe aus ihrem Verein verinnerlicht hat. Da geht es in erster Linie gar nicht mal um die taktischen Abläufe. Sie wissen aber ganz genau, wie sich der jeweils andere Spieler bewegt, weil sie unheimlich viele gemeinsame Trainingseinheiten und Spiele haben. Wenn Tah beispielsweise den Ball am Fuß hat, weiß er genau, in welchem Raum sich Andrich befinden wird und dieser wiederum weiß, wie sich Wirtz eine Reihe davor bewegt. Das ist eine Art von eingespielter nonverbaler Kommunikation, die gerade für eine Nationalmannschaft unverzichtbar ist. Dadurch können auch starke Einzelspieler nochmal ganz anders zum Vorschein kommen. Wie ich bereits andeutete, kann bei einem großen Turnier genau eine solche Achse das Zünglein an der Waage sein.

Robert Andrich und Jonathan Tah bereiten sich auf die EM 2024 vor

(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Ein vielleicht etwas abstraktes Gedankenspiel: Inwieweit wäre es aus Sicht von Julian Nagelsmann sinnvoll, sich taktisch an Xabi Alonso und Leverkusen zu orientieren?

JR: Dafür ist der Fußball von Alonso in seiner Gesamtheit zu komplex und die Zeit zu kurz. Ich glaube aber, dass Nagelsmann vereinzelt Muster und Bausteine von Alonso übernehmen könnte, zum Beispiel für den Spielaufbau. Zumal er eben auf diese zentrale Achse aus Tah, Andrich und Wirtz setzt. Abgesehen davon hat jeder Trainer aber seine eigenen Absichten und Ideen, die er natürlich versucht auch bei einem solchen Turnier umzusetzen. Eine Spielidee wird Nagelsmann nicht kopieren.

Wo es Bundestrainer leichter haben und warum Ungarn interessant ist

Wie läuft die Vorbereitung auf ein großes Turnier mit den Spielern ab? Welche Inhalte stehen an der Tagesordnung?

JR: Sobald es in die Turniervorbereitung mit den Spielern geht, ist bis zum letzten Gruppenspieltag praktisch alles durchgetaktet, sowohl mit Trainingseinheiten als auch mit einzelnen Teamevents. Da bleibt eigentlich gar keine Zeit, um an den Tagesabläufen noch irgendetwas zu verändern. Was aber auch gut ist, da eine solche Taktung den Druck von den Spielern nehmen kann. Die taktische Arbeit während des Turniers besteht dann vor allem darin, Videomaterial vom letzten Spiel zu sichten und anhand dessen zu schauen, was gegen den nächsten Gegner besser laufen muss. Diese Inhalte müssen dann innerhalb einer Trainingseinheit pro Tag an die Spieler adressiert werden. Mehr Einheiten sind praktisch nicht möglich, da dies die Belastung der Spieler zerschießen würde. 

Die taktischen Inhalte während des Turniers sind also stark am Gegner orientiert. 

JR: Ja, als Nationaltrainer hast du dahingehend den Vorteil, dass du bessere Möglichkeiten zur Gegnerbeobachtung hast als ein Klubtrainer. Nagelsmann kann die letzten sieben, acht Spiele vom Schottland hernehmen und dadurch, dass sich die taktischen Inhalte einer Nationalmannschaft nicht so schnell großartig ändern, kann er letztendlich ein sehr präzises Gegnerprofil erstellen. 

Bei der Frage, ob Spielidee X einstudiert werden kann oder nicht: Wie viel hängt vom vorhandenen Spielermaterial und wie viel vom Trainer ab?

JR: Das ist immer eine heiße Debatte. Grundsätzlich gibt es ja diese zwei Paradigmen: Entweder der Trainer hat glasklare Vorstellungen und sucht sich anhand dieser die passenden Spieler zusammen oder der Trainer schaut, was der Spielerpool überhaupt hergibt und entscheidet im Anschluss, welche Spielidee die passende ist. In der Hinsicht ist auch die Flexibilität des Trainers gefragt. Um auf die Frage zurückzukommen: Da ein Nationaltrainer ja nur aus dem vorhandenen Spielerpool wählen und keine Spieler transferieren kann, die zu seiner Idee passen, würde ich sagen, dass bei einer Europameisterschaft das vorhandene Spielermaterial auch eine entsprechend höhere Gewichtung in der Taktikfrage hat.

Gutes Beispiel aus deutscher Sicht ist die Linksverteidiger-Debatte, wo Nagelsmann ja unter anderem mit Havertz herumexperimentieren musste. Glücklicherweise hat Maximilian Mittelstädt eine herausragende Entwicklung hingelegt, sodass diese Debatte nicht mehr existiert. Hätte Mittelstädt diese starke Saison mit Stuttgart nicht gehabt, hätte Nagelsmann anhand des vorhandenen Spielermaterials andere Lösungen finden müssen.

Maximilian Mittelstädt wird die EM 2024 als Stamm-Linksverteidiger der DFB-Elf bestreiten

(Photo by Alexander Hassenstein/Getty Images)

Inwieweit kann sich eine Spielidee auch erst im Laufe eines Turniers entwickeln?

JR: Da es ja nur die drei Gruppenspiele plus etwaige K.o.-Phase gibt, kann man davon ausgehen, dass während des Turniers kein großartiger Paradigmenwechsel innerhalb einer Mannschaft stattfindet. Es gibt Mannschaften, die in der Qualifikation zum Beispiel sehr erfolgreich auf Umschaltmomente gespielt haben. Ihre Spielidee werden sie dann nicht während einer Europameisterschaft ändern. Auf der anderen Seite glaube ich auch nicht, dass eine Mannschaft wie Deutschland, die auf ein sehr zentrumsorientiertes Positionsspiel setzt, plötzlich den Bus hinten parkt. Was man während der EM 2024 beobachten kann, ist vielleicht, dass sich innerhalb eines Teams einzelne Pärchen herauskristallisieren. Beispiel: Im ersten Gruppenspiel funktioniert das Zusammenspiel zwischen Linksverteidiger und Linksaußen nicht, der Trainer nimmt für das zweite Spiel einen personellen Wechsel vor und plötzlich performt die linke Seite in Personalunion. Ein Fall wie dieser ist auf jeden Fall realistischer als ein Wechsel der kompletten taktischen Grundordnung.

Abschließend: Welchen Trainern traust du bei der EM 2024 zu, mit einer taktisch raffinierten Spielidee zu trumpfen?

JR: Ich hoffe natürlich, dass die Spielidee von Julian Nagelsmann fruchtet und Deutschland weit bringt. Wenn man das Ganze etwas exotischer denkt, fällt mir Ungarn ein. Nationaltrainer Marco Rossi wählt im eigenen Ballbesitzspiel einen sehr interessanten Ansatz, in der Taktik-Bubble nennen wir ihn den Relationismus. Um das kurz auszuführen: Es gibt den positions- und raumspezifischen Ansatz, der ursprünglich von Pep Guardiola etabliert wurde. Da geht es darum, dass gewisse Zonen im Spiel besetzt werden. 

Seit etwa eineinhalb Jahren setzt sich aber auch immer mehr ein Ansatz durch, der maximal ballfokussiert ist. Um das kurz zu erläutern: Die Mehrzahl der eigenen Spieler soll sich in Ballnähe befinden und von dort aus versuchen, sich durch die gegnerischen Reihen zu kombinierend. Zumindest in Teilen wählt Rossi genau diesen Ansatz. Man kann bei Ungarn beobachten, dass teilweise bis zu sieben Spieler ballnah auf dem linken Flügel positioniert sind, während die rechte Seite leer ist. Insofern könnte es sehr spannend werden, die Spiele von Ungarn bei der EM 2024 zu verfolgen.

(Photo by Christian Kaspar-Bartke/Getty Images)

Michael Bojkov

Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.


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