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EM 2024 | Ungarn: Mehr als nur der unangenehme Gegner

15. Juni 2024 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Zum fünften Mal nimmt die Nationalmannschaft Ungarns an einer EM-Endrunde teil, zum dritten Mal nacheinander. 1964 reichte es für Platz drei, was den bisherigen Höhepunkt markierte. In diese Sphären wird man diesmal nicht vorstoßen, doch die Gruppenphase zu überstehen scheint machbar. 

Denn in den letzten Jahren ist etwas zusammengewachsen in Ungarn. Das Team geht zum zweiten Mal in Folge mit Trainer Marco Rossi in das EM-Turnier. Und der Italiener hat zuletzt einiges bewegt. Sogar so viel, dass die Magyaren nicht mehr bloß den Ruf als unangenehmer Gegner innehaben. 

Ungarn: Qualifikation ohne Niederlage 

Die ungarische Nationalmannschaft hatte in der EM-Qualifikation eine Gruppe mit Bulgarien, Montenegro, Litauen und Serbien zu überstehen. Diese meisterte man mit Bravour, gewann fünf Spiele, holte drei Remis und löste das Ticket für die Endrunde in Deutschland ohne Niederlage. Zudem wurden drei Spiele in der Qualifikationsphase ohne Gegentor absolviert, bis auf einmal traf Ungarn immer. Die Mannschaft hatte gegen jeden Gegner Lösungen parat, präsentierte sich oft auf einem guten Niveau. 



Da kommt es nicht überraschend, dass die ungarische Auswahl nur eines der letzten 15 Länderspiele verloren hat. Im Länderspieljahr 2024 stehen drei Siege und eine Niederlage zu Buche. Gegen Irland musste man sich in der Vorbereitung mit 1:2 geschlagen geben, was aber insgesamt keine allzu negativen Auswirkungen haben dürfte. Im Gegenteil: Das war vielleicht ein Warnschuss zur richtigen Zeit. Die anderen drei Länderspiele 2024 wurden indes allesamt zu null gewonnen, die Gegner waren die Türkei, Kosovo und Israel. 

Ungarn: Wichtige Stützen in allen Bereichen des Kaders 

Die ungarische Auswahl hat sich in den letzten Jahren individuell sukzessive verbessert. Ein gutes Grundgerüst war schon immer vorhanden, aber das Spiel basierte auch auf einem guten System, das individuelle Schwächen kaschieren konnte. Mittlerweile gibt es Stützen wie Talente in nahezu allen Bereichen des Kaders. Torhüter Péter Gulácsi von RB Leipzig ist zum Beispiel ein erfahrener Mann, der noch immer auf hohem Niveau spielen kann. Im Abwehrzentrum wäre Willi Orban als zweikampfstarker Anker zu nennen, während Marton Dardai als junger, aufstrebender Spieler vor allem im Spielaufbau seine Stärken hat. 

Besonderes Augenmerk sollte auf Milos Kerkez liegen. Der Linksfuß vom AFC Bournemouth spielt im System der Ungarn als linker Wingback und bringt das perfekte Gesamtpaket für diese Position mit. Er ist schnell, dynamisch, kann gute Flanken schlagen, aber hat ein gutes Gespür für die Arbeit gegen den Ball, füllt in der Defensive clever wieder auf. Das Mittelfeldzentrum ist laufstark, davor soll vor allem Dominik Szoboszlai für Unruhe sorgen. Er ist technisch sicher der beste Spieler im Kader, verfügt über einen herausragenden Schuss und kann durch ruhende Bälle Gefahr erzeugen. 

Szoboszlai

2024 in Dublin, Ireland. (Photo by Charles McQuillan/Getty Images)

Er ergänzt sich gut mit Roland Sallai vom SC Freiburg, der in der Offensive eine Art Freigeist ist. Er kann hängend hinter der Spitze spielen, auf einer Höhe mit Szoboszlai als eine Art Doppel-10 agieren oder sich seine Freiheiten nehmen und auf den Flügel ausweichen. Die Spielertypen im Sturm sind dann wieder eher rustikale Arbeiter, hier sticht keiner besonders hervor, auch wenn Barnabas Varga im letzten Test gleich doppelt getroffen hat. 

Marco Rossi: Mit spannendem Ansatz zum Erfolg? 

Die Grundprinzipien Ungarns bei den letzten Turnieren sind schnell auf den Punkt gebracht. Es ging um Kompaktheit, darum, den Gegner immer mal wieder mit situativem Pressing zu stressen, ihn in Räume zu locken, die ihm nicht gefielen und dann nach Ballgewinn klug umzuschalten. Dabei war Adam Szalai oft der Wandspieler, die Wingbacks rückten dynamisch nach, um bei Flanken den langen Pfosten zu besetzen, die Aufbaumuster waren nicht besonders spannend. Waren. 

Denn wie uns Taktikexperte Julius Riemann vor dem Turnier schon verriet, hat sich die Rossi-Elf zu einer sehr spannenden Mannschaft entwickelt. „Nationaltrainer Marco Rossi wählt im eigenen Ballbesitzspiel einen sehr interessanten Ansatz, in der Taktik-Bubble nennen wir ihn den Relationismus. Um das kurz auszuführen: Es gibt den positions- und raumspezifischen Ansatz, der ursprünglich von Pep Guardiola etabliert wurde. Da geht es darum, dass gewisse Zonen im Spiel besetzt werden.“

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Und weiter: „Seit etwa eineinhalb Jahren setzt sich aber auch immer mehr ein Ansatz durch, der maximal ballfokussiert ist. Um das kurz zu erläutern: Die Mehrzahl der eigenen Spieler soll sich in Ballnähe befinden und von dort aus versuchen, sich durch die gegnerischen Reihen zu kombinierend. Zumindest in Teilen wählt Rossi genau diesen Ansatz.“ Das macht es auch für die Gegner schwer, denn die Ungarn beherrschen es noch immer, gleichzeitig auch in der Defensive die physischen Elemente einzusetzen, dort den Ball notfalls auch mal wegzuschlagen.

Sind die Ungarn also DAS Team für die Fußball-Nerds bei diesem Turnier? Nicht unbedingt. Aber der Ansatz der Magyaren könnte bedeutend konservativer sein und individuelle hat die Rossi-Elf in den letzten Monaten und Jahren zugelegt. Schon 2021 spielte man gegen Frankreich, Portugal und Deutschland keine schlechte Rolle, war unangenehm als Gegner. Jetzt will man diese Basis noch mit einer gewissen Raffinesse paaren.

(Photo by Charles McQuillan/Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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