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Startschuss zur EM 2024: So kann Schottland der DFB-Elf wehtun

14. Juni 2024 | Spotlight | BY Michael Bojkov

Es ist angerichtet. Heute um 21 Uhr eröffnen Deutschland und Schottland die Europameisterschaft 2024. Dass die DFB-Elf als Favorit in ihr erstes Turnierspiel geht, steht außer Frage. Doch der Underdog aus Großbritannien hat sich erst in der jüngeren Vergangenheit als Favoritenschreck erwiesen – und bringt Attribute mit, die für Deutschland ungemütlich werden könnten.

Aus München berichtet Michael Bojkov.

Sind Nagelsmann und seine Elf startklar?

„Ich will, dass wir als Land vereint sind“ – das waren die Worte von  Julian Nagelsmann auf der abschließenden Pressekonferenz vor dem Eröffnungsspiel gegen Schottland. „Wir müssen den Heimvorteil nutzen, da brauche ich alle. Deshalb bitte sehr laut sein morgen.“ Das Plädoyer an die Fans sendete der Bundestrainer auch und vor allem aus dem Grund, weil er seine Mannschaft offensichtlich bereit sieht. Seine Spieler hätten die nötige „Lust und Gier“ und „zuletzt Mentalität bewiesen“, als sie im finalen Testspiel einen 0:1-Rückstand gegen Griechenland drehen konnten und so mit einem Erfolgserlebnis in die finalen Trainingstage starteten.



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Beim 2:1-Sieg gegen die Griechen – daraus machte auch Nagelsmann keinen Hehl – offenbarte das DFB-Team aber vor allem in der ersten Halbzeit Schwächen. Im Passspiel wie im Pressing fehlten Präzision und Schärfe, hinten stimmte die Konterabsicherung nicht. Eine Blaupause für Schottland-Coach Steve Clark? Zumindest dürfte die DFB-Elf den Schotten hinsichtlich der Spielanlage gut liegen. Die „Bravehearts“ stehen in erster Linie für eine kompakte Defensive und haben sich schon des Öfteren als Spielzerstörer einen Namen gemacht. In der Qualifikation zur Europameisterschaft schlug man mitunter Spanien mit 2:0, und das nicht unverdient.

Was Schottland in die Karten spielen könnte

Wir haben uns im Vorfeld der Partie mit BBC-Kommentator Andrew Petrie unterhalten. Auch der Schottland-Experte ist der Meinung, dass die Mannschaft ihren eigenen Vorteil aus der Spielweise der DFB-Elf ziehen kann: „Julian Nagelsmann und Deutschland werden viel Ballbesitz haben, was wiederum Schottlands Tendenz entgegenkommen wird, in einem tiefen Block zu stehen und auf Umschaltmomente zu lauern. Nagelsmann ist auch für sein hohes Pressing bekannt. Zum Glück haben die Schotten in Billy Gilmour einen Spieler im Mittelfeld, der sehr pressingresistent ist und damit ein passendes Gegenmittel hat.“

Wenngleich das Kernelement der Clarke-Elf das kompakte Verteidigen ist, darf auch ihre Offensivkraft nicht unterschätzt werden. Wird der Ball erobert, geht es häufig flach und schnell nach vorne. Im bewährten 5-4-1-System (bzw. im eigenen Ballbesitz situativ 3-4-2-1) nimmt Kapitän Andrew Robertson auf der linken Schiene eine zentrale Rolle ein. Angriffe werden häufig über ihn gefahren und wenn es nach Experte Petrie geht, könnte er gegen Deutschland noch mehr offensive Freiräume bekommen also sonst: „Jamal Musiala und Florian Wirtz haben die Vorliebe, etwas zentrumslastiger zu spielen anstatt nominell auf den Flügeln. Das könnte Robertson zusätzlich Zeit und Raum geben.“

Schottland-Trainer Steve Clarke beim Abschlusstraining in der Münchner Arena.

Schottland-Trainer Steve Clarke beim Abschlusstraining in der Münchner Arena. (Photo by Fabrice COFFRINI / AFP) (Photo by FABRICE COFFRINI/AFP via Getty Images)

Namen, Wucht – und eine für Deutschland trügerische Serie?

Dabei ist Robertson nicht der einzige Name von europäischem Format. Neben dem Kapitän sticht gerade das Premier-League-Trio aus Scott McTominay, John McGinn und Gilmour hervor – im wahrsten Sinne des Wortes: Nach Balleroberung rücken die Mittelfeldspieler der Schotten schnell auf, um Robertson und Co. eine offensive Passoption im Zentrum zu bieten. So traf Schottland in der Qualifikation häufig nach Pässen in den Rückraum. Allein der auch bei ManUnited zum Torjäger mutierte McTominay traf in acht Spielen siebenmal und war so mit Abstand erfolgreichster Torschütze der Schotten.

Denn wenn es eine ausgemachte Schwachstelle gibt, dann ist es die Stürmerposition. Hinzu kommt, dass sich Angreifer Lyndon Dykes jüngst verletzte und für das Turnier ausfallen wird. Immerhin: Abgesehen davon stehen Clarke alle Spieler zur Verfügung. Vor dem Hintergrund, dass Schottland in der jüngeren Vergangenheit stark von Verletzungen geprägt war, ist das durchaus eine Nachricht wert. Zumal aus Sicht von Experte Petrie die vielen Ausfälle der Hauptgrund waren, weshalb Schottland vor dem Testspiel-Sieg in der vergangenen Woche gegen Gibraltar (2:0) neun Monate lang kein Spiel gewinnen konnte. Der Schein trügt also vielleicht ein Stück weit – aus deutscher Sicht.

Das Selbstbewusstsein von Mannschaft und Trainer hat unter der Negativserie augenscheinlich ohnehin nicht gelitten – zumindest wenn man den Worten Clarkes Glauben schenkt, der ankündigte, „vor niemandem Angst“ zu haben. „Wir glauben an uns, warum sollten wir auch sonst antreten?“ Den gleichen Gedanken werden auch rund 200.000 weitere Schotten gehabt haben. So viele frenetische Anhänger der „Bravehearts“ werden in Deutschland erwartet. Auch sie könnten entscheidend dazu beitragen, dass ihr Team Historisches schafft. Schließlich hat noch nie eine schottische Mannschaft bei einem großen Turnier die Vorrunde überstanden.

Prognose von Schottland-Experte Andrew Petrie

Der traditionelle schottische Pessimist in mir glaubt, dass Schottland unter dem Scheinwerferlicht zusammenbrechen und Deutschland zum Sieg galoppieren wird. Schottland hat jedoch den perfekten Mann am Ruder, um diese Annahme zu widerlegen. Clarke hat mit seiner ruhigen, väterlichen Präsenz immer wieder den Druck von seinen Spielern genommen. Er lässt sich selten aus der Ruhe bringen, und diese Stabilität ist auf die Spieler übergesprungen. Die Schotten sind eher in der Lage, aus der Defensive heraus zu punkten, als einen tiefen Block zu knacken. Dieses Spiel würde dazu passen, und sie haben bereits gegen Spanien gezeigt, dass sie in Führung gehen und diese auch halten können. Allerdings blieben in letzter Zeit die Resultate aus. Ich tippe auf ein sehr nervöses 1:1.

(Photo by Ian MacNicol/Getty Images)

Michael Bojkov

Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.


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