Spanien trifft auf England: Wer krönt sich zum Europameister?

14. Juli 2024 | EM 2024 | BY Michael Bojkov

Es ist angerichtet: Am Sonntagabend um 21 Uhr steigt im Berliner Olympiastadion das EM-Finale zwischen Spanien und England. Während La Roja ein herausragendes Turnier mit dem Pokal krönen möchte, lechzt das Mutterland des Fußballs nach dem ersten Tafelsilber seit 1966 – und nach seiner allerersten EM-Trophäe. Die Vorschau.

Spanien will sich für ein starkes Turnier belohnen

Es ist positiv furchteinflößend, was Spanien bei dieser EM-Endrunde auf den Platz bringt. Im Vorfeld des Turnieres waren nicht wenige der Meinung, dass die junge Mannschaft noch Zeit brauche, um zusammenzuwachsen und gemeinsam zu reifen. Dabei ist es allen voran der Jüngste aller Jungen, der die Selección mit bestechenden Leistungen vom vierten EM-Titel träumen lässt: Lamine Yamal hat sich im Halbfinale gegen Frankreich per Traumtor als jüngster Torschütze aller Zeiten in die EM-Geschichtsbücher geschrieben und seiner Mannschaft damit den Weg in das Finale geebnet. Am Tag vor dem großen Endspiel in Berlin feierte das Juwel seinen 17. Geburtstag – was jedoch herzlich wenig an der Tatsache ändern wird, dass er seine Gegenspieler nicht nur wegen seines Alter alt aussehen lässt.



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Die Fähigkeiten des Youngsters sind aber beileibe nicht die einzigen Stärken, die Spanien auf den Platz bringt. Es wäre gegenüber den Mitspieler fast ungerecht, einen weiteren Spieler herauszupicken. Dafür sind die Iberer als Mannschaft schlichtweg zu stark, sei es Dirigent Rodri, Yamal-Flügelpartner Nico Williams, Fabián Ruiz, der in Deutschland plötzlich zur Schlüsselfigur wurde oder ein Dani Olmo, der eigentlich als Ersatzspieler vorgesehen war, dann aber für den verletzten Pedri in die Presche sprang und entscheidende Aktien an den knappen Siegen gegen Deutschland und Frankreich hatte.

„Die Begeisterung, die diese Mannschaft ausgelöst hat, gibt es nicht umsonst, sie hat sie sich verdient und hart dafür gearbeitet“, lobte Trainer Luis de la Fuente auf der Pressekonferenz vor dem Finale – und sprach dabei beileibe nicht das erste Mal während des Turniers in den höchsten Tönen von seinen Schützlingen. Und nachdem sie der Welt über fünf Spiele gezeigt hatten, dass ihnen spielerisch niemand etwas vormachen kann, bewiesen die Spanier zuletzt auch Widerstandsfähigkeit, als sie im Halbfinale gegen Frankreich einen frühen Rückstand drehten – für eine in vielen Teilen junge und unerfahrene Mannschaft nicht selbstverständlich. 

Spanien-Coach Luis de la Fuente gibt Lamine Yamal Anweisungen

Luis de la Fuente gibt Lamine Yamal Anweisungen. (Photo by JAVIER SORIANO / AFP) (Photo by JAVIER SORIANO/AFP via Getty Images)

England: Reicht das Siegergen für den ersten EM-Titel?

Rückstände drehen, das können auch die Engländer – oder besser: In dieser Disziplin kommt aktuell keine Mannschaft auch nur annähernd an sie heran. Sie sind das erste Team bei einer EM-Endrunde, das es nach Rückständen im Viertel- und Halbfinale bis ins Endspiel geschafft hat – und sogar im Achtelfinale lagen die Three Lions zurück. Beachtenswert dabei ist die Tatsache, dass die Mannschaft von Gareth Southgate nicht in Rückstand gerät, um dann zwei oder mehrere Gänge hochzuschalten und sich Ausgleich und Führungstreffer zu verdienen. Vielmehr sind es Resilienz und vor allem der enorme Glaube an sich selbst, die den Engländern zu drei K.o.-Siegen nach Rückständen verholfen haben.

Nach zwei pomadigen und insbesondere offensiv harmlosen Auftritten gegen die Slowakei und die Schweiz, die beide erst durch den Ausgleich in der Schlussphase in die Verlängerung gerettet wurden, konnte England zumindest im Halbfinale gegen die Niederlande einigermaßen überzeugen und dabei auch spielerische Akzente setzen. Doch auch gegen Oranje war es ein später Treffer, der die Three Lions am Ende jubeln ließ.

Auch wenn Siegeswillen und die individuelle Klasse, über die England praktisch wie keine andere Fußballnation verfügt, die ausschlaggebenden Faktoren für die späten Tore sind, so trägt tatsächlich auch der Trainer einen nicht ganz unwesentlichen Anteil an ihnen. So viel berechtigte Kritik Southgate für seine Personalpolitik und den konservativen Spielstil ernten muss, beherrscht er das Ingame-Coaching nämlich so gut wie kaum ein anderer Übungsleiter bei diesem Turnier und beweist bei seinen Wechseln regelmäßig ein gutes Händchen. Das lässt sich beim knappen Sieg gegen die Niederlande sogar schwarz auf weiß im Spielprotokoll nachlesen: Für den späten Lucky Punch zum 2:1 sorgten mit Vorlagengeber Cole Palmer und Torschütze Ollie Watkins nämlich zwei Joker. Southgate hat den Sieg und damit den Finaleinzug also gewissermaßen eingewechselt.

Liegt La Roja den Engländern besser?

Wer hat nun also die Nase vorn? Die Favoritenrolle könnte man zumindest mal in Richtung der iberischen Halbinsel schieben. Zu überzeugend waren die Auftritte von La Roja, um es nicht zu tun. Die Engländer haben die pure individuelle Klasse gepaart mit einem eisernen Siegeswillen entgegenzusetzen – und befinden sich, zumindest mit Blick auf das Niederlande-Spiel, leistungstechnisch auf dem aufsteigenden Ast.

Berlin ist gebucht: England-Coach Gareth Southgate feiert mit seiner Mannschaft den späten Sieg gegen die Niederlande

Berlin ist gebucht: Gareth Southgate feiert mit seiner Mannschaft den späten Halbfinalsieg gegen die Niederlande. (Photo by Stu Forster/Getty Images)

Aufgrund von Southgates sehr risikoscheuem Spielstil könnte man die Theorie aufstellen, dass spielstarke Mannschaften wie Spanien dem Fußball der Three Lions besser entgegenkämen als kleinere Nationen, deren Fokus klar auf der defensiven Stabilität liegt. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht, denn auch der englische Nationaltrainer ist jemand, der die Kontrolle über das Spiel haben will. „Wir müssen (Spanien) ja zuerst den Ball abnehmen“, entgegnete Southgate auf Nachfrage von 90PLUS. Es sei nicht so wie in den letzten Spielen, „dass wir den Ball haben und den Gegner laufen lassen“, zumal Spanien sehr gut presse. Interessant: Im gleichen Atemzug merkte der 53-Jährige an, dass seine Mannschaft vor dem Finale einen Tag weniger Pause als der Gegner hat und sich die dahingehend benachteiligten Mannschaften in den letzten Turnieren stets schwergetan haben. Und ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt: Tatsächlich gewann seit der EM 2012, Spaniens letztem Triumph, immer die Mannschaft, die vor dem Finale einen Ruhetag mehr hatte. 

Kane und England kämpfen gegen den Titel-Fluch an

Ob sich diese Statistik hält – und damit auch die unrühmliche Titellos-Serie von Harry Kane? Auch ein Jahr nach seinem Wechsel von Tottenham zum FC Bayern wartet der Superstar der Engländer noch immer auf sein erstes Tafelsilber im Profifußball. In seinem zweiten EM-Finale in Folge – 2021 gewann Italien im Elfmeterschießen – haben England und sein Kapitän also erneut die große Chance, gemeinsam Historisches zu schaffen. Denn auch das Mutterland des Fußballs hat noch keinen EM-Pokal in der Vitrine stehen – und der letzte und einzige Weltmeister-Titel liegt 58 Jahre zurück. It’s coming home – wenn nicht jetzt, wann dann? Und es würde das Turnier perfekt abrunden, wenn auch der entscheidende Treffer in Berlin ein denkbar später wäre …

Text von Michael Bojkov

(Photo by FABRICE COFFRINIKIRILL KUDRYAVTSEV/AFP via Getty Images)

Michael Bojkov

Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.


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