Interview mit Sportpsychologe Moritz Hirmke: „Es verändert sich häufig etwas, wenn Nachwuchsspieler ihr erstes Geld mit dem Sport verdienen“

27. Januar 2023 | Global News | BY Marc Schwitzky

Moritz Hirmke ist Psychologe (M. Sc.) und seit neun Jahren in verschiedenen Organisationen im Bereich der Sportpsychologie tätig. Von 2019 bis 2022 begleitete er Spieler, Trainer und Mitarbeiter an der erfolgreichen Nachwuchsakademie des 1. FSV Mainz 05 e.V.. 90PLUS hat sich mit ihm für ein Gespräch zu seiner Perspektive auf die Kultur im Nachwuchsleistungsfußball getroffen.

Hinweis: Da wir uns im Interview auf die konkreten Erfahrungen an der Akademie von Mainz 05 beziehen, die bis zum Zeitpunkt des Interviews ausschließlich im männlichen Bereich aktiv war, wurde auf eine gendergerechte Sprache verzichtet. Viele der genannten Punkte können sicherlich auch auf den weiblichen Leistungssport zutreffen.

Teil 1: Die Hürden des Übergangs vom Nachwuchs in den Profibereich und wie Spieler Bock auf ihre Probleme bekommen.

Im ersten Teil setzen wir uns mit folgenden Fragen auseinander:

  • Wie kann man mit „schwierigen“ Talenten umgehen?
  • Wie schafft es ein Verein seinen Werten treu zu bleiben?
  • Wie kann man Talente umfassend auf den Profialltag vorbereiten?
  • Was kann Geld mit Nachwuchsspielern machen?
  • Was hat die Beantwortung existentieller Fragen mit der Leistung auf dem Fußballplatz zu tun?

90PLUS: Hallo Moritz, schön, dass du dir die Zeit genommen hast. Lass uns doch direkt einsteigen: Immer wieder hört man im Nachwuchsfußball von Ausnahmekönnern, die augenscheinlich an ihren charakterlichen und mentalen Eigenschaften scheitern. Wie konsequent sind deiner Meinung nach Vereine bei solchen Spielern, die einerseits eine hohe fußballerische Qualität mitbringen, andererseits jedoch mit ihrem Verhalten Leitbild und Werte torpedieren, die sich die Vereine gerne auf die Fahne schreiben? Steht in diesen Fällen die Betriebswirtschaftlichkeit vor dem eigenen Leitbild, nach dem Motto: Wir dürfen dieses Talent auf keinen Fall verlieren, damit wir mit ihm finanzielle Gewinne erzielen?

M: Zunächst einmal möchte ich herausstellen, dass meine Erfahrungswerte vor allem den Nachwuchsbereich betreffen. Ich vertrete die Annahme: Menschen können und wollen sich im Bereich ihrer Persönlichkeit und psychischer Charakteristiken weiterentwickeln. Jedem Menschen wohnt ein positives Streben nach Selbstverwirklichung inne. Dieses kann seine Antriebskraft nur entfalten, solange sein Umfeld dies zulässt, denn äußere und innere Faktoren können diese Tendenzen beeinflussen. Das könnte folgendermaßen aussehen: vielleicht hat ein Sportler, aufgrund gewisser Vorerfahrungen, Angst schlecht zu spielen und so Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen, wie dem Trainer, zu schaden. Dadurch kommt der Sportler vom Weg in Richtung der eigenen Werte, Wünsche und Ziele ab – er ist nicht mehr „bei sich“.

Als Überlebensstrategie in diesem von Konkurrenzkampf geprägten System und um sich die Zuwendung des Trainers zu sichern, fängt der Sportler dann beispielsweise an, seine inhärenten sozialen Werte zu vernachlässigen. Statt eines teamdienlichen Auftretens versucht er Mitspieler schlecht aussehen zu lassen, um für den Moment selbst besser dazustehen. Sein positives Streben nach Selbstverwirklichung ist dann quasi verschüttet unter der Funktionsweise des Systems, in welchem essentielle Grundbedürfnisse nach vertrauensvollen Beziehungen und Zugehörigkeit an Leistung gekoppelt sind. Das Streben nach Selbstverwirklichung ist jedoch nicht verloren. Die entscheidenden Fragen sind für mich: Wie kriegen wir die verschüttete Selbstverwirklichungstendenz wieder freigeschaufelt? Wie muss ein System im Leistungssport beschaffen sein, damit wichtige Grundbedürfnisse zum Beispiel nach sozialer Eingebundenheit unabhängig von Leistung erfüllt werden können? Damit der Spieler die psychologische Sicherheit verspürt, sich so zeigen zu dürfen, wie er ist, sich traut bei sich zu sein?

Meine Erfahrung hat gezeigt, dass solch eine Entwicklung stattfinden kann, wenn das Umfeld entsprechend weiterentwickelt wird. Das braucht jedoch häufig Zeit und Geduld. Ich glaube also: Jeder Mensch hat eine Chance verdient, unabhängig von möglichen finanziellen Gewinnen!

„Jedem Menschen wohnt ein positives Streben nach Selbstverwirklichung inne. Dieses kann seine Antriebskraft nur entfalten, solange sein Umfeld dies zulässt.“

Die angesprochene betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise hat eine entscheidende Schwachstelle: Denn selbst bis kurz vor dem Übergang in den Profi-Bereich ist die Erfolgswahrscheinlichkeit relativ gering, dass der Spieler dort dauerhaft bestehen wird. Nur jeder Zehnte U17-Bundesliga-Spieler wird Profi in der 1. bis 4. Liga. Selbst bei U17-Nationalspielern schafft es nur jeder Vierte in die 1. Bundesliga. Der schwierigste Übergang ist tatsächlich vom Jugend- in den Profibereich Diesen Sprung schaffen viele nicht, die eigentlich schon mit einem Bein in der Profi-Tür stehen. Deswegen ist selbst bei sogenannten Top-Talenten kaum eine valide Prognose im betriebswirtschaftlichen Sinne möglich. Dafür ist die Herausforderung, sich im Profi-Bereich zu etablieren, zu groß und viele Spieler sind meiner Meinung nach nicht gut darauf vorbereitet bzw.  werden in diesem Prozess nicht effektiv genug begleitet.

Im Profibereich wird immer mehr darauf geachtet: Was ist der Spieler eigentlich für ein Typ? Was bringt er für eine Energie mit ins Kollektiv? Wirbelt er alles durcheinander oder tut er der Mannschaft gut? Hilft er den andern, damit sie ihre Leistung bringen können? Neben Talentfaktoren im engeren Sinne, wie technische und athletische Voraussetzungen, muss der Athlet zunehmend auch diese – für mich erlernbaren – Kompetenzen mitbringen, um die Herausforderungen des Übergangs zu meistern. Häufig werden diese Kompetenzen nicht ausreichend in Talentdefinitionen und Ausbildungspläne der Clubs einbezogen.

(Photo by Martin Rose/Getty Images)

„Um langfristig erfolgreich zu sein, müssen die eigenen Werte nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Handeln priorisiert werden, auch wenn dieser Weg auf unbequeme Pfade führen sollte.“

90PLUS:  Das Bild, welches du vermittelst scheint sehr humanistisch-psychologisch geprägt: Grundbedürfnisse, Streben nach Selbstverwirklichung, etc. Wie verträgt sich dieses Bild mit der kalten kommerzialisierten Welt des Fußballs, in der es am Ende doch um die Millionen geht? Wie schafft man es im Verein eine Kultur zu etablieren, die diese humanistischen Werte vermittelt, aber auch realistisch bleibt?

Zunächst einmal wollen wir, dass der Spieler Profi wird und der Spieler will Profi werden. Da haben Verein und Spieler dieselben Interessen. Wird diese gemeinsame Zielsetzung erreicht, entsteht eine Win-Win Situation. So einfach ist es aber meistens leider nicht. Ich glaube, dass es deshalb wichtig ist, dass auch der Verein „bei sich“ bleibt; also bei seinen Werten, Prinzipien und Visionen. Dass er diese transparent kommuniziert und diesen vor allem auch in schwierigen Situationen treu bleibt. Das heißt beispielsweise einen neuen Spieler nicht gleich wieder loswerden zu wollen, wenn er zunächst nicht die erhofften Leistungen bringt, sondern ihm eine reale Chance zu ermöglichen. Um zu verhindern, dass man als Verein in solchen Situationen zugunsten kurzfristiger Interessen an seinen eigenen Werten vorbei handelt, müssen sich die handelnden Akteure im Verein über die eigenen Werte sehr bewusst sein und diese mit. Sie müssen sich selbst permanent ehrlich reflektieren und dabei das eigene Verhalten und Werte vergleichend übereinanderlegen.

Um langfristig erfolgreich zu sein, müssen die eigenen Werte nicht nur auf dem Papier, sondern auch im Handeln priorisiert werden, auch wenn dieser Weg auf unbequeme Pfade führen sollte. Denn auch Vereinsmitarbeiter, Spieler und Eltern, erkennen etwaige Differenzen zwischen den „versprochenen“ Werten und dem realen Handeln und ziehen daraus ihre Schlüsse. Das verhindert das so wichtige vertrauensvolle Miteinander. Das ist eine überaus schwierige Aufgabe. Auf der anderen Seite wird aber auch vom Spieler viel verlangt. Dass er rund um die Uhr an sich arbeitet, das eigene Ziel in den Vordergrund stellt, und gleichzeitig mannschaftsdienlich, dem Verein gegenüber loyal handelt, immer pünktlich und diszipliniert ist. Ebenso hohe Ansprüche sollte der Verein auch an sich haben und vorleben. Entscheidend ist für mich aber die (Fehler-)Kultur, wie der Verein damit umgeht, wenn es ihm selbst nicht gelingt, die eigenen Werte zu 100 Prozent in die Tat umzusetzen. Als Verein kannst du das nicht immer perfekt umsetzen. Du wirst früher oder später an diesem Versuch scheitern. Genauso, wie kein Mensch oder Spieler perfekt ist. Spieler haben dann jedoch den Verein als Vorbild dafür, wie man mit diesen Momenten des Scheiterns umgehen kann.

„In diesem Moment trotzdem bereit zu sein, seine Leistung abzurufen und aus diesen fünf Minuten dann die besten fünf Minuten zu machen, die du spielen kannst, damit daraus irgendwann vielleicht 10, 20 Minuten werden: das sind die Herausforderungen, die auf dich.“

Bereitet ihr die Spieler darauf vor, dass es auf ihrem Weg auch Menschen geben kann, die versuchen werden von ihrem Talent zu profitieren oder sie sogar ausnutzen?

Ich finde es sehr wichtig Spieler auf Dinge vorzubereiten, die vermeintlich nur indirekt etwas mit der Leistung auf dem Fußballplatz zu tun haben und deshalb bezieht Mainz 05 diese Themen in sein Ausbildungskonzept mit ein. Hilfreich aus meiner Sicht ist beispielsweise, den Jungs eine Klarheit darüber zu vermitteln, wie der Alltag eines Profispielers tatsächlich aussieht. Ihr Bild vom Profialltag basiert oft nur auf den Highlights, die sie in den Medien gezeigt bekommen oder den Inhalten ihrer Instagram-Feeds. Ganz andere Eindrücke können die Spieler dann sammeln, wenn ein Profi vor ihnen steht und offen darüber erzählt, was wirklich in ihm vorgegangen ist auf seinem Weg zum Profi bzw. als Profi selbst, welche Herausforderungen er meistern musste und wie er mit Rückschlägen umgegangen ist.

Solche Begegnungen öffnen vielen Spielern noch einmal die Augen und zeigen, wie wichtig es für sie ist, sich schon in den letzten Zügen ihrer Jugendlaufbahn auf diese Gegebenheiten des Profi-Daseins vorzubereiten: Skills zu erlernen, die ein Profi-Spieler in diesen Situationen braucht. Für viele Profis ist ein stabiler sozialer Rückhalt eine essentielle Ressource. Also ist es nützlich zu erfahren, wie ich einen gewissen Kreis an Leuten um mich aufbauen kann, von denen ich weiß, dass ich immer auf sie zurückgreifen und ihnen vertrauen kann? Bei denen ich mich sicher fühlen, mich zurückziehen kann und ein Gefühl der Geborgenheit erlebe, wenn mir das in anderen Bereichen vielleicht verwehrt bleibt. Es ist wichtig klarzumachen, dass diejenigen, die im Profibereich ankommen meist weniger mit der Leistung selbst zu kämpfen haben, sondern damit, in diesem Umfeld anzukommen und die äußeren Widerstände zu meistern. Zum Beispiel damit, dass da ein Trainer ist, der permanentem Erfolgsdruck ausgesetzt ist und dann weniger Rücksicht auf einen jungen Spieler nehmen kann oder will. Dass da andere Spieler sind, die wortwörtlich „um ihr Leben“, ihren Unterhalt spielen und mit allen Mitteln ihren Kaderplatz verteidigen wollen. Ich möchte keine Angst verbreiten, aber man sollte realistisch darstellen, dass gewisse Widerstände existieren und die Spieler eine Fähigkeit erlernen können, mit der sie diesen Widerständen gut entgegentreten und auch daran wachsen können, die sogenannte Resilienz.

Denn gleich eine der ersten Aufgaben als Jungprofi ist mit am herausforderndsten: Du bist als vorheriges Toptalent in der für dich ungewohnten Situation zu Beginn viel auf der Bank zu sitzen, kommst dann irgendwann nach 85 Minuten rein und sollst auf den Punkt auf diesem Niveau Leistung bringen. Auch viele der besten Spieler der Welt haben erstmal 25 Siele warten müssen, bis sie überhaupt im Profi-Kader waren, um dann nach 35 Spielen das erste Mal am Ende des Spiels eingewechselt zu werden. Das entspricht natürlich nicht den Erwartungen und Wünschen, mit denen ein Spieler in diese Situation kommt. In diesem Moment trotzdem bereit zu sein, seine Leistung abzurufen und aus diesen fünf Minuten dann die besten fünf Minuten zu machen, die du spielen kannst, damit daraus irgendwann vielleicht 10, 20 Minuten werden: das sind die Herausforderungen, die auf dich warten. Und diese zukünftigen Challenges haben wir versucht vorab in der Akademie abzubilden. Zum Beispiel saßen die Jungs auch bei uns manchmal drei, vier, fünf Spiele auf der Bank. Wir wollten mit ihm dann die Entwicklungsschritte gehen, nicht sofort in dieser Situation zu resignieren, sondern diese Dinge als nützliche Generalprobe für das zu verstehen, was sowieso auf ihn wartet.

Einen Profispieler macht im Endeffekt die Konstanz aus, das volle Leistungspotenzial, welches in ihm steckt, abrufen zu können, egal was um ihn herum passiert. Diese Konstanz ist ein eigener Skill, den wir versucht haben zu entwickeln und das geht eben nur in der Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen. Statt die Einstellung an den Tag zu legen, auf den ersten Blick unnötige Probleme einfach nur weg haben zu wollen, kann es für den Spieler beispielsweise in Konflikten mit dem Trainer hilfreich sein, diese Situation als hilfreiche Herausforderung für sich umzudeuten. Einen solchen Widerstand im großen Zusammenhang einer Vorbereitung auf den Profialltag zu bewerten, gibt dem Spieler die Möglichkeit, diese als Lerngelegenheit zu betrachten und eröffnet ihm Handlungsspielräume. Dann hast du als Spieler fast schon „Bock auf dein Problem“ und sagst: „Geil. Darauf habe ich gewartet und diese Situation brauche ich, um auf meinem Weg erfolgreich sein zu können.“ Das ist natürlich nicht einfach, aber ich habe schon oft erlebt, dass junge Sportler das hinbekommen und davon profitieren.

nachwuchsspieler

(Photo by Karina Hessland-Wissel/ Getty Images)

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„Es verändert sich häufig etwas, wenn Nachwuchsspieler ihr erstes Geld mit dem Sport verdienen.“

Wir wissen aus der Forschung, dass materielle Belohnungen intrinsische Motivation untergraben und dafür sorgen, dass sie abnimmt. Im Profifußball sind diese Belohnungen extrem, denn wir sprechen hier ja von mehreren Hunderttausenden bis Millionen Euro, die der Sportler für sein Tun erhält.

Natürlich ist auch das wieder nicht bei jedem gleich. Dennoch erlebe ich häufig bei Nachwuchsspielern, dass sich etwas verändert, wenn sie ihr erstes Geld mit dem Sport verdienen. Auf einmal bekommst du Geld mit Vertrag und Rechnung für das, was du ursprünglich aus reiner Freude getan hast. Es entsteht die Gefahr, dass sich die Ursachenzuschreibung für das eigene Handeln, die sogenannte Attribution ändert: Die ganzen Anstrengungen nehme ich nicht mehr für mich und meinen Spaß auf mich, sondern für einen anderen, um als Gegenleistung Geld zu erhalten. Man wird zum Dienstleister, der für seinen Aufwand entschädigt wird. Sowas ändert natürlich viel. Zum Beispiel die Beziehung, in der man zueinandersteht. Der Spieler macht das für den Anderen, in diesem Fall seinen Club, welcher damit primär eigene geschäftliche Interessen verfolgt. Der Spieler wird Mittel zum Zweck und soll die Erwartungshaltungen des Clubs erfüllen.

Club und Spieler stehen dann in einer Geschäftsbeziehung zueinander. Die Beziehungsgrundlage ist nicht mehr der Wunsch als Menschen etwas gemeinsam erleben zu wollen, oder die gleichen Werte und Interessen zu teilen. Die Interessen des Clubs treten in den Vordergrund und die Augenhöhe zwischen Spieler und Club kann verloren gehen. Der Spieler könnte eine Bringschuld auf sich spüren und dadurch den Club weniger als Begleiter in seinem Entwicklungsprozess wahrnehmen. Schon häufiger habe ich erlebt, dass Spieler dadurch etwas den Spaß an ihrem Tun und am Lernprozess verloren haben. Gerade die zielführende Verarbeitung aversiver Erfahrungen, die jeder Lernprozess mit sich bringt, fällt vielen dann schwerer, weil sie weniger persönlichen Sinn in diesen finden. Spieler erleben in solchen Situationen dann mehr Frustration, als wenn sie im Laufe intrinsisch motivierten Handelns solchen Widerständen begegnen.

Die Zunahme extrinsischer Anreize ist also häufig eine Herausforderung, bei der Spieler für sich einen Weg finden müssen das mit ihren intrinsischen Motiven in Einklang zu bringen. Häufig hilft dann sich klarzumachen: „Warum bin ich hier? Was ist mir tatsächlich wichtig im Leben? Womit und wie möchte ich die Zeit verbringen, die mir auf diesem Planeten geschenkt wurde? Wo möchte ich am Ende landen und wie passt das zu diesem Weg hier im Fußball und allem, was dieser so mit sich bringt?“

„Was möchte ich, was sind meine tatsächlichen Ziele unabhängig von Anderen; und was sind Narrative von außen darüber, welche Ziele ich mir in meinem Leben zu setzen habe, was ich wollen soll?“

Das Spielerbild, das Sie vermitteln, scheint sehr individuumszentriert, ganzheitlich und sieht den Spieler zuallererst als Mensch. Ist das nicht radikal anders als das, was die Fans in der Saison mitbekommen? Wo es primär um Leistung geht und Spieler im wahrsten Sinne des Wortes „verkauft“ werden. Gibt es ein Konfliktpotential zwischen Wahrnehmung der Fans und subjektiver Wahrnehmung des Spielers?

Da gibt es eine absolute Ambivalenz. Der ganze Fußball ist von ambivalenten Beziehungen geprägt. Aus Sicht des Spielers nicht nur den Fans, sondern auch dem Trainer gegenüber. Der Trainer soll auf der einen Seite eigentlich Unterstützer und Begleiter jedes Spielers sein, auf der anderen Seite ist er aber auch derjenige, der den Spieler nach Leistungen bewertet und am Ende bestimmt, ob dieser am Wochenende spielt oder nicht. Ähnlich ist es bei Mitspielern. Einerseits hat man vielleicht Sympathien füreinander, ist miteinander befreundet. Aber auf der anderen Seite ist er eben auch der Konkurrent um Spielzeit oder Aufmerksamkeit, „schlimmstenfalls“ auf derselben Position. Und wenn der Mitspieler im Training gut performed, lässt er einen möglicherweise damit schlecht aussehen. Wir haben in all diesen Beziehungen diese Ambivalenzen und diese nicht aufzulösen kann eine Menge Unsicherheit für Spieler mitbringen. Deswegen ist es mir als Psychologe in meiner Funktion auch so wichtig, dass ich eine klare Rolle und Beziehung zum Spieler einnehmen kann. Dass er bei mir deutlich erkennt, was meine Aufgabe und Haltung sind. Ich glaube, dass in der Akademie Transparenz für PsychologInnen sogar noch einmal wichtiger ist als in anderen, weniger unischeren, Settings.

Und im Rahmen der vielen ambivalenten Beziehungen untereinander ist es für Sportler oft wichtig, sich klarzumachen, inwieweit ihm die Meinung der anderen überhaupt wichtig ist. Zum Beispiel im Rahmen eines respektvollen Miteinanders. Hier ist mir wichtig, dass meine Bedürfnisse gewahrt werden – genauso wie ich versuche die Bedürfnisse anderer zu wahren. Insofern achte ich hier schon darauf, was mein Verhalten mit anderen macht. Auf der anderen Seite ist oft auch eine zentrale Fähigkeit, sich von der Meinung anderer abzugrenzen, z.B. wenn jemand meint mir erzählen zu müssen, wie ich zu sein hätte und was meine Ziele im Leben sein sollten. Auch da geht es viel darum sich eigene Werte zu verdeutlichen und zu reflektieren, was ich möchte, was meine tatsächlichen Ziele unabhängig von anderen sind; und was sind Narrative von außen darüber, welche Ziele ich mir in meinem Leben zu setzen habe; was ich wollen soll? Den Spielern wird von außen suggeriert, dass es doch nichts erstrebenswerteres gäbe, als Profi zu werden und damit viel Geld zu verdienen. „Das musst du doch wollen, das will doch jeder!“. Ich glaube aber, dass es für den Sportler wichtig ist zu prüfen, ob die Dinge, die im Profifußball auf ihn zukommen tatsächlich Dinge sind, die er selbst erfüllend findet: Hat er eigentlich Lust darauf auf und abseits des Spielfelds von tausenden Zuschauern und Kritikern beobachtet zu werden? Will er tatsächlich sein Hobby zum Beruf machen, was dann wahrscheinlich mehr Beruf als Hobby ist? Inwieweit lässt sich diese Reise zum und im Profifußball mit seinen Werten vereinbaren?“

Neben den Beziehungen untereinander kann für Sportler eine weitere Beziehung eine wichtige Ressource sein, die oft vernachlässigt wird: Die Beziehung zu sich selbst. „Was denke ich eigentlich über mich und wie gehe ich mit mir um?“, sind Fragen, welchen ich gerne mit Sportlern nachgehe. Denn viele Sportler sind oft selbst ihr erbarmungslosester Kritiker. Das kann sich in verschiedenen Arten äußeren. Zum Beispiel neigen viele dazu, nach einem vermeintlichen Moment des Scheiterns hart mit sich ins Gericht zu gehen, lassen jedoch ihre oft zahlreichen und bemerkenswerten Fortschritte gerne links liegen. Andere schützen sich vor einer Konfrontation mit dem „inneren Kritiker“, indem sie ein vermeintliches Scheitern ausschließlich auf äußere Umstände wie Schiedsrichter, Mitspieler und Platzverhältnisse zurückführen. Beide Verhaltensweisen können aus der Art der Beziehung zu sich selbst rühren.

Das Interview führten Niklas Döbler und Marc Schwitzky

In einer Woche könnt ihr den zweiten Teil des Interviews mit dem Psychologen Moritz Hirmke bei 90PLUS lesen.

Dort beschäftigen wir uns u.a. mit folgenden Fragen:

  • Warum kann es hilfreich sein, wenn der Fußball nicht Plan A, sondern Plan B ist?
  • Wieso sollte in Nachwuchsleistungszentren (NLZs) mehr Gelassenheit als Willen geschult werden?
  • Wieso sind Lücken in Talententwicklungskonzepten empfehlenswert?
  • Wie kann der Leistungssport zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen?
  • Warum kann die psychologische Arbeit mit Trainern oftmals sogar effektiver sein als mit Spielern?
  • Warum ist es wichtig, dass die Psychologie im Fußball nicht den Psychologen gehört?

(Photo by Martin Rose/Getty Images)

Marc Schwitzky

Erst entfachte Marcelinho die Liebe zum Spiel, dann lieferte Jürgen Klopp die taktische Offenbarung nach. Freund des intensiven schnellen Spiels und der Talentförderung. Bundesliga-Experte und Wortspielakrobat. Seit 2020 im 90PLUS-Team.


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