Ilkay Gündogan: Höhepunkt einer langen Reise

16. November 2023 | News | BY Jannek Ringen

Ilkay Gündogan erwarten emotionale Tage. Der Kapitän der Nationalmannschaft spielt erstmals gegen die Türkei, das Land seiner Eltern und Großeltern.

Gündogan trifft auf die Heimat seiner Vorfahren

Ilkay Gündogan (33) weiß, dass er das alte Reizthema besser nicht mehr aufwärmt. Warum auch? Fünf Jahre nach dem Foto-Eklat an der Seite des Autokraten Recep Tayyip Erdogan hat der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft eine ganz erstaunliche Entwicklung genommen – sein erstes Spiel gegen die Türkei, das Heimatland seiner Eltern und Großeltern, ist ein emotionaler Höhepunkt einer langen Reise.

„Es wird ein sehr besonderes Spiel für mich – gar keine Frage“, sagte Gündogan dem SID vor dem Länderspiel am Samstag (20.45 Uhr/RTL) in Berlin. „Meine Großeltern, Eltern und weitere Verwandte leben nach wie vor in der Türkei in Izmir, und ich habe natürlich auch viele Freunde dort.“

Spielt die türkische Nationalmannschaft, klebt der Mann mit dem genialen strategischen Blick vor dem Fernseher oder schaut „zumindest die Zusammenfassung“. Ohnehin versucht er, „jedes Jahr mindestens einmal in die Türkei zu reisen. Istanbul ist eine meiner absoluten Lieblingsstädte auf der Welt, und ich liebe das türkische Essen.“

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Dennoch wird niemand mehr Ilkay Gündogans Integrität und Hingabe für die Nationalmannschaft ernsthaft infrage stellen. Alles für den deutschen Fußball zu geben, die Farben zu vertreten, dabei aber seine Wurzeln glaubhaft zu ehren, ohne sich anzubiedern oder vorführen zu lassen, gelingt ihm inzwischen vortrefflich.

Dabei hilft die Konzentration auf den Fußball, der für den Mittelfeldspieler vom FC Barcelona schon immer eine Befreiung war. Als Kind musste er für seinen Vater Bierkisten zum Lastwagen schleppen, er wurde regelrecht gezwungen, wie er einst in einem bemerkenswerten FAZ-Interview erzählte. Bis sich herausstellte, dass dieser Junge mit der besonderen Gabe im rechten Fuß weitaus besser auf den staubigen Aschenplätzen aufgehoben ist. Sein Großvater Ismail war einst als Bergmann ins Ruhrgebiet gekommen.

Ilkay Gündogan schuftete am Donnerstag beim Training, er hatte viel Spaß mit Niklas Süle, die beiden lachten und nahmen sich in den Arm. Von Anspannung war keine Spur, auch wenn nicht sicher ist, wie Zehntausende türkische Fans im Olympiastadion auf Gündogan reagieren werden. „Ich freue mich total darauf! Ich hoffe auf ein großartiges Fußballfest“, sagte der 33-Jährige.

Wer einschätzen will, welchen Weg Gündogan seit der verhängnisvollen Trikot-Übergabe an Erdogan im Londoner Hotel Four Seasons eingeschlagen hat, dem bietet sich ein Vergleich mit Mesut Özil an. Der hat nach der WM in Russland mit harten Rassismusvorwürfen die Verbindung zum Deutschen Fußball-Bund (DFB) per Axthieb gekappt. Ilkay Gündogan erklärte sich, ertrug Pfiffe und Beleidigungen standhaft, ist aus der Nationalmannschaft nicht mehr wegzudenken.

Beide sind in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen. „Jetzt so dargestellt zu werden, als seien wir nicht integriert oder würden nicht nach deutschen Werten leben, war für mich ein tiefer Schlag“, sagte Gündogan damals. Das Foto hatte eine Debatte um vermeintlich fehlende klare Bekenntnisse zu Deutschland nach sich gezogen, die Diskussion führte weit über den Sport hinaus.

Auch Ilkay Gündogan denkt längst nicht mehr nur an den Fußball, wie er es als kleiner Junge getan hat. Er hilft in der Türkei, nach einem Erdbeben schickte er mit seiner Ehefrau Sara LKW voller Hilfsgüter in die betroffene Region.

In diesem Jahr wurde er zudem Vater: „Das war immer ein Lebenstraum von mir“, sagte er. Wenn der kleine Kais lächelt, „vergisst man alles um einen herum. All die Probleme oder den Stress.“ Auch dies: Teil einer erstaunlichen Entwicklung.

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(Photo by Alex Grimm/Getty Images)

Jannek Ringen

Sozialisiert durch die Raute von Thomas Schaaf, gebrochen durch den Abstieg unter Florian Kohfeldt. Fußball in Deutschland ist sein Fachgebiet, aber immer mit einem Blick in England und Italien.


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