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Torwart, Mittelstürmer, Spielmacher: Die Karriere des Harry Kane

14. August 2023 | Trending | BY David Schöngarth

News | Mit Harry Kane erhält der FC Bayern nicht nur einen der besten Mittelstürmer der Welt, sondern auch einen versierten Spielmacher. Ursprünglich stand der Engländer sogar mal zwischen den Pfosten. Ein Überblick über die Karriere des Münchener Rekordneuzugangs und worauf sich Bayern-Fans freuen können.

Harry Kane: Als Jugendspieler vor die Tür gesetzt

Mit einer Ablösesumme im dreistelligen Millionenbereich machte der FC Bayern Harry Kane (30) zum teuersten Transfer der Vereins- und Bundesligageschichte. Und das trotz der kurzen restlichen Vertragslaufzeit zurecht, wie viele Fans und Experten sagen, denn Kane zählt unumstritten zu den besten Mittelstürmern der Welt. Wenige Spieler im Weltfußball verfügen über einen so starken Abschluss und Torriecher wie Kane, der darüber hinaus auch noch ein exzellenter Elfmeterschütze ist. Doch der englische Nationalmannschaftskapitän wird dem Spiel der Münchener auf einer weiteren Ebene gut tun. Denn Kane ist dafür bekannt, sich gerne ins Mittelfeld fallen zu lassen, sich die Bälle selbst abzuholen und seinen Mitspielern millimetergenau auf den Fuß zu servieren. Von dieser kreativen Ader Kanes, die sich bei Tottenham in der Abwesenheit einer echten Nummer Zehn in der Not gedrungen entwickelte, kann das Offensivspiel des FC Bayern nur profitieren und es erhöht die taktische Flexibilität von Trainer Thomas Tuchel, der mit Harry Kane einen Spieler auf dem Feld stehen hat, der im Grunde genommen gleich zwei Positionen ausfüllen kann. Doch Kanes Weg zur Weltspitze war lang und steinig und nahm seinen Anfang ausgerechnet bei dem größten Rivalen von Kanes Ex-Klub Tottenham: Dem FC Arsenal.



Ehe Kane nämlich zu dem Weltklasse-Fußaller reifen sollte, der er heute ist, durchlief der Engländer zahlreiche Stationen in Fußballakademien und Talentschmieden. Im Alter von acht Jahren kam Kane ins Nachwuchsprogramm der Gunners, wo er zunächst als Feldspieler spielte. Weil er „nicht athletisch genug“ und auch nicht sonderlich groß war, wollte Arsenal den jungen Kane nach einem Jahr wieder vor die Tür setzen. Vater Patrick, der Medienberichten zufolge auch in die Verhandlungen mit den Bayern involviert war, bat damals aber um eine zweite Chance für Harry als Torhüter, wie sich der ehemalige Jugend-Torwarttrainer von Arsenal erinnerte. Kurze Zeit später musste Kane die Fußballschule der Gunners allerdings endgültig verlassen, nachdem man ihn auch als Torhüter für nicht ausreichend befunden hatte. Jahre später sollte Kane nach einer roten Karte von Tottenham-Torwart Hugo Lloris noch einmal – wenig erfolgreich – das Tor hüten. Über den Umweg Watford gelang Kane dann schließlich zu Tottenham. Ein Großteil seiner Familie mütterlicherseits sind ohnehin Spurs-Fans, wie Kane in seiner 2017 erschienenen Biografie verriet. Der 30-Jährige wuchs im Londoner Stadtteil Chingford nahe der White Hart Lane auf. Bei den Spurs sollte Kane zunächst als Mittelfeldspieler eingesetzt werden, ehe er nach einem Wachstumsschub in den Sturm vorrückte. Als großes Idol in diesen jungen Jahre bezeichnete Kane seinen Landsmann Teddy Sheringham, der vor allem für seine Zeit bei Millwall, Tottenham und Manchester United bekannt ist. Auch vom Brasilianer Ronaldo schaute sich Kane zu Beginn seiner Karriere Videos an, wie er 2018 gegenüber Sky Sports erzählte.

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Nur ein „One season wonder“?

Bis zum Durchbruch bei Tottenham sollten für Kane, der offen mit den vielen Rückschlägen in seiner Kindheit umgeht und mit der Harry Kane Foundation eine Stiftung für mentale Gesundheit ins Leben gerufen hat, allerdings noch einige Jahre vergehen. Der nun endgültig zum Mittelstürmer gereifte Kane kam nämlich zunächst nur in den Nachwuchsteams von Tottenham zum Einsatz, spielte in der U21 und U23 und wurde zwischen 2011 und 2013 vier Mal verliehen. Unter anderem zu Leyton Orient – mit dem Klub aus dem Osten Londons pflegt Kane bis heute eine enge Verbindung und sponsorte in den vergangenen drei Jahren die Trikots der „O’s“ um auf Pflegepersonal und mentale Gesundheit aufmerksam zu machen. Erst mit der Verpflichtung von Mauricio Pochettino als neuem Trainer im Sommer 2014, der spürbar frischen Wind an die White Hart Lane brachte, gelang auch Kane der Durchbruch bei den Spurs, wo er seitdem ohne Unterbrechung zum unangefochtenen Stammpersonal zählt.

Harry Kane im Trikot von Norwich

Harry Kane im Trikot von Norwich City, einer seiner vier Leihstationen in den frühen Jahren seiner Karriere. (Photo by Jamie McDonald/Getty Images)

Das „one of their own“, wie die Tottenham-Fans ihn über die Jahre hinweg tauften, einmal zum Rekordtorschützen der Spurs, Rekordtransfer der Bundesliga und möglicherweise besten Stürmer der Welt werden sollte, war damals noch nicht abzusehen – auch von vielen Tottenham-Fans nicht, die lange skeptisch waren, ob Kane das Zeug zum Premier-League-Stürmer hatte. Diese Kritik ließ Kane mit wettbewerbsübergreifend 31 Toren in 51 Spielen in der Saison 2014/15 verstummen. Auch der Vorwurf des „one season wonders“ ließ Kane kalt, der mit 28 Premier-League-Toren in der Saison 2015/16, in der Tottenham lange mit Leicester City um die Meisterschaft kämpte, nachlegte und damit den Goldenen Schuh als bester Torschütze gewann. Schnell wurde der junge Engländer zum Aushängeschild der Spurs und gemeinsam mit Spielern wie Christian Eriksen (31), Son Heung-Min (31) oder Dele Alli (27) zum Gesicht einer neuen Ära bei Tottenham, die unter der Ägide von Mauricio Pochettino zwischen 2016 und 2019 zu den besten Teams der Premier League zählten und auch international für Schlagzeilen sorgten, an Trophäen allerdings immer knapp vorbeischrammten. Im System Pochettino, der die Spurs wahlweise im 4-2-3-1 oder 3-4-2-1 aufs Feld schickte, war Kane klassischer Mittelstürmer, profitierte von der Kreativität um ihn herum (vor allem in Person des Dänen Christian Eriksen) und schoss Tore ohne Ende.

In zwei aufeinanderfolgenden Saison zwischen 2016 und 2018 erzielte der Engländer jeweils 30 Tore, was außer ihm bislang keinem Spieler in England gelang. Allein im Kalendarjahr 2017 traf Kane 56 Mal, darunter waren acht Hattricks. Damit kürte sich der Engländer zum Top-Torjäger Europas, was er auch bei der Weltmeisterschaft in Russland im darauffolgenden Sommer bestätigte, als er sich die Auszeichnung als bester Torjäger sicherte. Nachdem die Spurs im Sommer 2018 keinen einzigen Spieler verpflichtet hatten, gelang es Mauricio Pochettino, seine Mannschaft bis ins Finale der Champions League zu führen. Und obwohl Harry Kane weite Teile der Rückrunde verletzungsbedingt verpasste, standen am Ende der Saison immer noch 24 Tore auf dem Konto des Engländers.

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Das Ende der heilen Welt in Nordlondon

Langsam aber sicher machte Harry Kane sich in der internationalen Fußballwelt einen Namen. Sein Marktwert schnellte in die Höhe, Gareth Southgate ernannte ihn 2018 zum Kapitän der Three Lions. Das verlorene Champions-League-Finale, so bitter es für die Spurs auch war, sollte gemeinsam mit dem zeitgleich fertig gestelltenen neuen Stadion ein neues Kapitel bei Tottenham einläuten. Endlich war man angekommen am Tisch der größten Vereine in Europa, so die Hoffnung der Spurs. Harry Kane sollte das Aushängeschild dieses Projekts sein. Die Kapitänsbinde war dem Stürmer, der in einem Interview 2017 einmal verriet, dass er am liebsten sein ganzes Leben bei den Spurs spielen würde, nach dem Karriereende oder Wechsel von Hugo Lloris (36) ohnehin sicher. 2018 hatte Kane einen neuen Vertrag bei Tottenham unterzeichnet. Eben jenes Arbeitspapier, dass der Engländer jetzt nicht verlängern wollte und was letztendlich mitverantwortlich für einen Wechsel zu den Bayern war. Doch es sollte alles anders kommen: Nach einem schlechten Saisonstart und Berichten, dass die Stimmung innerhalb der Kabine gegen den Trainer gekippt sei, trennte Tottenham sich im Herbst 2019 vom Architekten des Erfolgs, Mauricio Pochettino, und ersetzte ihn durch José Mourinho. Die Idee: Der ahnsenliche Offensivfußball von Pochettino hatte Tottenham immer kurz an Trophäen vorbeischrammen lassen. Ein erfahrener, abgezockter und defensiv orientierter Trainer wie Mourinho, für den 1:0 bekanntermaßen das ideale Ergebnis ist, könnte die Spurs zu Silberware führen.

Und obwohl Mourinho Kane imponierte und beide eine enge Beziehung pflegten, ging der Plan nach hinten los. Die Spurs verloren unter José Mourinho ihre Spritzigkeit und ihren Offensivdrang. Eine handvoll Fehlgriffe auf dem Transfermarkt sowie der Abgang von Christian Eriksen im Januar 2020 verschlimmerten die Situation nur noch. Einige Akteure aus der goldenen Pochettino-Ära hatten außerdem ihren Zenit überschritten oder waren ein Schatten ihrer Selbst. So beispielsweise Dele Alli, der in einem Interview vor wenigen Wochen bekanntgab, zu dieser Zeit an einer Schlaftabletten-Sucht gelitten zu haben. Während die Offensive der Spurs um Kane herum in weiten Teilen auseinanderfiel, schoss der Engländer einfach weiter Tore und machte aus der Not eine Tugend: Vor allem ab der Saison 20/21 avancierte der inzwischen 27-Jährige immer mehr zum Spielmacher, ließ sich ins Mittelfeld fallen und verteilte die Bälle in Abwesenheit eines offensiven Mittelfeldspielers. Davon profitierte vor allem sein Sturmpartner Son Heung-Min: 47 Tore haben sich beide inzwischen gegenseitig aufgelegt und bilden damit das produktivste Duo der Premier-League-Geschichte. In der Saison 20/21 gewann Kane nicht nur den Goldenen Schuh als bester Torschütze der Premier League, mit 14 Assists sicherte er sich auch den Titel des besten Vorlagengebers.

Harry Kane

Wurde 2021 bester Torschütze und Vorlagengeber der Premier League: Harr Kane. (Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)

Im Alleingang konnten Son und Kane die Spurs allerdings auch nicht in die Champions League hieven, weswegen Kane im Sommer 2021 nach einer enttäuschenden Saison und der Qualifikation zur Conference League einen Wechselwunsch bei Spurs-Boss Daniel Levy hinterlegte. Mourinho war einige Monate zuvor gefeuert worden. Interesse an Kane gab es im Sommer 2021 vom amtierenden Meister Manchester City. Weil Kane aber noch einen Vertrag über drei Jahre hatte und die Cityzens nicht bereits waren, Tottenhams Preisvorstellungen zu erfüllen, kam kein Transfer zu Stande. Und Kane, der zu Beginn der Vorbereitung einige Trainingstage verpasst und somit den Ärger der Fans auf sich gezogen hatte, blieb bei Tottenham.

Kurzer italienischer Höhenflug und die Rückkehr auf den Boden der Tatsachen

Dort erlebte er ab der Rückrunde der Saison 21/22 unter Antonio Conte einen Aufschwung, als die Spurs es im Schlussspurt der Premier League sogar noch schafften, sich für die Champions League zu qualifizieren. Kane brillierte dabei wahlweise als Stürmer und Spielmacher, was er unter anderem beim 2:3-Auswärtssieg gegen Manchester City im Februar 2022 unter Beweis stellte. Im Sommer 2022 herrschte in Nordlondon aufgrund des starken Saisonendspurts inklusive eines 3:0-Heimsiegs über Arsenal und einem vielversprechenden Transferfenster eine regelrechte Euphorie. Und obwohl Wechselgedanken bei Kane zunächst vom Tisch waren, unterschrieb der Stürmer keinen neuen Vertrag bei den Spurs. Zu frisch waren noch die Wunden aus dem Jahr zuvor, als Daniel Levy aufgrund der Vertragslaufzeit seines Stars am längeren Hebel saß. Und Kanes Entscheidung sollte sich auszahlen, denn die Saison 2022 ging für Tottenham nach der WM-Pause den Bach herunter. Antonio Conte wurde entlassen und erstmals seit Kanes Durchbruch bei Tottenham im Sommer 2014 hätte er mit den Spurs in der kommenden Spielzeit nicht europäisch gespielt.

Harry Kane

Harry Kane soll die Offensivprobleme des FC Bayern lösen. (Photo by Christian Kaspar-Bartke/Getty Images)

Trotz allem gelangen dem Engländer in der abgelaufenen Spielzeit 30 Treffer in der Premier League. Damit schoss er über 40 Prozent aller Tottenham-Tore in der gesamten Spielzeit, übertraf Jimmy Greaves‘ Rekord von 266 Toren für Tottenham und wurde außerdem zweitbester Torschütze der Premier-League-Geschichte, nur übertroffen von Alan Shearer. 213 Tore in Englands höchster Spielklasse hat Kane in seiner Karriere erzielt. Zu dieser Zahl werden so schnell keine weiteren Tore dazukommen. Dass es Kane nach seinem Kapitel in München jedoch nochmal zurück auf die Insel zieht um den Shearer-Rekord zu brechen, ist nicht ausgeschlossen. Letztendlich machte auch Kanes emotionales Abschiedsvideo an die Tottenham-Fans seine Aussage von 2017 glaubhaft, dass er am liebsten mit den Spurs erfolgreich gewesen wäre und seine ganze Karriere lang im Trikot der Lilywhites gespielt hätte. Doch während Kane in den letzten Jahren zu einem der besten Spieler der Welt reifte, ging die Entwicklung bei den Spurs zurück. Die Konsequenz, zum FC Bayern zu wechseln, wo Kane neben der zur Routine gewordenen Meisterschale vor allem die Champions League gewinnen will, ist nachvollziehbar. Und die Bayern schließen die seit dem Abgang von Robert Lewandowski bestehende, klaffende Lücke im Sturmzentrum.

(Photo by ADRIAN DENNIS/AFP via Getty Images)

David Schöngarth

Aufgewachsen mit Grafite, Luca Toni und Co. entfachten Gareth Bale und Mauricio Pochettinos Spurs in David eine Leidenschaft für die Premier League. Interessiert sich für alles, was auf der Insel vor sich geht. Seit 2022 bei 90Plus.


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