Liverpool und Everton: So nah beieinander – und doch so weit auseinander
24. April 2022 | Spotlight | BY Yannick Lassmann
Spotlight | Das Merseyside Derby zwischen dem FC Liverpool und dem FC Everton steht vor seiner 241. Auflage. Selten war die Ausgangslage vor Spielbeginn dermaßen eindeutig.
Liverpool mit dem Traum vom Quadruple
Rund 1,5 Kilometer Fußweg trennen den Goodison Park des FC Everton von der legendären Anfield Road, wo der FC Liverpool seine Heimspiele austrägt. Am 20.02.21 umklammerten sich beide Vereine auch tabellarisch. Die Toffees gewannen das Merseyside Derby – nach 22 Jahren reichlich erfolgloser Versuche – auf fremden Geläuf. Ein frühes Tor von Richarlison (24) sowie ein verwandelter Gylfi Sigurdsson (31) fügten den damals strauchelnden Reds die vierte Heimniederlage in Serie zu. Beide Klubs hatten zu diesem Zeitpunkt jeweils 40 Punkte eingesammelt, sodass beim EFC durchaus Hoffnungen vorhanden waren, das Spieljahr erstmals seit der Saison 2012/13 vor dem Stadtrivalen abzuschließen.
Von Augenhöhe konnte allerdings nur kurzzeitig die Rede sein. Für einen Spieltag rückte Everton zwar in die Rolle des Stadtoberhaupts, doch am Ende reichte es nur zu Rang zehn, während Liverpool einen Weg aus der Krise fand und sich als Drittplatzierter für die Champions League qualifizierte. Damit wurde der Grundstein für die bislang extrem erfolgreich verlaufende Spielzeit gelegt. Leistungsträger wie der herausragende Mohamed Salah (29) oder Sadio Mané (30) blieben an Bord, Abwehrchef Virgil van Dijk (30), an dessen Seite Akteure wie Joel Matip (30) oder Neuzugang Ibrahima Konaté (22) ein Qualitätssprung gelingt, kehrte wiedererstarkt nach einem Kreuzbandriss zurück und die Fehlerquote bei Torhüter Alisson (29) nahm ab. Der Abgang von Georginio Wijnaldum (31) konnte kompensiert werden, da auch Thiago (31) nach anfänglichen Problemen eine ihn zufriedenstellende Rolle fand.
Dennoch lag der FC Liverpool, bei dem Winterzugang Luis Díaz (25) keinerlei Anpassungszeit benötigte, zwischenzeitlich bereits elf Punkte hinter dem unheimlich konstanten Manchester City. Es folgte eine Mitte Januar beginnende Siegesserie von zehn Premier-League-Partien am Stück, sodass der Rückstand auf den Konkurrenten vor dem direkten Aufeinandertreffen nur noch einen Zähler betrug. Dazwischen gewann der LFC zudem in einem dramatischen Elfmeterschießen den EFL-Cup, zog nahezu problemlos in das Champions-League-Viertelfinale sowie in das FA-Cup-Halbfinale ein.
Die Vorzeichen standen also nahezu exzellent vor der entscheidenden Saisonphase. Die Hürde Benfica wurde im Hinspiel (3:1) relativ problemlos überquert, im Gipfeltreffen bei Manchester City hielten die Reds etwas die Meisterschaftschancen durch ein etwas glückliches 2:2 aufrecht, das Rückspiel gegen Benfica (3:3) zur Formsache, ehe Manchester City im FA-Cup-Halbfinale dank einer überragenden ersten Halbzeit, die Jürgen Klopp (54) zum Schwärmen brachte, niedergerungen. Noch einen drauf setzte seine Mannschaft am Dienstag, indem er den alten Rivalen Manchester United gleich mit 4:0 demontierte.
Somit besteht für den FC Liverpool rund einen Monat vor Saisonende die Möglichkeit, alle vier relevanten Titel einzuheimsen. Das Werk des im Oktober 2016 engagierten Klopp, der 2019 die Champions League und 2020 die erste Meisterschaft seit 30 Jahren eintütete, könnte gekrönt werden. Es wäre der Lohn für überwiegend gute Entscheidungen. Klopp etablierte und entwickelte nicht nur seine Spielidee, sondern besaß stets ein Auge für die nötigen Transfers zum richtigen Zeitpunkt, nahm für van Dijk (85 Millionen Euro), Alisson (62,5 Millionen Euro), Jota (44 Millionen Euro), Salah (42 Millionen Euro) oder Mané (41 Millionen Euro) trotz skeptischen Stimmen viel Geld in die Hand und lag damit stets richtig. Die Verpflichtungen sorgten für den Sprung auf ein neue Stufe, wodurch seine Mannschaft nun den absoluten Höhepunkt erreichen könnte.
Everton kämpft gegen den Abstieg
Insgesamt betrugen die Ausgaben des LFC 614 Millionen Euro. Währenddessen investierte der Stadtrivale sogar 671 Millionen Euro in seinen Kader, wobei das Geld seit dem Einstieg des britisch-iranischen Milliardärs Farhad Moshiri (66) doch sehr locker saß. Durchschnittliche oder nicht zur Mannschaft passende Spieler wie Yannick Bolasie (32), Michael Keane (29), Davy Klassen (29), André Gomes (28), Jean-Philippe Gbamin (26) sowie viele andere wurden teuer gekauft und mit exorbitanten Verträgen ausgestattet. Heutzutage fungieren sie bestenfalls als Nebendarsteller im Goodison Park oder sind schon längst wieder vergessen. Dazu ging der mit fast 50 Millionen Euro Ablöse teuerste Einkauf der Vereinsgeschichte, Gylfi Sigurdssson (32), aus strafrechtlichen Gründen verloren.
Die fehlende Struktur im Team ist angesichts von sechs Cheftrainern in den vergangenen sechs Jahren unumgänglich gewesen. Die Verantwortlichen griffen schnell zur Reißleine, wenn Resultate nicht stimmten. Dies war oftmals der Fall, denn das Höchste der Gefühle war während der Klopp-Ära ein siebter Platz unter Ronald Koeman (59). Auf dem Weg der Besserung wähnten sich der gesamte Klub unter der Leitung von Carlo Ancelotti (62), der mit seinem Lieblingsspieler James Rodriguez (30) Glanz zum EFC brachte. Jenen Ancelotti zog es nach eineinhalb Jahren Tätigkeit im Sommer jedoch wieder zurück zu Real Madrid – und auch James machte kurz darauf den Abflug. Der neue Coach Rafael Benítez (62) – zwischen 2004 und 2010 höchst erfolgreich beim FC Liverpool – konnte mit ihm nichts anfangen.
Ebenso erging es den Fans jedoch mit dem Übungsleiter. Sie konnten ihre Abneigung aus früheren Duellen zu keinem Zeitpunkt überwinden. Als nach ansprechendem Saisonstart auch noch die Ergebnisse ausblieben, kippte die Stimmung sehr schnell. Spätestens nach dem 1:4 im Merseyside Derby fand sich der FC Everton im Abstiegskampf wieder. Dennoch sprachen die Bosse Benítez das Vertrauen aus. Er durfte in der Winter-Transferperiode nochmal fast 40 Millionen Euro in den Kader stecken sowie den Verkauf von Lucas Digne (28) veranlassen, aufgrund von persönlichen Unstimmigkeiten. Eine 1:2-Niederlage bei Schlusslicht Norwich brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Am 16. Januar gab der Klub die Trennung vom Trainer bekannt, kurz nachdem dieser maßgebliche Veränderungen am Kader vornahm. Eine Entscheidung, die sinnbildlich für die Vereinspolitik der letzten Jahre steht.
Frank Lampard (43) übernahm an der Seitenlinie. In seinen ersten Wochen bestätigte sich, dass die schlechteste Saison seit Gründung der Premier League keineswegs nur wegen des Wirkens von Benítez zustande kam. Denn unter der ehemaligen Chelsea-Spieler/Trainer besserten sich weder Leistungen noch Ergebnisse. Es überwogen weiterhin die Niederlagen. Die Toffees belegen seit Wochen Rang 17, den letzten Nichtabstiegsplatz, und spätestens nach dem 2:3 beim FC Burnley, der direkt dahinter lauert, erhöhte sich die Abstiegsangst enorm. Die Zweifel an Lampard wuchsen ebenfalls weiter an. Für kurzes Aufatmen sorgte ein hart erarbeiteter 1:0-Erfolg über Manchester United sowie ein Remis gegen Leicester. Da jedoch auch Burnley erneut punktete, beträgt der Vorsprung auf die Abstiegszone nur einen mickrigen Punkt. Die Gefahr besteht weiterhin, dass sich der FC Everton erstmals seit 1954 wieder in die Zweitklassigkeit begeben muss – und das womöglich in jenem Spieljahr, wo der FC Liverpool erfolgreicher denn je agiert. Von Nähe zwischen beiden Vereinen kann derzeit nur noch geographisch die Rede sein.
(Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)
Yannick Lassmann
Rafael van der Vaart begeisterte ihn für den HSV. Durchlebte wenig Höhen sowie zahlreiche Tiefen mit seinem Verein und lernte den internationalen Fußball lieben. Dem VAR steht er mit tiefer Abneigung gegenüber. Seit 2021 bei 90Plus.