Micky van de Ven: Warum seine Verletzung Tottenham so weh tut
11. Dezember 2023 | Spotlight | BY David Schöngarth
Es läuft nicht bei Tottenham. Obwohl die Spurs nach wie vor mit ansehnlichem Fußball zu gefallen wissen, werden die Chancen vorne nicht genutzt und hinten ist die Mannschaft zu anfällig. Zwar konnte Tottenham mit dem 4:1-Sieg gegen Newcastle wieder in die Spur finden, zuvor gab es aus fünf Spielen aber lediglich einen Punkt. Das lag unter anderem an der verletzungsbedingten Abwesenheit des Sommer-Neuzugangs Micky van de Ven, der binnen kürzester Zeit zu einem der wichtigsten Puzzleteile im Kader der Spurs geworden ist. Ein Porträt.
Micky van de Ven: Ein kometenhafter Aufstieg
2019 wäre Micky van de Vens (22) Traum vom Profifußball beinahe ausgeträumt gewesen. Der damals gerade volljährige Niederländer, der die letzten sechs Jahre in den Jugendmannschaften des Zweitligisten FC Volendam vebracht hatte, hätte fast keinen Profivertrag erhalten. „Sie haben mir in Volendam gesagt, dass es schwer werden wird, dass die Konkurrenz für mich sehr groß ist.“ Doch bei Volendam, in der abgelaufenen Spielzeit 2018/19 auf dem enttäuschenden 16. Platz der „Keuken Kampioen Divisie“ gelandet, übernahm im Sommer 2019 Wim Jonk das Ruder. Jonk, 49-facher niederländischer Nationalspieler, begann seine Karriere bei Volendam, bevor er in den 90er-Jahren unter anderem das Trikot von Ajax, Inter und der PSV Eindhoven trug. Ihm verdanke van de Ven „fast alles“, wie er in einem Interview mit dem kicker verriet. Denn nachdem er ihn in der U19 gesehen hatte, bestand Jonk darauf, den jungen Micky mit einem Profivertrag auszustatten. Ab Herbst rückte dieser zur Profimannschaft auf, spielte sich in der Innenverteidigung fest, verlor nur noch drei Mal im Lauf der Saison und wurde mit Volendam letztendlich Dritter.
Spult man gerade einmal vier Jahre vor, ist Micky van de Ven aus der Innenverteidigung von Tottenham Hotspur nicht mehr wegzudenken. Im Sommer wechselte der inzwischen 22-Jährige für 40 Millionen Euro in die englische Hauptstadt. Am Höhenflug der Spurs zum Saisonstart hatte van de Ven großen Anteil, kein Wunder also, dass die Ergebniskrise der Mannschaft von Ange Postecoglou in den letzten Wochen eng mit der verletzungsbedingten Abwesenheit des Niederländers verbunden ist. Am 6. November bei dem verrückten Heimspiel gegen Chelsea zog sich van de Ven eine Verletzung an der hinteren Oberschenkelmuskulatur zu. Seitdem fehlt der 22-Jährige den Spurs und wird vermutlich auch erst wieder im neuen Jahr zur Verfügung stehen. Doch was macht den jungen Niederländer so wertvoll? Fangen wir von vorne an und blicken auf die Anfänge des kometenhaften Aufstiegs von van de Ven: Eine niederländische Kleinstadt 15 Kilometer nördlich von Amsterdam.
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Vom Stürmer zum Innenverteidiger
In der 13.000-Einwohner-Stadt Wormer begann der Sohn eines niederländischen Geheimagenten das Fußballspielen. Wer im Haushalt der van de Vens berühmter ist, darf durchaus infrage gestellt werden. Und das obwohl Micky van de Ven kürzlich sogar sein Debüt für Oranje feiern konnte. Sein Vater Marcel van de Ven, ein ehemaliger Geheimagent (kein Scherz), hat nämlich als mittlerweile Hauptdarsteller in der niederländischen Reality-Show „Hunted“ zu Berühmtheit in der Heimat gefunden und eine Bestseller-Autobiografie geschrieben. Glaubt man Tottenhams ehemaligen Chefscout Leonardo Gabbanini, der den Verein erst kürzlich verließ und großen Anteil an der Verpflichtung von van de Ven im Sommer hatte, war es genau dieser familiäre Hintergrund, der ihn beeindruckt hat. In einem Interview mit The Athletic, zu hören im Tottenham-Podcast „View From The Lane“, verriet der Italiener im November: „Das Geheimnis ist, herauszufinden, ob der Mann gut ist oder nicht. Van de Vens Vater war bei der Armee. Das sind dumme Dinge, ganz unter uns. Für mich ist die Geschichte des Spielers und seine Ausbildung wichtig. Und für Ange (Postecoglou) ist es dasselbe. Man will die Person kennen, man will den Mann hinter dem Spieler kennen.“
Hohes Lob für den erst 22-jährigen van de Ven, der zunächst wie so viele als Stürmer spielte, ehe er dann zurück in die Innenverteidigung wanderte. Dort fühlt er sich vor allem auf der linken Seite zuhause, kann daher auch als Linksverteidiger aushelfen. Mit seinen 1,93 Metern muss sich van de Ven körperlich keineswegs verstecken, seine größte Stärke liegt jedoch überraschenderweise anderswo: Der Niederländer zählt zu den schnellsten Spielern Europas und kann in Sprints Geschwindigkeiten von fast 36 km/h abrufen, was ihn zur Lebensversicherung der hoch stehenden Abwehrreihe der Spurs macht. Doch van de Ven sprintete nicht immer mit der selben Leichtigkeit: „Je größer ich wurde, desto langsamer wurde ich. Richtig langsam fühlte ich mich mit 15, 16, jede Drehung, jeder Sprint war schwierig“, so van de Ven gegenüber dem kicker.
Wechsel in die Bundesliga: Verletzungspech und Durchbruch
Nach zwei beeindruckenden Jahren im Profiteam von Volendam wechselte van de Ven im Sommer 2021 zum VfL Wolfsburg. Auch PSV Eindhoven soll damals Interesse gehabt haben, der Niederländer entschied sich dennoch für den Schritt ins Nachbarland Deutschland, wo die ersten Bundesliga-Saison von Instabilität und Verletzungssorgen geplagt war. Von Landsmann Mark van Bommel trainiert, gelang van de Ven zunächst nicht der Sprung in den Spieltagskader, ein erster Kurzeinsatz erfolgte erst unter Florian Kohfeldt im November 2021. Bis April 2022 sollten nur fünf weitere Minuten für den nur knapp über den Abstiegsrängen schwebenden VfL dazukommen, zum Teil bedingt durch eine Oberschenkelverletzung, die van de Ven im Frühjahr 2022 lahmlegte. In dieser Zeit verstarb auch van de Vens Berater Mino Raiola, mit dem der Niederländer eigenen Angaben zufolge ein enges Verhältnis hatte. Der in den Niederlanden aufgewachsene Raiola vertrat van de Ven zwei Jahre lang und war an dessen Wechsel zum VfL maßgeblich beteiligt gewesen.
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So enttäuschend das erste Jahr in Wolfsburg war, umso stärker dann das Zweite. Der neue Trainer Niko Kovac schenkte van de Ven Vertrauen, und nach fünf Bundesliga-Kurzeinsätzen im ersten Jahr stand der Niederländer in der Saison 2022/23 in 33 von 34 Spielen über die volle Distanz auf dem Feld. Lediglich das Heimspiel gegen Mainz im April 2023 verpasste van de Ven aufgrund einer Gelbsperre. Im Sommer gehörte van de Ven dann zum Kader der U21-Nationalmannschaft der Niederlande bei der Europameisterschaft. Sein Vertrag beim VfL war bereits im März bis 2027 verlängert worden.
Der Sprung auf die Insel
Van de Ven’s Kapitel in Wolfsburg wurde dann doch vorzeitig beendet – durch das Interesse von Tottenham Hotspur. Denn die Spurs, die im Sommer durch die Verpflichtung von Ange Postecoglou ihre Philosophie einmal um 180 Grad gewendet hatten, waren für das attraktive, risikoreiche Spiel des Australiers auf der Suche nach einem schnellen, ballsicheren linken Innenverteidiger: Ein „match made in heaven“ mit van de Ven, der für 40 Millionen Euro in den Nordon Londons wechselte. Dort wurde er nur wenige Tage nach seiner offiziellen Vorstellung beim Saisonauftakt gegen Brentford direkt ins kalte Wasser geworfen, und stand auch danach bis zu seiner Verletzung immer auf dem Rasen. Die Spurs-Fans haben den jungen Niederländer schnell ins Herz geschlossen und den einstigen Gesang für Spielmacher Raphael van der Vaart kurzerhand auf Micky van de Ven umgedichtet.
Bei den Spurs bildet van de Ven in der Innenverteidigung ein Duo mit Weltmeister Cristian Romero (25). Legt man die Statistiken der beiden übereinander, erkennt man, dass sich das Duo perfekt ergänzt. Im Vergleich zu anderen Verteidigern weist van de Ven exzellente Passwerte auf, Romero zählt mit durchschnittlich 2,36 Zweikämpfen, 1,63 abgefangenen Bällen und 1,57 Blocks pro Spiel zu den besten seiner Zunft (via fbref). Seitdem Ange Postecoglou bei Tottenham das Sagen hat, begeistern die Spurs mit kompromisslosem Offensivfußball. Der australische Cheftrainer besteht dabei selbst unter größtem Druck darauf, dass seine Mannschaft spielerische Lösungen findet statt die Kugel lang und weit ins Niemansland zu schlagen. Van de Ven und Romero sind dabei, zusammen mit Keeper Guglielmo Vicario (27), der Anker des Spurs-Aufbauspiels. Außenverteidiger Destiny Udogie (21) und Pedro Porro (24) rücken ins Mittelfeld vor. Und auch wenn van de Vens Vertretung Ben Davies (30), der zu den Veteranen des Spurs-Kader zählt, seine Sache durchaus ordentlich macht – die Athletik von Micky van de Ven fehlt dem erfahrenen Waliser.
In seiner Rolle als linker Innenverteidiger blühte van de Ven zu Beginn der Saison auf – jetzt vermissen ihn die Lilywhites schmerzlich. Vor allem defensiv wackelte Tottenham zuletzt, kassierte in fünf Spielen am Stück immer mindestens zwei Tore, gleichzeitig fehlt vorne die Effizienz. Erst mit dem jüngsten 4:1-Sieg gegen Newcastle gelang so etwas wie ein Befreiungsschlag, und das Team von Ange Postecoglou belohnte sich für die spielerische Dominanz. Immerhin eine gute Nachricht. Die schlechte ist, dass van de Ven noch bis ins neue Jahr fehlen wird.
(Photo by Henry Browne/Getty Images)
David Schöngarth
Aufgewachsen mit Grafite, Luca Toni und Co. entfachten Gareth Bale und Mauricio Pochettinos Spurs in David eine Leidenschaft für die Premier League. Interessiert sich für alles, was auf der Insel vor sich geht. Seit 2022 bei 90Plus.