Zwar steht Tottenham in der laufenden Premier-League-Saison tabellarisch gar nicht so schlecht da – doch auf dem Platz läuft es für die Mannschaft von Antonio Conte zuletzt nicht wirklich rund. Woran liegt das? Und finden die Spurs wieder in die Spur?
Tottenham: Es läuft nicht alles nach Plan
Es rumort bei Tottenham. Nach dem 2:2-Unentschieden gegen Brentford am Boxing Day, bei dem die Mannschaft von Antonio Conte (53) nach einem 0:2-Rückstand noch zurück in Spiel kam, wurden innerhalb der Fangemeinschaft Stimmen laut, die nicht nur den Kopf von Antonio Conte, sondern vor allem von der Vereinsführung in Person Daniel Levys und dem Besitzerunternehmen ENIC forderten. Die fehlenden Investitionen der Besitzer wurden beklagt, des Trainers Sturheit kritisiert und allgemein die gesamte Defensive der Spurs für unbrauchbar befunden. Ein gebrauchter Tag für die Nordlondoner.
Dabei ist die Lage gar nicht so düster, wie man mit Blick auf die Stimmung bei den Spurs aktuell denken mag. Platz vier in der Liga, dazu das bevorstehende Achtelfinale in der Champions League gegen AC Milan. Was die Tabelle angeht, ist Tottenham eigentlich (noch) im grünen Bereich. Das hat das Team von Antonio Conte vor allem seiner Lebensversicherung Harry Kane (13 Tore) und dem guten Saisonstart zu verdanken: 23 Punkte aus den ersten 10 Spielen in der Liga – Vereinsrekord.
Doch schon in der Anfangsphase der Saison zündeten die Spurs kein Feuerwerk auf dem Spielfeld ab, präsentierten sich vorne meist kaltschnäuzig und hinter einigermaßen stabil. Schon damals fragten sich viele, wie nachhaltig diese Art von Fußball wohl sein kann. Mit Blick auf die letzten Wochen und Monaten sollten sie Recht behalten, denn von der Souveränität des Saisonstarts ist bei den Spurs zuletzt wenig übriggeblieben. Und drei Siege in den letzten sieben Pflichtspielen passen nicht zur Erwartungshaltung.
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Tottenhams Baustelle in der Defensive
Vor allem die defensive Stabilität ist der Mannschaft von Antonio Conte verloren gegangen. Das letzte Mal zu null spielte Tottenham am 15. Oktober gegen Everton. Kassierten die Spurs in ihren ersten zehn Saisonspielen im Schnitt 1 Tor pro Spiel, sind es in den sechs Spielen seitdem durchschnittlich 2,1. Im selben Zeitraum stellten die Nordlondoner außerdem die viertschlechteste Defensive der Liga: Nur Bournemouth, Leeds und Aston Villa kassierten mehr Gegentore. Es sind gruselige Statistiken für eine Mannschaft, die um die Champions League mitspielen möchte und in der Rückrunde der vergangenen Saison noch die drittbeste Defensive der Liga hatte.
(Photo by BEN STANSALL/AFP via Getty Images)
Woran liegt die defensive Instabilität der Spurs? Die Suche nach Ursachen gestaltet sich schwierig. Dass Abwehrchef Eric Dier (28), der im letzten Jahr unter Antonio Conte zu alter Stärke zurückfand, in dieser Saison ein Schatten seiner selbst ist, trägt mit Sicherheit einen großen Anteil. Der frisch gekürte Weltmeister Cristian Romero (24) hatte zu Saisonbeginn immer wieder mit Verletzungsproblemen zu kämpfen und stand in der Premier League erst acht Mal auf dem Feld. Und weil Ben Davies (29) und Clément Lenglet (27) noch um den Stammplatz auf der linken Innenverteidigerposition kämpfen, hat sich bislang keine feste Defensivformation eingespielt. Auch vom defensiven Mittelfeldspieler Yves Bissouma (26), der im Sommer aus Brighton nach Nordlondon wechselte, haben sich die Spurs bislang mehr erhofft.
Spät starten – Tottenhams Spezialität
Wem die defensiven Horror-Statistiken noch nicht genug waren, der sollte sich gefasst machen. Denn Tottenham hat ein vielleicht noch viel größeres Problem: Die Mannschaft von Antonio Conte verschläft in beängstigender Regelmäßigkeit die erste Halbzeit. In der Premier League gingen die Spurs zuletzt sechsmal in Rückstand, wettbewerbsübergreifend sogar neun Mal. Und von den in den letzten sechs Ligaspielen elf geschossenen Toren fiel sage und schreibe nur ein einziges in der ersten Halbzeit.
Die Kombination aus defensiver Instabilität und der enormen Startschwierigkeiten hat in den letzten Wochen dazu geführt, dass sich Tottenham in den letzten Wochen oft schon früh mit einem Rückstand konfrontiert sah. Gegen Newcastle lag man nach 40 Minuten mit 0:2 hinten, gegen Bournemouth nach 49 Minuten. Dass die Spurs es während dieser Durstrecke geschafft haben, überhaupt noch Punkte zu sammeln, nämlich immerhin sieben Punkte aus den letzten sechs Spielen, haben sie ihrer mentalen Widerstandsfähigkeit zu verdanken. Immerhin: Dreimal gewann Tottenham trotz Rückstand noch, gegen Brentford holte man zuletzt einen Punkt, gegen Liverpool und Newcastle erzielte man spät den Anschlusstreffer und drückte schlussendlich vergebens. Der Wert nach Rückstanden per sé ist kein schlechter. Aber ein schwacher Trost für die Spurs, die sich aufgrund der jüngsten Schwächephase in der Tabelle wieder nach unten orientieren müssen und um den vierten Platz fürchten müssen.
Tottenham: Müde Beine und Verletzungssorgen
Es half Antonio Conte in dieser Saison außerdem bislang nicht, dass der Spielplan und die WM-Unterbrechung alles andere als gnädig mit seiner Mannschaft waren. Dreizehn Spiele absolvierte Tottenham wettbewerbsübergreifend zwischen dem 01. Oktober und dem 12. November, bevor die Premier League wegen der Weltmeisterschaft zum Stillstand kam. Zwar ging es anderen Teams aus der Premier League in dieser Hinsicht ähnlich, aber auch vom Verletzungspech blieben die Spurs nicht verschont und mussten längere Zeiträume auf Dejan Kulusevski, Cristian Romero und Richarlison verzichten. Letzterer kehrte auch von der Weltmeisterschaft verletzt zurück und wird frühestens Ende Januar wieder auflaufen können. Die WM-Unterbrechung sorgte bei Tottenham ebenfalls für wenig Entlastung. Zahlreiche Leistungsträger wie Hugo Lloris, Eric Dier, Ivan Perisic, Cristian Romero, Pierre-Emile Hojbjerg, Son Heung-Min und Harry Kane fuhren zur WM und sammelten dort einer Auswertung von TheAthletic zufolge zusammen insgesamt 3687 Einsatzminuten – die drittmeisten der Premier League und deutlich mehr als Akteure von Liverpool (1788) oder Arsenal (1699).
Die jüngste Misere zeigt dem Kader der Spurs seine Grenzen auf. Zwar hat sich Tottenham im Sommer auf mehreren Positionen verstärkt, bislang ist aber noch kein Transfer voll eingeschlagen. Vor allem auf der rechten Wingback-Position, die in Antonio Contes Philosophie mit einer Dreierkette und offensiven Außenverteidigern enorm wichtig ist, haben die Spurs dringend Nachholbedarf. Gerüchten zufolge soll Pedro Porro (23) die bevorzugte Wahl der Nordlondoner sein. Ein Transfer im Winter würde aber nur über die Bühne gehen, wenn Tottenham die Ausstiegsklausel des Spaniers über 45 Millionen Euro aktiviert.
Der Weg aus der Krise: Schafft Tottenham die Kehrtwende?
Wenn Tottenham auch in der kommenden Saison in der Champions League spielen möchte, brauchen die Nordlondoner dringend eine Kehrtwende. Man könnte meinen, dass es zuletzt genug Wachrüttler gegeben hätte. In der dicht getakteten Liga geht es für die Spurs als nächstes gegen Aston Villa und Crystal Palace, bevor mit dem North London Derby ein richtungsweisendes Spiel gegen den Lokalrivalen Arsenal ansteht. Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt also nicht. Immerhin: Der gegen Brentford gesperrte Rodrigo Bentancur, vor der WM einer der besten Akteure bei den Spurs war, ist fit und kann eingesetzt werden. Und gegen Aston Villa werden Weltmeister Romero sowie Kapitän Lloris ebenfalls wieder in der Mannschaft erwartet.
Währenddessen schwebt eine weitere dunkle Wolke bedrohlich über Tottenham. Antonio Contes Vertrag läuft im Sommer 2023 aus, der Verein hat die Option, das Arbeitspapier des Italieners um ein Jahr zu verlängern. War man zu Beginn der Saison noch optimistisch, bald eine Einigung erzielen zu können, gerieten die Gespräche über eine Vertragsverlängerung zuletzt ins Stocken. Der Knackpunkt: Conte will im Winter-Transferfenster Geld in die Hand nehmen können, um die Baustellen im Kader anzugehen. Kommt die Vereinsführung diesen Forderungen nach, haben die Spurs gute Karten, ähnlich wie schon in der vergangenen Saison eine erfolgreiche Rückrunde hinzulegen. Doch die Konkurrenz um die Champions-League-Ränge ist groß.
(Photo by Eddie Keogh/Getty Images)