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FC Bayern: Thiago – Das Genie, das in keine Schublade passt

12. Juni 2020 | Spotlight | BY Chris McCarthy

Spotlight | Seit Wochen wartet der FC Bayern darauf, dass Thiago seinen Vertrag verlängert. Obwohl der Spanier unter Hansi Flick zur Höchstform aufläuft, sind sich Kritiker über seine Wichtigkeit weiter uneins. Eine Ursachenanalyse.

Was wäre ein Artikel zum FC Bayern und Thiago ohne das berühmte Zitat „Thiago oder nix“, mit dem Pep Guardiola den Mittelfeldtechniker 2013 vom FC Barcelona an die Säbener Straße lotste. Sechs Jahre, vier Trainer, sechs deutsche Meisterschaften und drei DFB-Pokalsiege später haben sich die Münchner erneut für „Thiago“ entschieden und hoffen, dass der Spanier seinen Vertrag verlängert. Dieser zögert allerdings noch.

In der Zwischenzeit streiten sich Experten, Medien, teilweise sogar das eigenen Fanlager darüber, ob Thiago überhaupt gebraucht wird. Die Meinungen reichen von Schönwetterfußballer bis Weltklassespieler. Selten geht es bei seiner Bewertung aber um sein tatsächliches, unübersehbares Talent.

(Photo by Christian Kaspar-Bartke/Bongarts/Getty Images)

„Thiago ist ein Stratege mit unheimlich gutem Auge und perfekter Technik, seine internationale Klasse steht außer Frage“, erklärte Ex-Nationalspieler Dietmar Hamann gegenüber dem Kicker und ergänzte: „Aber ich sehe ihn nicht als defensiven Mittelfeldspieler.“ Das Fachmagazin selbst kritisierte jüngst seine mangelhafte Ausbeute in Sachen Torbeteiligungen, in der Allgemeinheit wohl das Kriterium schlechthin wenn es um Offensivspieler geht.

Man hat eher das Gefühl, die Kritiker wissen nicht so richtig, wohin mit dem Ausnahmekönner.

Passend dazu schaffte es Thiago vergangen Januar bei der halbjährlichen Kicker-Rangliste aller Bundesligaspieler weder bei den offensiven noch bei den defensiven Mittelfeldspielern in die drittbeste Kategorie „im Blickfeld“. Spieler, die – bei allem Respekt – ihm qualitativ deutlich hinterherhinken liefen ihm den Rang ab.

„Die Leute neigen dazu, Leute in Schubladen zu stecken“, erklärte Thiago in einem Interview mit La Vanguardia und ist damit dem Problem auf der Spur.

Thiago bringt das Offensivspiel zum Laufen

Denkt man an Thiago, so kommen einem aufgrund seiner herausragenden Technik, seines Ballgefühls und des ein oder anderem Außenristpasses zunächst ein Spieler mit traditionell offensiven Stärken in den Sinn, was durchaus legitim ist.

In Sachen Passsicherheit, erfolgreiche Dribblings, Pressingresistenz gibt es europaweit – speziell in dieser Kombination – nur wenige, die Thiago statistisch betrachtet das Wasser reichen können. Für viele aber sind das nur inhaltslose Zahlen.

Was Thiago mit diesen Stärken allerdings bewerkstelligt, ist am ehesten mit dem bloßen Auge zu begreifen. Immer wieder lässt er mit geschmeidigen Körpertäuschungen, denen sogar der kritische Let’s Dance-Juror Joachim Llambi eine klare 10 verleihen würde, und makelloser Ballbeherrschung gleich mehrere Gegenspieler stehen, ehe er mit einem perfekt getimten Zuspiel das Spiel in Windeseile eröffnet.

„Das ist für Außenstehende vielleicht schwer nachvollziehbar“, verrät Thiago in einem Gespräch mit der vereinseigenen Website das Geheimnis seiner großen Stärke, „aber die Wahrheit ist: Du hast minus eine Sekunde Zeit. Schon vor der Ballannahme musst du eine Idee haben und immer schneller als der Gegner denken. Orientierung ist der Schlüssel.“

Diese außergewöhnliche Qualität macht Thiago nicht unbedingt zu einem prominenten Gast auf der Scorerliste. Seine Offensivstärke anhand von Torbeteiligungen zu bewerten – 31 Treffer und 37 Assists in 227 Pflichtspielen für den FC Bayern sind in der Tat nichts außergewöhnliches – ist ohnehin vermessen.

Thiago bietet der Münchner Offensive so viel mehr, denn er ist zumeist derjenige, der den entscheidenden Impuls zu einem Angriff überhaupt erst liefert, oftmals sogar die Vorlage vor der Vorlage. In den fünf europäischen Topligen hatte vor Bundesliga-Restart kein Spieler öfter den letzten Pass vor dem Assist geliefert als Thiago, ein Wert, der seine Produktivität auch ohne Scorerpunkte untermauert.

(Photo by Alex Grimm/Bongarts/Getty Images)

Thiago: Unauffällig defensivstark

Bei all der Magie, die Thiago in der Offensive verrichtet, ist es leicht zu übersehen, welch großen Einfluss er darauf hat, das Spielgerät überhaupt erst zurückzuerobern.

Wie bereits Raphael Honigstein für The Athletic feststellte, hat Thiago bundesligaweit die neuntmeisten Defensivaktionen vorzuweisen. Ein herausragender Wert für einen Spieler, dessen Gegner im Schnitt nur 37% Spielanteile haben, zumal die anderen acht Spieler vor ihm typische Defensivspieler sind und nicht über die offensiven Qualitäten Thiagos verfügen.

Thiagos außergewöhnliches Antizipationsvermögen wirkt sich nämlich nicht nur auf das Spiel mit, sondern auch auf das Spiel ohne den Ball aus. Er hat dank seiner Spielintelligenz ein Gespür dafür, wohin der Gegner spielen will und welchen Laufweg er wählt. Somit kann er die Gefahr ohne Grätschen oder Fouls im Keim ersticken, oftmals schon im gegnerischen Drittel.

Die Mischung macht‘s

Während Thiago sicherlich sowohl offensiv wie defensiv ein extrem unterschätzter Spieler ist, macht ihn vor allem diese Kombination so außergewöhnlich.

Wie die folgende Statistik zeigt, hat Thiago von allen Bundesliga-Spielern mit mindestens zwei Offensivaktionen (Dribblings, Torschussvoralgen) pro Spiel die mit Abstand meisten Defensivaktionen (Tacklings und abgefangene Pässe).

Vor der Coronapause – seitdem war Thiago verletzt

Es ist ein Gesamtbild, nachdem Thiago strebt: „Ich nehme viele Bälle ab, ich dribble immer noch viel, deshalb mag ich es nicht, als großer Passgeber abgestempelt zu werden, ich selbst möchte sagen, dass ich mich als kompletter Fußballer fühle.“

Thiago: Unter Hansi Flick zur Höchstform

Zugegeben, Thiago hatte in den letzten sechs Jahren Probleme mit Verletzungen und ab und zu auch mit der Konstanz. Gerade unter Niko Kovac, wo das spielerische Gesamtkonstrukt brüchig wirkte, hatte das sonst so beständige Mittelfeldmetronom Thiago gerade gegen gut abgestimmte und qualitativ hochwertige Mannschaften seine Mühe, den spielerischen Takt vorzugeben.

In einem funktionierenden System, wie nun unter Hansi Flick, hat Thiago nach einer kurzen Anpassungsphase in der Schaltzentrale regelrecht brilliert.

Das bedeutet allerdings nicht, dass Thiago nur glänzt, wenn die anderen gut spielen. Das bedeutet, dass er in einem gut abgestimmten Konstrukt mehr Risiken eingehen kann und seine Impulse öfter einen Adressaten finden. Er kommt schlichtweg besser zur Geltung.

Es ist kein Zufall, dass sein Ansehen in den letzten Wochen vor der Coronavirus-Pause deutlich anstieg.

Flick weiß, was er an Thiago hat

Drei Wochen nach dem Restart gerät dies schon wieder in Vergessenheit. Thiago konnte vier Mal in Folge nicht von Beginn an mitwirken und der FC Bayern rollte weiter.

Doch auch wenn es die Konkurrenz nicht gerne hört: Die Münchner haben auch ohne einen ihrer besten Spieler genügend Qualität auf dem Platz, um jeden Gegner der Bundesliga zu schlagen, gerade unter einem guten Trainer. Darüber hinaus lief Leon Goretzka in Thiagos Abwesenheit zur Höchstform auf, verlieh dem Spiel der Münchner durch Dynamik und Physis eine weitere Komponente, die die Gegner vor eine neue Herausforderung stellte.

Auf längere Sicht bietet Thiago dem FC Bayern allerdings so viel mehr. Mit ihm in der Elf ist das Kombinationsspiel der Münchner auf einem höheren Level. Sie sind kreativer und deutlich pressingresistenter. Das Offensivspiel ist nachhaltiger, facettenreicher und gegen Gegner aus den höchsten europäischen Regalen schwerer auszurechnen.

Als Thiago gegen Leverkusen wieder in den Kader zurückkehrte sagte Flick: „Thiago ist immer eine Option. Die Qualitäten, die er hat, tun jeder Mannschaft gut.“

Schon bald wird der 29-Jährige in die Startelf zurückkehren. Er wird defensivstark sein, ohne zu grätschen. Er wird die Offensive ankurbeln, ohne viele Tore und Assists. Thiago ist nunmal kein reiner defensiver oder offensiver Mittelfeldspieler. „Bei Thiago sieht man einfach, was er für ein genialer Fußballer ist. Er ist ein besonderer Fußballer“, bringt es sein Trainer auf den Punkt.

Würde man die Kategorien etwas breiter fächern, so würde man Thiago wohl am ehesten als „Regista“ bezeichnen: Ein tief stehender Dirigent, der defensive Aufgaben übernimmt und aus der Tiefe das Spiel gestaltet. In dieser Rolle ist Thiago einer der besten seines Fachs…weltweit. Doch wer will schon neue Schubladen öffnen…

Chris McCarthy

(Main Photo by Sebastian Widmann/Bongarts/Getty Images)

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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