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Werder-Krise statt Euphorie: Von Traum zu Trauma – Teil 2

22. Februar 2020 | Spotlight | BY 90PLUS Redaktion

Werder Bremen steckt aktuell tief im Abstiegskampf der Bundesliga. Von der Euphorie, die vor der Saison herrschte, ist nicht mehr viel übrig. Werder muss sich derzeit mit dieser bitteren Realität anfreunden – und Lösungen finden.

Teil 1 der großen Krisen-Analyse beschäftigt sich mit der Entwicklung von Euphorie zur Abstiegsangst. In Teil 2 sollen nun mögliche Ansatzpunkte gefunden werden…

Werder: From bad to worse

“I don’t believe in rock bottoms. I had a lot of what I thought were rock bottoms only to discover that there were rockier bottoms underneath.”

Bojack Horseman

Im Winter wollte Werder, mal wieder, neu angreifen. Man wollte die brüchige Defensive stärken, den Glauben an sich selbst zurückgewinnen und, nach Möglichkeit, in allen Mannschaftsteilen Verstärkungen suchen, so Baumann und Kohfeldt. Letztlich wurde dabei erneut der Mannschaftsteil ignoriert, der schon im Sommer dringend Verstärkungen gebraucht hätte: Das Mittelfeld. Stattdessen kamen mit Vogt ein weiterer Innenverteidiger und später mit Selke noch ein wuchtiger Stürmer, der den Verlust von Füllkrug kompensieren und vorne für mehr Torgefahr sorgen sollte. Auch taktisch orientierte man sich um, setzte klar auf eine Dreierkette und wollte offenbar erstmal die eigene Stabilität wiederfinden, bevor man offensiv mehr Durchschlagskraft entwickeln würde.

Gegen Düsseldorf gelang das in einem über weite Phasen unansehnlichen Spiel sogar. Werder ließ defensiv wenig zu, hielt die Null und gewann, wenn auch glücklich, durch eines der bislang lediglich zwei erzielten Rückrundentore. Wobei auch das etwas irreführend ist, schließlich waren diese beiden Tore jeweils Eigentore. Damit ist dann auch das erste große Problem dieser Rückrunde benannt: Werder schießt keine Tore mehr. Klingt banal, ist es auch. Wie zuvor schon viele Teams im Abstiegskampf ist Werder so darauf bedacht, unbedingt die löchrige Defensive zu stopfen, dass man die eigenen Angriffsbemühungen zu vernachlässigen scheint. Im oftmals sehr defensiv anmutenden 3421 schafft Werder es zwar überwiegend ordentlich, die Räume eng zu halten und dem Gegner wenige Angriffe zu ermöglichen. Man schaffte es bislang allerdings nur gegen Düsseldorf, diese wenigen Angriffe dann auch letztlich gut genug zu verteidigen.

(Photo by Dean Mouhtaropoulos/Bongarts/Getty Images)

Womit wir beim zweiten Problem wären: Trotz des Defensivfokus‘ zeigte man in allen anderen Spielen die bekannten Muster eines Absteigers. Kontrollverlust, einfache Abstimmungsfehler oder Aussetzer und daraus resultierende Gegentore, die allesamt unnötig und vermeidbar wirken. Dabei tritt Werder gar nicht unbedingt generell defensiv unorganisiert auf, sie verlieren einfach regelmäßig die Ordnung, sobald ein Spiel anfängt, schwierig oder hektisch zu werden. Werder wirkt nicht mehr fähig, Rückschläge gelassen zu verarbeiten. Insbesondere im Spiel gegen Union wirkte man von Anfang an darum bemüht, bloß nichts falsch zu machen und daher, wie schon in der Hinrunde gegen Paderborn, verkrampft, ängstlich und ohne nötige Entschlossenheit in nahezu allen Aktionen.

Probleme in allen Kernbereichen

Auch Union musste keine besonders gute Leistung zeigen oder besonders kreative Ideen an den Tag legen, um letztlich vollkommen ungefährdet zu gewinnen. Werder, so wirkt es mehr denn je, schlägt sich im Zweifelsfall einfach selbst. Der Gegner muss nur darauf warten. Was einfach ist, da Werder eben, siehe Problem Nummer eins, aktuell selbst gar nicht zu wissen scheint, womit sie ein Spiel eigentlich gewinnen wollen. Im Umschaltspiel wirkt man in den entscheidenden Szenen oft nicht gut genug aufeinander abgestimmt, hat aufgrund der defensiven Grundausrichtung zu wenige Spieler in offensiven Zonen, um den Gegner vor Probleme zu stellen und weder im Sturm noch im Mittelfeld jemanden, der Bälle halten und ablegen oder aber die Mitspieler geschickt in Szene setzen könnte. Im eigenen Ballbesitzspiel wiederum verliert man regelmäßig die guten Ansätze im Positionsspiel aus den Augen, überlädt die falschen Zonen und behindert sich gegenseitig und schafft es nicht, durch Vertikalspiel Gefahr zu erzeugen oder durch Tempowechsel die Staffelung des Gegners aus der Ordnung zu bringen. Man ist, auch spielerisch, zu langsam und einfallslos.

Auch hier zeigt sich, dass sich Werder zwar personell und qualitativ keinesfalls wie ein typischer Absteiger liest, aber bei der Kaderplanung vergessen wurde, die theoretisch vielversprechenden Einzelteile der Mannschaft in ein funktionierendes Gesamtkonstrukt einzufügen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, lautet ein gestalttheoretischer Grundsatz.

(Photo by CHRISTOF STACHE/AFP via Getty Images)

Bei Werder ist aktuell das Gegenteil der Fall. Wie schon in den Vorjahren haben die Verantwortlichen das Mittelfeld sträflich vernachlässigt. Im defensiven Mittelfeld fehlt ein Organisator und Stabilisator, im zentralen oder offensiven Mittelfeld fehlt es einerseits an Alternativen zu den sichtlich außer Form geratenen Klaassen und Eggestein, aber andererseits auch massiv an Qualität im Kreativbereich. Osako zeigte zu Saisonbeginn zwar vielversprechende Ansätze, wirkt aber nunmehr seit Monaten überfordert, unkonstant und divenhaft, ohne die nötige Resilienz, die man im Abstiegskampf bräuchte.

Überhaupt ist Resilienz ein passendes Stichwort. Werder, so wirkt es mehr und mehr, scheint mit der bitteren Realität der geplatzten Träume überfordert zu sein. Das ist zwar verständlich und menschlich, wahrscheinlich auch nachvollziehbar für alle, denen das Leben schon anders gespielt hat als erhofft. Es ist verständlich, dass Werder so wirkt als würden sie den besseren Zeiten nachtrauern, den eigenen Wünschen und Hoffnungen und damit hadern, dass sie verloren sind. Es ist nachvollziehbar, dass Werder so wirkt als würden sie noch immer nicht richtig verstehen wie es eigentlich zu diesem Fiasko kommen konnte. Aber es ist auch fatal. Es ist genau das, was schon etliche Male dazu geführt hat, dass Teams, die eigentlich mehr können, zu wenig gezeigt haben – und letztlich abgestiegen sind.

Fight or flight

Werder wurde ausgerechnet dann mit der größten Krise seit Jahren konfrontiert als man sich selbst in Sicherheit wähnte und von schöneren Zeiten träumte. Das schmerzt. Es würde mich nicht wundern, wenn das Team daran noch immer zu knabbern hätte. Doch es führt auch zu einem großen Problem: Werder als Werder, Werder als Team befindet sich aktuell in Gefahr. Der drohende Abstieg ist eine Gefahr. Im Sinne des klassischen „fight or flight“ scheint Werder dafür aber nicht ausreichend gewappnet. Man wirkt aktuell wie ein Team im Fluchtmodus vor der Realität, obwohl man eigentlich kämpfen und sich wehren müsste: Gegen den Abstieg, gegen die gegnerischen Teams, vor allem aber gegen die eigene Angst davor, zu scheitern. Anstatt einer positiven Energie und einer Lust darauf, aus eigener Kraft die Wende zu schaffen, scheint man viel mehr mit sich selbst zu hadern, mit den eigenen Verfehlungen und den geplatzten Träumen und wirkt dadurch beinahe gelähmt und resigniert.

In den vergangenen Jahren konnte man sich stets darauf verlassen, im Zweifel auf die Unterstützung der Fans bauen zu können. Wahrscheinlich wird auch dieses Jahr keine Revolte im Stadion stattfinden, doch ich halte es für naiv, daran zu glauben, es könne eine erneute Aktion wie Allez Grün, Green White Wonderwall oder dergleichen geben oder als wäre die andauernde, bedingungslose Unterstützung der Fans selbstverständlich. Ähnlich wie Werder wirken auch Teile der Fans noch frustriert und desillusioniert. Nach all den Jahren voller Frust hatten auch wir die Hoffnung, endlich wieder nach oben blicken zu können und auch uns fällt es schwer, schon wieder den Schalter umzulegen. Vor allem dann, wenn man sich das aktuelle Team ansieht. Dieses Jahr fühlt sich anders an als die vergangenen Krisen.

Dieses Team fühlt sich anders an. Zuvor wirkte Werder oft spielerisch überfordert, wie ein Team, das auch qualitativ zurecht im Abstiegskampf steckt. Wie ein Team, das vorerst nicht mehr leisten kann, aber stets bereit ist, an die eigenen Grenzen zu gehen. In dieser Saison spielt Werder zwar mittlerweile zweifellos wie ein Absteiger, doch man vermittelt noch immer nicht den Eindruck, das verstanden zu haben, sich auflehnen und wehren zu wollen. Man wirkt überfordert. Es klingt nach Phrasen, doch derzeit scheint es dem Team tatsächlich an der nötigen Einstellung beziehungsweise Widerstandskraft zu mangeln – und das ist etwas, das man Werder in der Vergangenheit selten vorwerfen konnte. 

Dennoch: In den letzten Tagen hat der wunderbare @WorumRondu es sich bei Twitter zur Aufgabe gemacht, unser aller Kampfgeist zu wecken und plädiert mit „#aufwerdern“ für mehr Hoffnung im Abstiegskampf. Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass die Fans sich das zu Herzen nehmen und im Zweifel alles geben werden. Beim Team bin ich mir da aktuell nicht sicher.

Wenn Werder im Abstiegskampf nochmal aufwachen und den Klassenerhalt schaffen möchte, dann ist das größte Problem hierfür deshalb auch nicht das Restprogramm oder die langsam größer werdende Unruhe im Verein und im Umfeld. Das könnte man bewältigen, wenn man daran glauben und das Maximum aus sich herausholen würde. Doch dazu scheint man nicht in der Lage zu sein. Das größte Problem für Werder ist Werder, weil man den Glauben an sich selbst verloren zu haben scheint.

Werder im Fahrstuhl – welche Knöpfe sollte man drücken?

„Hope rises like a phoenix from the ashes of shattered dreams.“

S. A. Sachs

Mittlerweile wäre es naiv, wenn Werder sich nicht mit Planspielen für den Abstiegsfall beschäftigen würde. Kürzlich habe auch ich mich daher damit auseinandergesetzt und versucht, mir selbst und anderen etwas Hoffnung zu vermitteln. So katastrophal der Abstieg aus diversen Gründen wäre, gäbe es meines Erachtens dennoch eine solide Basis, um den sofortigen Wiederaufstieg anzustreben. Dafür wird man sich natürlich von zahlreichen Spielern trennen müssen, weil entweder die Kaufverpflichtungen nicht greifen (Selke, Bittencourt, Toprak – meiner Meinung nach jeweils mehr Segen als Fluch), man die Option nicht ziehen wird (Lang) oder es gar keine gibt (Vogt).

Außerdem wird man, hoffentlich, die auslaufenden Verträge der älteren Spieler, deren Leistungsvermögen mittlerweile fragwürdig ist, nicht verlängern (Piza, Bartels, Sahin, Langkamp). Allein dadurch wird man einerseits für den Sommer bereits einkalkulierte Ausgaben einsparen (siehe Toprak, Bittencourt und Selke) und andererseits den Gehaltsetat spürbar reduzieren können. Das alleine wird aber natürlich die enorme finanzielle Belastung des Abstiegs keinesfalls auffangen können, von der generellen sportlichen Schwächung mal abgesehen. Auch von einigen (vermeintlichen) Leistungsträgern beziehungsweise Stammspielern wird man sich trennen müssen. Ich würde hier für einen drastischen Cut plädieren. Rashica ist der einzige Spieler, den ich wirklich gerne halten würde, aber das wird unmöglich sein. Immerhin wird er hoffentlich hohe Einnahmen generieren können, obwohl ich nicht davon ausgehe, dass man eine Summe in Höhe der kolportierten Ausstiegsklausel von 38 Millionen erzielen könnte. Auch Pavlenkas Vertrag sollte man nicht verlängern und stattdessen einen Verkauf anstreben. Kapino steht bereit, Plogmann könnte gegebenenfalls als Nr. 2 einspringen und auch Zetterer wäre eine Option als Konkurrenz auf Augenhöhe.

(Photo by Thomas F. Starke/Bongarts/Getty Images)

Augustinsson wird wahrscheinlich ebenfalls gehen wollen. Auch das ist etwas schade, aber durch den EM-Faktor wird man hier vielleicht ebenfalls eine ordentliche Summe erzielen können. Zusätzlich dazu würde ich mich auch von mindestens einem aus dem Duo Klaassen/Maxi Eggestein trennen. Wahrscheinlich, gute Angebote vorausgesetzt, von beiden. Klaassen spielt keine besonders gute Saison und vermittelt nicht den Eindruck, wirklich bereit für einen Neuanfang zu sein. Maxi vermittelt das zwar auch eher bedingt, aber bei ihm könnte ich mir aufgrund des gesunkenen Marktwerts und der generellen Nähe zum Verein vorstellen, dass er vorerst bleibt. Von Osako wiederum sollte man sich definitiv trennen, er hat bereits im Abstiegskampf die notwendige Einstellung vermissen lassen und auf seiner Position gibt es mehrere vielversprechende Talente, denen ich in der zweiten Liga lieber die Chance geben würde.

Moisander wird meines Erachtens das eine Jahr noch bleiben (müssen), aber entscheidend wäre das wohl nicht. Hier würde ich ohnehin überlegen, Friedl im Abstiegsfall den Vorzug zu geben, um seine Entwicklung voranzutreiben. Von Vorteil für Werder ist generell, dass unter den verliehenen Spielern gleich mehrere Talente sind, die uns in der 2. Liga auf Anhieb helfen könnten. Schmid und Schmidt könnten bereits in der Spitze zu Verstärkungen werden und Spieler wie Zetterer, Mbom, Osabutey und vielleicht zumindest die Bank auffüllen.

Im Abstiegsfall: Talenten die Chance geben

Auch die anderen vorhandenen Talente könnten in der zweiten Liga helfen, den Investitionsbedarf beispielsweise für die Breite gering zu halten. So hätte man insgesamt die Möglichkeit, gute Einnahmen zu generieren, um das finanzielle Fiasko kurzzeitig kompensieren zu können und gleichzeitig ausreichende Investitionen tätigen zu können, um den sofortigen Wiederaufstieg zumindest anstreben zu können.

Mit Blick auf die vorhandenen Spieler, die man am ehesten und sinnvollsten im Abstiegsfall halten könnte, würde ich dafür folgende Planungsbasis anstreben:

Werder verfügt aktuell über ein solides Fundament an vielversprechenden Talenten. Nicht alle davon wären, selbst im Abstiegsfall, direkt bereit für eine größere Rolle oder einen Stammplatz. Aber Spieler wie Schmidt und Schmid müsste man zwingend einbauen, Sargent und J. Eggestein ebenfalls.

Marco Friedl überzeugt noch nicht vollumfänglich, aber Moisander wird nicht jünger und wenn man Friedl in Liga zwei keine Chance geben sollte, auf welcher Position auch immer, hätte man ihn nie holen dürfen. Hinzu kommt, dass ausgerechnet Friedl sich im Abstiegskampf der letzten Wochen als einer der wenigen Spieler positiv präsentiert hat. Möhwald kennt die Liga, konnte hier bereits auftrumpfen und könnte daher ein Schlüsselspieler werden. Selbiges gilt für Füllkrug, der meiner Meinung nach definitiv bleiben würde.

Mit Agu hat man bereits eine gute Option für die AV-Positionen geholt, aber hier müsste man v. a. auf links zwingend nachlegen. Poznanski und Hackethal könnten für die Bank eine Option werden, aber das wäre – wie auch bspw. bei Philipp oder Gruev – mit einem Risiko verbunden. In der Offensive sollte man dennoch nur nachlegen, wenn man Sargent und Jojo keine Schlüsselrolle zutraut, Woltemade nicht mal eine Bankrolle und Osabutey abgegeben oder taktisch grundsätzlich anders geplant werden soll.

Absolut essenziell für jegliche Wiederaufstiegspläne wäre es die Abwehr (ggf. IV, vor allem AV) und das zentrale/defensive Mittelfeld (DM, absichernde ZM, Kreativspieler) umzugestalten. Mit den Talenten hätte man hier bereits spannende Optionen, aber ein paar Säulen wird es dennoch brauchen.

Es klingt ein bisschen verrückt, aber auf so eine Truppe mit gutem Trainer (Kohfeldt, falls er die Kurve kriegt, sonst auch hier frisches Blut) wäre ich sogar ziemlich gespannt. Der Abstieg wäre für Werder eine Katastrophe, die Gefahr ist riesig und ich sehe „uns“ eher als Hannover/HSV denn als Stuttgart/Köln, aber die Voraussetzungen könnten schlechter sein. Im Abstiegsfall muss unser Motto muss lauten: Mut zeigen, der Jugend vertrauen und dosiert nachlegen. 

Noch ist allerdings Zeit, um dieses Schreckensszenario abzuwenden…

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(Photo by Sebastian Widmann/Bongarts/Getty Images)

Autor: Jonathan Meinecke


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