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Werder-Krise statt Euphorie: Von Traum zu Trauma – Teil I

21. Februar 2020 | Spotlight | BY 90PLUS Redaktion

Wenn Werder dieser Tage den Ball durch die eigenen Reihen laufen lässt, dann fühlt es sich manchmal an, als säße man in einer Bar und würde in der hintersten Reihe jemanden erblicken, der dort leicht trostlos in einer verdunkelten Ecke sitzt, allein, an seinem Bier nippt und mit müden, traurigen Augen ins Nichts starrt. Werder, so scheint es, starrt ins Nichts. Müde, traurig und trostlos. Frustriert, enttäuscht, desillusioniert. Das war nicht immer so. 

Werder: Die Entwicklung wirft Fragen auf

Das Werder vor der Saison 2019/2020 war voller Hoffnung, beinahe euphorisch. Kurz zuvor hatte man die beste Saison seit Jahren gespielt, teilweise überaus ansehnlichen Fußball gezeigt und war in der Liga nur haarscharf an der Qualifikation für die Europa League gescheitert, während im DFB-Pokal beinahe die Überraschung geglückt und Bayern bezwungen worden wäre. Werder unter Kohfeldt, das fühlte sich richtig gut an. Eine talentierte Mannschaft mit tadelloser Einstellung und dem Anspruch, Fußball zu spielen statt nur zu arbeiten. Obendrein vermittelte diese Mannschaft sogar den Anschein, etwas aufbauen zu wollen. Klar, mit Kruse hatte sich der absolute Starspieler verabschiedet, aber andere waren geblieben. Maxi Eggestein zum Beispiel, Rashica und auch der eigentliche Star des Teams: Kohfeldt.

(Photo by Cathrin Mueller/Bongarts/Getty Images)

Eben jener Kohfeldt, der als Trainer mal wieder aus der eigenen Jugend hochzogen wurde, der mal wieder in einer Phase kam, in der Werder nach zuvor guten Ansätzen unter einem neuen Trainer plötzlich einbrach. Kohfeldt, der mit seinem Charme, seiner Eloquenz und seiner Idee von Fußball das verkörperte, wovon Werder und Werders Fans schon lange träumten: Europa. Endlich wieder Flutlicht, endlich wieder klangvolle Namen. Gut, nicht jeder Name in der Europa League ist klangvoll, aber das spielte hier keine Rolle. Werder sehnte sich nach Europa und das galt auch für die Mannschaft. Nur folgerichtig wurde daher vor Saisonbeginn mit breiter Brust betont: Wir wollen nach Europa. 

„Shattered dreams, worthless years,

Here am I encased inside a hollow shell,

Life began, then was done,

Now I stare into a cold and empty well.“

Stevie Wonder

Nicht jeder Traum wird wahr. Viele, wenn nicht die meisten Träume, scheitern. Das ist fast immer schade, aber meistens nicht dramatisch. Werders Traum von Europa ist allerdings nicht nur gescheitert, er droht mit fortschreitendem Saisonverlauf zu einem nicht enden wollenden Albtraum zu werden, als wäre der Traum zum Trauma geworden. Statt um Europa spielt Werder gegen den Abstieg und wirkt dabei, anders als in vergangenen Jahren des Abstiegskampfs, so überfordert wie lange nicht. In nahezu jeder Aktion erkennt man die Verunsicherung.

Jede Bewegung, jeder Pass, jeder Abschluss wirkt kraftlos, verkrampft und verängstigt. Zwischen all den geplatzten Träumen scheint Werder den Boden unter den Füßen verloren zu haben und nicht mehr zu wissen, wo sie selbst Halt finden können. Wie konnte eine Mannschaft, die in der Saison zuvor noch so gefestigt wirkte, phasenweise so ansehnlichen Fußball spielen konnte, so tief fallen?

Bremen: Reha statt „Wolke 7“

Nicht wenige werden sagen: Kruse fehlt. Das ist zumindest faktisch erstmal korrekt, denn Kruse ist weg. Allein an Kruses Fehlen kann man Werders Absturz in dieser Saison allerdings nicht festmachen. So absurd es wirkt, spielerisch habe ich persönlich Kruse erst spät das erste Mal vermisst: Im Heimspiel gegen Paderborn zum Ende der Hinrunde. Bis dahin hatte Werder zwar bereits häufig verloren, selten gewonnen und zweifellos eine schlechte Hinrunde gespielt. Spielerisch wiederum hatte man aber häufiger vielversprechende Ansätze gezeigt, trotz diverser Faktoren, die es einem erschwert hatten. Rückblickend betrachtet gingen Werders Probleme bereits los, bevor die Saison selbst überhaupt angefangen hatte. Schon in der Sommervorbereitung wurde Werder von Verletzungsproblem geplagt.

(Photo by Matthias Hangst/Bongarts/Getty Images)

Mit Langkamp und Veljkovic fielen ausgerechnet die beiden Innenverteidiger, die neben Moisander agieren sollten, frühzeitig und langfristig aus. So schien es, dass Friedl überraschend die Chance bekommen sollte, sich neben Moisander als Innenverteidiger beweisen zu dürfen – bis Augustinsson ausfiel und Friedl auf links aushelfen musste, während plötzlich Christian Groß von der Regionalliga Nord zu den Profis hochgezogen wurde und mit 30 Jahren am später noch folgenden Bundesliga-Debüt schnuppern durfte. Die Verletzungssorgen waren bereits frühzeitig so groß, dass entgegen der ursprünglichen Pläne mit Ömer Toprak noch ein weiterer Innenverteidiger verpflichtet wurde – um sich kurze Zeit später ebenfalls zu verletzen.

Auch weitere Spieler fielen immer wieder verletzt aus, sodass schon in der Vorbereitung kaum ein Training unter ernsten Bedingungen möglich war. Bei all den personellen Sorgen in der Abwehr schien man bei Werder derweil zu vergessen, dass auch im Mittelfeld dringend neues Personal benötigt worden wäre. Einerseits, weil mit Kruse der einzige Kreativspieler gehobener Klasse ersetzt werden musste. Andererseits, weil mit Nuri Sahin, Maxi Eggestein und Davy Klaassen lediglich drei Mittelfeldspieler für das bei Kohfeldt beliebte Dreiergerüst im Mittelfeld zur Verfügung standen, nachdem Bargfrede wie gewohnt und Möhwald überraschend längerfristig ausfiel.

Lazarett statt breiter Kader

Zu Saisonbeginn setzte sich diese Verletztenmisere lange fort: Möhwald, Osako, Rashica, Füllkrug, Augustinsson, Bargfrede, Bartels, Moisander, Toprak, Maxi Eggestein. Alle fehlten sie vorübergehend, teilweise längerfristig, zwischenzeitlich (fast) alle gleichzeitig. Gemessen daran war es wenig verwunderlich, dass Werder gerade defensiv eigentlich seit Saisonbeginn anfällig wirkte.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Die Viererkette wurde nahezu wöchentlich angepasst und immer wieder gab es individuelle Fehler und Aussetzer im Abwehrverbund, die einem das Leben erschwerten. Hinzu kamen teils erhebliche Probleme im Spielaufbau, was angesichts der zwischenzeitlichen Besetzung wenig verwunderlich war. Gepaart mit einer bis heute anhaltenden, eklatanten Schwäche beim Verteidigen von Standards kam Werder daher schon anfangs schlecht in die Saison. Zwischenzeitlich wirkte es nach Siegen gegen Augsburg und Union so als könne man die Kurve kriegen, doch im Anschluss wurde es eigentlich nur schlimmer. Dabei hatte man gerade im ersten Drittel der Saison überwiegend sogar ordentliche Leistungen gezeigt, allen Defiziten und schlechten Ergebnissen zum Trotz.

Man zeigte sich auch ohne Kruse flexibel und kreativ in den eigenen Angriffsmustern, hatte trotz der Ausfälle spannende Varianten im Spielaufbau im Repertoire und wirkte taktisch gewohnt anpassungsfähig, sowohl in der Vorbereitung auf den jeweiligen Gegner als auch im Spielverlauf selbst. Unterm Strich wirkte Werder in der Anfangsphase der Saison daher, trotz zweifellos vorhandener Probleme und der miserablen Punkteausbeute, eher wie ein unglückliches Mittelklasseteam und nicht wie ein Absteiger. Gerade in den Heimspielen gegen Freiburg und Hertha hätte man zweifellos einen Sieg einfahren können, musste sich jedoch beide Male mit einem Unentschieden begnügen. Zwischenzeitlich wirkte Werder wie verflucht: Egal was man auch tat, gewinnen konnte man nicht. Die anfänglichen Träume von Europa verflogen daher schnell, wobei man sich offenbar nur widerwillig davon trennen wollte.

Angst vor der eigenen Courage

Irgendwann wurde auch der öffentliche Ton bei Werder anders. Rückblickend betrachtet schien mit dem verpassten Sieg gegen Freiburg der Glaube ans eigene Spiel verloren gegangen zu sein. Man hatte dort insbesondere in der zweiten Halbzeit gut gespielt und hätte gewinnen können, wenn nicht sogar müssen. Aber offenbar konnte man diesen Rückschlag mit Blick auf das eigene Selbstbild nicht verarbeiten. Nachdem anfangs noch die positiven spielerischen Ansätze gelobt wurden und stets betont wurde, dass man an der eigenen Spielidee festhalten wolle, wurde der Fokus mehr und mehr verschoben und stattdessen Siege eingefordert, egal wie. Man wollte zeigen, dass man die Situation angenommen hat und notfalls auch gegen den Abstieg kämpfen, nicht nur spielen würde.

Gegen Wolfsburg gelang genau das: Man trat von Anfang an auf als wolle man das eigene Glück erzwingen, wehrte sich gegen einen zwischenzeitlich vor allem physisch haushoch überlegenen Gegner und gewann, wenn auch glücklich, endlich wieder ein Spiel. Es sollte ein Wendepunkt werden, ein Startschuss dafür, das Schlimmste hinter sich gelassen zu haben. Eine Woche später wurde allerdings deutlich, dass das Schlimmste noch kommen würde.

Paderborn als Alarmsignal

Ein Heimspiel gegen Paderborn, das bis dato klar schwächste Team der Liga. Natürlich war Paderborn gefährlich, das wusste auch Werder. Nicht umsonst hatten sie vor dem Spiel immer wieder gewarnt: Vor der beeindruckenden Einstellung der Paderborner, die niemals aufgeben würden. Vor deren Tempo und der Stärke im Umschaltspiel, mit der sie selbst Topteams schon vor Probleme stellen konnten. Dennoch war klar, dass dieses Heimspiel für Werder ein Pflichtsieg war, wenn man nun die Wende einleiten, sich unten rausspielen und schnell ins gesicherte Mittelfeld gelangen wollte. All das wusste Werder – und konnte damit offenkundig überhaupt nicht umgehen. Ausgerechnet in diesem so wichtigen Heimspiel, ausgerechnet direkt nach dem vermeintlichen Befreiungsschlag gegen Wolfsburg, wirkte man gegen Paderborn von der ersten Minute an überfordert. Nicht mit dem Gegner, sondern mit sich selbst.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Werder wirkte unsicher, zu sehr auf Sicherheit bedacht, in allen Aspekten des eigenen Spiels fahrig, unkonzentriert und behäbig. Man machte Paderborn das Leben einfach, weil man selbst zu keiner Zeit zum eigenen Spiel finden konnte. So biss man sich an einem Gegner die Zähne aus, der sich dafür gar nicht großartig bemühen musste. Dabei war man gar nicht unbedingt in allen Belangen schlecht, defensiv ließ man – trotz teilweise eklatanter struktureller Defizite – lange Zeit nichts anbrennen. Aber mit fortlaufender Spieldauer wurde man immer hektischer, immer verkrampfter. Dieses Spiel, das wusste Werder, musste man gewinnen. Aber anstatt daraus einen positiven Druck abzuleiten, Durchschlagskraft zu erzeugen und im eigenen Stadion zu zeigen, dass man das eigene Schicksal nun in die Hand nehmen würde, entwickelte man das fußballerische Pendant von Prüfungsangst und verlor letztlich sogar.

In einer Saison voller Tiefschläge, bei der man sich zuvor stets wehrhaft gezeigt hatte, verlor Werder ausgerechnet gegen Paderborn vollkommen den Kopf, wirkte von Anfang an mutlos statt selbstbewusst und verlor, so wirkt es bis heute, den Glauben an sich selbst. In den folgenden Spielen brach man insbesondere gegen Bayern und Mainz vollkommen auseinander, zeigte sich auf ganzer Linie desolat und konnte auch gegen Köln nie den Eindruck vermitteln, gewinnen zu können. Am Ende spielte man die schlechteste Hinrunde der Vereinsgeschichte und statt des Traums von Europa war man nun mitten im überwunden geglaubten Albtraum angekommen: Dem Abstiegskampf.

Der zweite Teil der großen Analyse zur Werder-Krise wird vor allem Fehler der Verantwortlichen, mögliche Lösungen und Ansatzpunkte im Abstiegskampf behandeln…

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(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Jonathan Meinecke


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