Mit einem 4:2-Sieg über Portugal hat sich Deutschland nun ebenfalls und sehr beeindruckend bei dieser EM angemeldet. Die DFB-Elf legte einen teils grandiosen Auftritt hin und damit womöglich den Grundstein für die so sehnlichst herbeigewünschte Euphorie.
Deutschland schlägt Portugal – Plötzlich EM-Euphorie?
„Und die EM-Euphorie in Deutschland beginnt damit in 3, 2, 1 … jetzt“, deklarierte TV-Kommentator Wolf Fuss nach dem Schlusspfiff des Portugal-Spiels. Nun, so schnell wird es mit den großen Emotionen dieses Sports wohl nicht gehen, doch der fulminante 4:2-Sieg der DFB-Elf gegen den amtierenden Europameister hat wohl tatsächlich etwas in der deutschen Heimat losgetreten.

Das lag zum einen sicherlich an dem Ergebnis als solches. Die Portugiesen gewannen die letzte Europameisterschaft im Jahr 2016 und haben sich seitdem qualitativ alles andere als verschlechtert. Christiano Ronaldo, Bruno Fernandes, Bernado Silva, Joao Felix, Diogo Jota, Ruben Dias – die Liste der Weltklassespieler ist lang. Solch ein Team zu schlagen, ist so oder so von großem Gewicht. Es war aber vor allem das Wie, das wohl die Fans in ganz Europa aufhorchen ließ. Deutschland legte am Samstagabend einen herausragenden Auftritt hin – sowohl taktisch als auch individuell. So ist dieses 4:2 der Deutschen mehr als nur ein wichtiger Sieg in der Gruppenphase – es ist ein Statement gewesen.
Nach Frankreich-Pleite: Deutschland schien 2018-Vibes aufzukochen
Dazu muss zunächst die Ausgangslage betrachtet werden. Einer historisch schlechten Weltmeisterschaft im Jahr 2018 folgte ein völlig verschleppter Umbruch, der mehr Fragezeichen aufmachte als Antworten gab. Bundestrainer Joachim Löw (61) schien sich verbraucht zu haben, nahezu jede seiner Entscheidungen wurde öffentlich stark kritisiert. Der Kredit aus der gewonnen WM 2014 hatte sich endgültig aufgebraucht. Löw ließ es in den vergangenen Jahren eindeutig vermissen, eine klare Richtung vorzugeben. Wo soll es mit der DFB-Elf hingehen? Es war ein eigenartiger Mix aus Reaktionärem (die Ausbootung von Hummels, Boateng und Müller) und zu Konservativem (das Festhalten an taktischen Ungereimtheiten). Der Tiefpunkt dieser Entwicklung war das desaströse 0:6 gegen Spanien in der Nations League, knapp vier Monate später gefolgt von einer peinlichen 1:2-Niederlage gegen Nordmazedonien.
Hinzu kamen zahlreiche misslungene Werbe-Kampagnen seitens des DFB, welche die Fans nur noch weiter von sich stießen. Sowohl das Schaffen auf als auch das neben dem Platz ließ eine riesige schwarze Wolke über deutschen Nationalmannschaft aufziehen. Die Vorzeichen für die EM 2021 waren also ausgesprochen negative. Statt Euphorie begleitete „Die Mannschaft“ nur Zweifel, Gleichgültigkeit und teils sogar Häme. Die Fragezeichen wurden ob der Gruppengegner – Frankreich, Portugal und Ungarn – nur noch größer. 2014 noch Weltmeister und 2016 immerhin EM-Halbfinalist, wurde nun gezweifelt, ob Deutschland überhaupt seine Gruppe überstehen würde.

Die Auftakt-Niederlage gegen Frankreich bestätigte diesen Eindruck durchaus. Nun war es keine schlechte Leistung der DFB-Elf, vielmehr eine passable. Doch der Auftritt beim 0:1 wollte noch keinerlei Funken überspringen lassen. Es wirkte einfallslos, fahrig, teils blutleer, was Deutschland zeigte. Das 3-4-3-System offenbarte scheinbar einmal mehr seine Schwächen und dass es nicht für die nominierten Spieler gemacht sei. Zwar hatte Deutschland sehr viel vom Ball, konnte daraus aber keinerlei Kapital schlagen. Der Ballbesitz versandete in regelmäßigen Intervallen, es fehlten Kreativität, Tempo, Tiefe sowie Breite. Die Idee, wie man einen Gegner mit dieser Formation knacken will, war höchstens zu erahnen. Darüber hinaus blieb die defensive Anfälligkeit bei gegnerischen Umschaltaktionen.
Gegen Portugal: Löw dreht an den richtigen Stellschrauben
Trainer und Spieler empfanden den Auftritt gegen Frankreich allerdings als durchaus zufriedenstellend. „Der Mannschaft kann ich keinen Vorwurf machen, wir haben uns in jeden Zweikampf geworfen“, so Löw. „Ich glaube, dass wir relativ viel von dem umgesetzt haben, was wir umsetzen wollten“, erklärte Toni Kroos (31). Viele runzelten mit der Stirn, ob dieses Anspruches an sich selbst. Womöglich wurde die Bewertung auch aufgrund des Prestige des so starken Frankreichs wohlwollend von den Verantwortlichen angepasst. Aber auch Bundestrainer und den Nationalspielern war klar: Gegen Portugal musste eine deutliche Steigerung erfolgen, um einem Sieg nahezukommen.
So war die Verwunderung doch sehr groß, als die Aufstellung für das zweite Gruppenspiel veröffentlicht wurde. Keine Änderungen. Löw vertraute demselben Personal in derselben Anordnung. Bei all den Defiziten, die im Auftaktspiel gezeigt wurden, wirkte die Entscheidung schon beinahe wie ein trotziges „Ich werde euch schon noch zeigen, dass es funktioniert“ seitens Löw. Die Diskussion über das 3-4-3 wird schließlich nicht erst seit Turnierbeginn geführt. Das Festhalten an dieser Formation wurde vor Anpfiff vom Großteil der Öffentlichkeit zumindest äußerst kritisch gesehen.

Doch schon die ersten Minuten präsentierten ein verändertes Deutschland. Von Beginn an wusste die DFB-Elf deutlich mehr mit dem eigenen Ballbesitz anzufangen. Die Raumaufteilung war um ein vielfaches besser als noch gegen Frankreich. Das begann bereits im Spielaufbau, da sich Kroos und Ilkay Gündogan (30) deutlich besser in ihren Bewegungen abstimmten. Die Breite wurde deutlich disziplinierter gehalten – gegen die Franzosen zog es „Die Mannschaft“ unerklärlicherweise noch viel zu oft in die Mitte. Durch zuzüglich mehr Seitenverlagerungen, dem intelligenteren Besetzen der Halbräume und einer der deutlich cleveren Strafraumbesetzung gelang es der Nationalmannschaft, mehr Tiefe zu kreieren und den Gegner aggressiver in dessen eigene Hälfte zu drücken.
EM-Sieg gegen Portugal: Löw wird sich bestätigt fühlen
Durch die starke Anfangsphase ließ sich Deutschland auch nicht vom 0:1-Gegentreffer der Portugiesen aus der Fassung bringen. Man spielte sein Spiel weiter und wurde 20 Minuten später mit dem 1:1-Ausgleich belohnt. Danach spielte sich Deutschland streckenweise in einen Rausch. Mit dem ersten Turniertreffer im Rücken wirkte man deutlich selbstbewusster, der Ball lief nun noch zielgerichteter nach vorne. Man belohnte sich für einen teils herausragenden Auftritt mit einem zwischenzeitlichen 4:1, das letztendlich einem 4:2-Sieg mündete. “Wir sind angekommen”, twitterte Leon Goretzka (26) nach der Partie – zurecht. Es war ein Statement-Sieg, ein „Wir leben noch“.
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Joachim Löw wird sich nach Abpfiff bestätigt gefühlt haben. Nicht alles über den Haufen zu werfen, sondern im Bestehenden nur kleine Anpassungen vorzunehmen, hatte eindeutig gefruchtet. So hatte Deutschland nicht nur auf die Stärken eines zugegebenermaßen schwachen Portugals reagiert, sondern das eigene Spiel dominant durchgebracht. Allen voran die Flügelzange aus Robin Gosens (26) und Joshua Kimmich (26) funktionierte an diesem Samstag hervorragend. Es wirkte alles erstmalig so richtig stimmig. So könnte aus dem zunächst so kritisierten 3-4-3 nun ein deutsches Markenzeichen werden. Einmal ins Rollen gekommen, fand Portugal keine Antwort mehr auf das so breit und dynamisch angelegte Spiel der Deutschen.
Gosens wird zum neuen Deutschland-Fanliebling
Doch neben den taktischen Begründungen für diesen fulminanten Sieg gibt es auch jene auf der individuellen Ebene. Allen voran Robin Gosens steht stellvertretend dafür. Der Atalanta-Profi war an jedem deutschen Treffer beteiligt, einen davon machte er sogar selbst. Fußball-Fans lieben gute Geschichten und das ein Gosens, der solch einen besonderen Karriereweg hinter sich hat, bei dieser EM so auftrumpft ist eine vortreffliche. Sein Eifer, seine Leidenschaft, diese riesige Lust auf dieses Turnier, die der linke Flügelspieler ausstrahlt, schwappt auf Mannschaft wie Fans über. Gosens‘ Freude ist ansteckend. Im Zusammenspiel mit den zurückgekehrten Routiniers Mats Hummels (32) und Thomas Müller (31), die gleichzeitig Leichtigkeit und Ehrgeiz verkörpern, haucht Gosens der vorher so profillosen und ängstlich wirkenden DFB-Elf neuen Charakter ein.

Wie gesagt: Fußball-Fans lieben gute Geschichten. Ein einstiger, zuletzt aber tief gefallener Fußballriese, der ein tiefes Tal durchquerte, hektisch nach einer neuen Identität suchend, und sich nun durch alte wie komplett neue Gesichter neu erfindet – das ist eine gute Geschichte. Es ist eine Erzählung, die durchaus durch ein Turnier tragen und die Fans wieder hinter sich bringen kann. So ist noch (!) keine große EM-Euphorie in Deutschland zu spüren, doch der Anfang dafür ist gemacht.
Marc Schwitzky
Foto: IMAGO