Taktik-Vorschau: Kommt der EM-Titel erstmals nach Hause?
11. Juli 2021 | Vorschau | BY Justin Kraft
Am heutigen Sonntagabend treffen England und Italien im Finale der Europameisterschaft 2020 aufeinander. Man könnte es allein schon deshalb als folgerichtiges Finale bezeichnen, weil sich die beiden Teams messen, die in ihren jeweiligen Kernkompetenzen nicht nur taktisch sehr sauber, sondern auch am effizientesten agieren. Eine Vorschau.
Die Italiener haben nicht nur das erste Spiel bei dieser Europameisterschaft bestritten, sie werden auch das große Finale bestreiten. Bereits nach dem Auftaktspiel gegen die Türkei war vielen klar: Mit der Mannschaft von Roberto Mancini ist zu rechnen. Damals bezeichneten wir die Italiener noch als „großen Favoriten im Schatten Frankreichs“. Heute ist klar: Sie sind der große Favorit. Kein Schatten, kein „Wenn“ und kein „Aber“.
Im Endspiel werden sie sich aber mit den Engländern konfrontiert sehen. Eine Mannschaft, die unter Trainer Gareth Southgate vielerorts unterschätzte Qualitäten im Defensivbereich, bei Umschaltmomenten und bei Standards zu bieten hat und damit durchaus das Rüstzeug mitbringt, um den ersten Titel seit 1966 zu gewinnen.
Die erwarteten Ausrichtungen beider Teams
Italien: Offensivfokus mit guter defensiver Organisation
Die Italiener haben bei dieser Europameisterschaft zumindest jene überrascht, die in den letzten Jahren wenig Länderspielfußball gesehen haben. Seit nun mehr 33 Spielen sind sie ohne Niederlage und das nicht ausschließlich wegen ihrer fast schon traditionell guten Abwehrarbeit. Mancinis Team kann auf ein Fundament aus enormer strategisch-taktischer Qualität und ausgewogener individueller Qualität vertrauen. Der Trainer hat geschafft, eine Grundordnung zu finden, die gut zum Kader und zur gewählten Startformation passt.
Dabei legen die Italiener großen Wert auf die Offensive. Hohes Pressing, intensives Gegenpressing und ein mutiges, aber gut abgestimmtes Positionsspiel, das die gegnerischen Mannschaften unter Druck setzt, sind die Grundpfeiler der taktischen Ausrichtung.
Aus dem 4-3-3 heraus verschiebt die „Squadra Azzurra“ in Ballbesitz in eine dynamische 3-2-5-Formation. Die Viererkette wird beispielsweise in den meisten Fällen zur Dreierkette, indem der Linksverteidiger bis in die Angriffslinie schiebt und der Rechtsverteidiger hinten absichert und den Spielaufbau verstärkt. Davor agieren mit Jorginho und Marco Verratti zwei extrem ballsichere Sechser beziehungsweise Achter, die die Zwischenräume gut bespielen und den Takt vorgeben. Der dritte Mittelfeldspieler Nicolò Barella ist am offensivsten ausgerichtet und agiert mitunter als hängende Spitze. Lorenzo Insigne kann als nominell linker Flügelspieler nach innen ziehen, weil Emerson als Linksverteidiger Breite gibt. Vorne rotieren die Spieler regelmäßig ihre Positionen. Dadurch wird die gegnerische Abwehrkette ständig bewegt und auseinandergezogen. Kaum ein Team öffnet im laufenden Turnier die Zwischenräume so konsequent und effizient wie die Italiener.
Individuell ohne Star, aber mit guter Rollenverteilung
Italien hat trotz guter Einzelspieler keinen herausragenden Star in der Mannschaft. Gerade gegen die Spanier hat man gesehen, dass es bei der individuellen Qualität auf der einen oder anderen Position kleine Unterschiede zu den absoluten Top-Mannschaften gibt. Und trotzdem zählen sie selbst zum Kreis dieser Top-Mannschaften. Weil Mancini seine Einzelspieler nahezu perfekt in sein System integriert hat. Die Stärken der Individualisten werden zum Vorschein gebracht und die Schwächen somit bestmöglich versteckt.
Ein konkretes Beispiel: Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci sind aufgrund ihres Alters nicht mehr die schnellsten Spieler. Trotzdem funktionieren sie in der hohen Grundausrichtung der Mannschaft sehr gut und müssen kaum in riskante Laufduelle gehen. Einerseits hilft ihnen der absichernde Rechtsverteidiger dabei, andererseits ist Italien insgesamt so kompakt und gut organisiert, dass sie gefährliche lange Bälle hinter die eigene Abwehrkette meist schon vorher verteidigt bekommen.
Auch Insigne profitiert enorm von seiner zentralen Einbindung im Team. Dort kann er seine Stärken in engen Räumen mit schnellen und kleinteiligen Aktionen perfekt ausleben. Auf der Außenbahn wäre er vermutlich verschenkt, weil es ihm ein Stück weit an Endgeschwindigkeit fehlt. Im Halbraum aber wird er zur Waffe für die Italiener.
So schlagen sie die Engländer
Gegen Englands tief und kompakt organisierte Verteidigung wird die linke Angriffsseite entscheidend sein. Durch den hoch agierenden linken Verteidiger greifen die Italiener hier besonders gern an. Mitunter überladen sie die linke Spielhälfte sogar mit acht oder neun Feldspielern. Diese Überzahlsituation führt dazu, dass sie sich entweder durch die gegnerische Formation kombinieren, oder mit einer gezielten Verlagerung auf die ballferne Seite einen großen Raum öffnen können.
Denn verschiebt der Gegner ebenfalls auf die überladene linke Seite, ergibt sich rechts viel Wiese für den Flügelspieler. Wenn die Engländer aber eine Defensivschwäche haben, dann ist es die mitunter zu passive Verteidigungsarbeit in den Zwischenräumen. Schaffen es die Italiener, Spieler aus der englischen Abwehrkette zu ziehen und die dadurch entstehenden Räume schnell zu besetzen, könnten sie das Bollwerk geknackt bekommen.
Wichtig wird es für die „Squadra Azzurra“ sein, sich durch gezieltes Freilaufverhalten immer wieder in die Zwischenräume zu bewegen. Das können sie gut und das kann England wehtun, weil sie immer wieder vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie einen Zwischenraum in ihrer jeweiligen Kette öffnen, oder ob sie ihre Position halten, dafür aber zwischen den Ketten vor sich anfällig sind.
England: Defensivfokus mit guten individuellen Offensivmomenten
In solchen Momenten haben die Engländer immer mal wieder kleine Probleme, weil sie die entstehenden Lücken nicht konsequent zuschieben. Trotzdem ist das Kritik auf hohem Niveau, denn davon abgesehen sind sie defensiv sehr gut organisiert. Im Gegensatz zu den Italienern lösen sie das nicht über ein druckvolles Pressing, das es dem Gegner erschwert, kontrolliert hinter die Pressinglinie zu spielen, sondern mit einer schon in Ballbesitz recht risikoarmen Grundausrichtung.
Wie die durchschnittlichen Positionierungs- und Passverbindungsgrafiken der Engländer bei diesem Turnier von „BetweenThePosts“ zeigen, gibt es ein klares Ballbesitzmuster der Southgate-Mannschaft. Die Grundausrichtung wechselten sie dabei flexibel. Mal agierten sie im 4-2-3-1, mal im 4-3-3, gegen Deutschland setzten sie auf ein 3-4-3. In allen Formationen ist der Fokus auf das Flügelspiel aber offensichtlich.
England vermeidet risikoreiche Bälle durch die Spielfeldmitte und besetzt die Zwischenräume im Mittelfeld oft gar nicht. Stattdessen besetzen sie teilweise zu zweit oder sogar zu dritt den Flügel. Verlieren sie dort den Ball, können sie direkt ins Gegenpressing gehen und selbst wenn der Gegner sich befreien kann, droht nur selten Gefahr. Zwei im Schnitt tief positionierte Sechser helfen zusätzlich. Weil die Spieler sich meist nicht zwischen den Linien des Gegners, sondern um dessen Formation herum positionieren, können sie bei Ballverlusten besser absichern.
Das „U“ führt im Spielaufbau aber dazu, dass die Engländer mit dem Ball sehr behäbig agieren. Es gibt zu wenig Variation im Offensivspiel und die Mannschaft ist stark davon abhängig, dass Harry Kane und den technisch hochbegabten Spielern um ihn herum etwas einfällt. Die defensive Stabilität also geht klar zu Lasten des Offensivpotentials, das zweifellos in dieser Mannschaft steckt.
Enorme individuelle Qualität
Aber es funktioniert. Bisher. England reichen 9,5 Abschlüsse pro Spiel (nur vier Teams hatten bei der Euro weniger) für bisher insgesamt zehn Turniertore. Auch dank Harry Kane, der rechtzeitig zur K.-o.-Phase seine Form gefunden hat.
Doch nicht nur in der Offensive, sondern auch im Defensivbereich haben die Engländer eine enorme individuelle Qualität. Harry Maguire, John Stones und Kyle Walker verteidigen mit Auge und physischer Präsenz viele Situationen, in denen ihre Mannschaft gruppentaktisch nicht ganz auf der Höhe ist.
Ein gutes Beispiel dafür sind die wenigen guten Angriffe der deutschen Nationalmannschaft im Achtelfinale. Zwei-, dreimal gelang es der Mannschaft von Joachim Löw, Spieler hinter der englischen Abwehr freizuspielen. Selbst bei der großen Müller-Chance gelang es den Verteidigern aber noch, entscheidend zu stören.
So schlagen sie die Italiener
Zugleich sind solche Situationen aber auch ein Beispiel dafür, dass England defensiv trotz der guten Organisation nicht unantastbar ist. Italien wird die erste Mannschaft im Turnier sein, die die Standfestigkeit des englischen „U“ so richtig auf die Probe stellen wird. Mit 18 Abschlüssen pro Spiel haben sie nach den Spaniern die zweitmeisten bei der gesamten EM.
Für die Engländer wird es neben der Defensivarbeit aber vor allem darauf ankommen, wie und ob sie offensive Entlastungsmomente schaffen und wie viele Standards sie herausholen können. Auch wenn sie deutlich weniger Treffer nach Standardsituationen erzielt haben als noch 2018, so ist weitgehend bekannt, dass die Engländer hier eine besondere Qualität haben.
Vor allem müssen sie aber Tempo in ihre offensiven Umschaltsituationen bekommen. Schaffen sie es, das italienische Pressing schnell und gezielt zu überspielen, haben sie gute Karten auf den Titel. Dabei kann ein Mittel helfen, das sie im Turnierverlauf immer mal wieder angedeutet haben: Chipbälle von außen hinter die gegnerische Abwehr. Hier sind die Italiener mit Bonucci und Chiellini durchaus anfällig.
Fazit
Es ist damit zu rechnen, dass die Italiener, anders als noch gegen Spaniern, die Ballkontrolle nicht nur an sich reißen wollen, sondern ihnen diese sogar in Teilen freiwillig von den Engländern überlassen wird. Das birgt sicher Risiken für die englische Mannschaft: Gerade das im Positionsspiel unterbesetzte Zentrum könnte für Spieler wie Jorginho und Verratti eine Einladung darstellen. Andererseits sind die Italiener mit ihrem risikoreichen 3-2-5 gefragt, die Lücken in der kompakten englischen Defensive zu finden und nicht in Kontersituationen zu laufen.
Die „Squadra Azzurra“ ist leicht favorisiert, weil sie nicht nur defensiv, sondern auch offensiv gut organisiert ist. Sie stellen das insgesamt ausgewogenere und in den Abläufen noch einen Tick besser abgestimmte Team. England sollte aber keinesfalls unterschätzt werden. Sie mögen zwar den deutlich einfacheren Turnierbaum erwischt und offensiv ihre Probleme haben, aber mit ihren Fans im Rücken, einer konzentrierten Defensivleistung und dem Quäntchen Glück könnte der Titel, der noch nie „zuhause“ war, vielleicht „nach Hause“ kommen.
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Autor: Justin Kraft