Der DFB-Kader im Check: Wie nahe ist dieses Aufgebot am Optimum?

5. Juni 2018 | Nationalelf | BY Manuel Behlert

Am gestrigen Montag endete die Deadline, die finalen Kader für die Weltmeisterschaft in Russland stehen fest. Auch der DFB hat seinen 23er-Kader bekannt gegeben – und es gab durchaus Überraschungen. Bundestrainer Joachim Löw legt bekanntermaßen viel Wert auf eine gute Teamchemie und Harmonie im Team, traf dabei bereits in der Vergangenheit die ein oder andere unpopuläre Entscheidung. 

Einige Tage vor Beginn des Turniers analysieren wir den Kader der deutschen Nationalmannschaft und stellen uns die Frage, was der Bundestrainer hätte anders lösen können und welche Möglichkeiten sich mit dieser personellen Zusammensetzung ergeben.

 

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

 

TOR: Neuer-Fitness als Knackpunkt

Nominiert: Manuel Neuer, Marc-Andre ter Stegen, Kevin Trapp

Gestrichen: Bernd Leno

Während der gesamten Saison wurde um Torhüter Manuel Neuer gezittert. Nach seinem 3. Mittelfußbruch absolvierte Neuer seit September kein Pflichtspiel mehr für den FC Bayern und die Meldungen, wonach der 32-jährige sich „voll im Plan“ befinde und definitiv noch für den Verein zum Einsatz kommen würde, sollten immer mehr von einer nachvollziehbaren Skepsis begleitet werden. Kurz vor der Kadernominierung war dann klar: Neuer fährt mit in das Trainingslager. Und Neuer kann wieder all das machen, was ein Torhüter machen muss. Die Härtetests wurden bestanden, die neu angesetzte Untersuchung ergab keine Auffälligkeiten. Was positiv für Neuer ist, dürfte Marc-Andre der Stegen nicht besonders erfreuen.

Der Torhüter des FC Barcelona hat nämlich eine herausragende Saison hinter sich, gehört zu den absoluten Toptorhütern auf diesem Planeten und hatte sich bereits gute Chancen auf den Status der Nummer 1 im DFB-Tor ausgemalt. Joachim Löw stellte zuletzt klar, dass Neuer als Nummer 1 in das Turnier gehen wird, was zumindest nicht bei allen Anhängern der DFB-Elf für die allergrößte Euphorie sorgte. Wie fit Manuel Neuer wirklich ist, das kann der Bundestrainer in Absprache mit dem Trainer- und Ärzteteam am Besten einschätzen, es bleibt allerdings die Frage, ob die lange Zeit ohne Spielpraxis vielleicht dafür sorgt, dass die letzten, möglicherweise entscheidenden Prozentpunkte fehlen. Allerdings ist bis zu den wichtigen K.O.-Spielen noch etwas Zeit, Neuer kann weiter zu seinem Rhythmus finden und sich Selbstvertrauen holen.

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Mit Marc-Andre ter Stegen als Nummer 1 in das Turnier zu gehen wäre kein Risiko gewesen, Löw vertraut aber auf die Ausstrahlung eines Manuel Neuer und darauf, dass er seine Topleistungen abruft. Das kann man kritisieren und das wird dem Bundestrainer sicher auch vorgehalten werden, wenn Neuer Unsicherheiten zeigt und eventuell sogar einen spielentscheidenden Fehler einstreut, aber dass ein Manuel Neuer in Topform der wohl beste Torhüter der Welt ist, wird kaum jemand abstreiten. Die Nominierung von Kevin Trapp als Nummer 3 ist hingegen eine relativ logische. Der 3. Torhüter kommt für gewöhnlich nicht zum Einsatz, soll das Klima in der Mannschaft positiv beleben und ist für die Teamchemie wichtig. Dass Löw für eben jene Dinge ein Händchen hat, ist bekannt. Zudem steht Kevin Trapp – im Gegensatz zu Konkurrent Leno – nicht unter dem „Druck“ verhältnismäßig schnell einen Vereinswechsel voranzutreiben.

 

ABWEHR: Bayern-Block und Flexibilität

Nominiert: Joshua Kimmich, Niklas Süle, Jerome Boateng, Mats Hummels, Antonio Rüdiger, Mathias Ginter, Jonas Hector, Marvin Plattenhardt

Gestrichen: Jonathan Tah

Die wenigsten Fragezeichen vor dem Turnier gab es in der Verteidigung. Joachim Löw legte sich früh auf Jonas Hector als Linksverteidiger fest, auch dessen Backup Marvin Plattenhardt hatte zumindest den Platz im vorläufigen Kader sicher, auch wenn Philipp Max beispielsweise durch hervorragende Leistungen auf sich aufmerksam machen konnte. Auf der rechten Seite ist Joshua Kimmich logischerweise gesetzt. Der 23-jährige spielt sein 2. Turnier als Stammspieler, hat gerade in dieser Saison viele wertvolle Erfahrungen sammeln können und sich noch einmal weiterentwickelt. Sein Offensivdrang ist beeindruckend, seine Mentalität vorbildlich, ihm fehlt lediglich noch der letzte Schritt Konstanz im Defensivverhalten, den er nur dann gehen kann, wenn er häufig gefordert wird, sich mit den besten Spielern messen kann. Somit sind die wichtigsten Fragen auf den Außenverteidigerpositionen geklärt.

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Die auch im Verein eingespielte Innenverteidigung aus Mats Hummels und Jerome Boateng wird auch bei der Weltmeisterschaft zum Einsatz kommen. Zwar fehlte Boateng am Saisonende verletzungsbedingt, aber bereits jetzt kann er wieder am Mannschaftstraining teilnehmen und wird im Laufe der Gruppenphase aller Voraussicht nach wieder bei 100 % sein. Ebenfalls wichtig: Ersatzmann Niklas Süle spielt auch beim FC Bayern, ist mit beiden gut abgestimmt. Bereits bei der WM 2014 bildeten Hummels und Boateng in den meisten Spielen ein sehr starkes, schwer zu überwindendes Bollwerk, zudem sind beide bei Offensivstandards gefährlich und in der Regel nicht der Typ Spieler, der sich viele gelbe Karten einhandelt.

Als Ersatz stehen neben Süle noch Antonio Rüdiger und Mathias Ginter im Aufgebot. Beide Spieler sind deswegen nominiert worden, weil sie notfalls auch auf der Außenverteidigerposition eingesetzt werden können. Das dürfte ihr Vorteil gegenüber Jonathan Tah sein, der bei normaler Entwicklung aber natürlich eine Zukunft in der Nationalmannschaft hat. Gerade Ginter zeigte sich schon 2014 als Teamplayer, der sich ohne zu murren auf die Bank setzt. Die Mischung in der Innenverteidigung stimmt also, hier sind alle Nominierungen soweit nachvollziehbar.

 

Mittelfeld und Angriff: Mutmacher und Fragezeichen

Nominiert: Sebastian Rudy, Sami Khedira, Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Leon Goretzka, Julian Draxler, Julian Brandt, Mesut Özil, Marco Reus, Thomas Müller, Timo Werner, Mario Gomez

Gestrichen: Leroy Sané und Nils Petersen

Das Angebot der deutschen Nationalmannschaft im Mittelfeld und im Angriff ist groß, sehr groß sogar. Sich hier für eine ideale Zusammensetzung zu entscheiden ist schwer, hier treten die meisten potenziellen Reibungspunkte auf. Das merkte Joachim Löw bereits als er Sandro Wagner nicht für den vorläufigen Kader nominierte und stattdessen Nils Petersen berief. Und das merkt man, wenn man aufzählt, welche Spieler überhaupt nicht für das Turnier in Frage kamen, sei es wegen Verletzungen, einer unkonstanten Saison oder eben anderen hervorragenden Spielern auf dieser Position: Julian Weigl, Emre Can, Serge Gnabry, Kevin Volland, Mario Götze und Lars Bender sind nur einige dieser Kandidaten.

Im Mittelfeldzentrum ist die Besetzung relativ klar: Toni Kroos ist einer der besten zentralen Mittelfeldspieler der Welt, gewann gerade als Stammspieler von Real Madrid zum dritten Mal in Folge die Champions League. Sami Khedira bringt eine immense Erfahrung mit, könnte womöglich sein letztes großes Turnier in einer wichtigen Rolle spielen um dann Platz für Spieler wie Leon Goretzka oder Ilkay Gündogan zu machen, die dahinter bereits mit den Hufen scharren. Auch hier kann Joachim Löw verschiedene Variationen auf das Feld schicken, Dominanz und Dynamik kreieren. Der 5. Mann für diese Position ist Sebastian Rudy, der zudem auch als Außenverteidiger auflaufen kann. Seine Nominierung kam nach der schwierigen Saison etwas überraschend, Rudy profitierte auch davon, dass Emre Can zuletzt längerfristig verletzt ausgefallen ist.

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

In der Offensive vermisst man vor allem einen Namen: Leroy Sané. Es mag viele verschiedene Ansatzpunkte geben, warum dieser Spieler nicht nominiert wurde, darunter seine bisher unglücklichen Leistungen in der Nationalmannschaft und die Tatsache, dass er seine Stärken im jetzigen Spiel der DFB-Elf nicht über 90 Minuten ausspielen kann. Aber: Ein Spielertyp wie Leroy Sané, der auch als Joker einen entsprechenden Einfluss auf ein Spiel haben kann und die gerade bei einem Rückstand notwendigen direkten Duelle gewinnen kann, ist möglicherweise überlebenswichtig. Löw plant in der Zukunft mit Sané und wird das Spiel wohl auch sukzessive umstellen (müssen), dennoch hätte Sané für die besonderen Momente sorgen können.

Müller, Werner und der Faktor Reus

Bei Weltmeisterschaften funktionierte Thomas Müller bisher immer – und auch in dieser Saison war ein Formanstieg zu erkennen, je näher das Turnier rückte. Müller muss in der Nationalmannschaft überwiegend auf der rechten Seite auflaufen, wodurch auf den Flügeln etwas Tempo fehlt. Mesut Özil ist im Zentrum gesetzt, Timo Werner wird im Sturm beginnen. Der junge, schnelle Stürmer von RB Leipzig zeigte in der vergangenen Saison im Europapokal seine Klasse, muss sein Tempo gewinnbringend einsetzen und versuchen die notwendige Effizienz an den Tag zu legen, denn allzu viele Chancen wird er bei einem großen Turnier nicht bekommen. Werner muss sich also von seiner besten Seite zeigen. Als Alternative ist Mario Gomez mitgereist, der vor allem im Strafraum oftmals instinktiv richtig handelt, vor dem Tor weiterhin in der Lage ist die Chancen eiskalt zu versenken.

Sieht man Müller, Özil und Werner als gesetzt an, dann bleibt die Frage, ob Marco Reus oder Julian Draxler den verbleibenden Platz besetzen werden. Julian Brandt gilt als offensiver Backup, Reus ist ein dynamischer Spieler, der den Abschluss sucht und eine immense individuelle Qualität mitbringt, während Draxler eher im kombinativen/kreativen Bereich seine Stärken hat.  Beide Spieler haben Argumente auf ihrer Seite, Reus spielte eine gute Rückrunde, Draxler saß häufiger auf der Bank, aber im Endeffekt wird es wohl auch von den Trainingseindrücken und nicht zuletzt vom jeweiligen Gegner abhängen, welcher Spieler den Vorzug erhält.

Gesamtfazit: Sehr gut, aber…

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Der deutsche 23-Mann-Kader ist auf vielen Positionen fantastisch besetzt, aber es gibt vor dem Turnierstart noch einige Fragezeichen. Erreichen alle Spieler ihre Topform und bleibt die DFB-Elf im Turnierverlauf von Verletzungen verschont, dann kann dieser Kader viel erreichen. Aber sollten zuvor angeschlagene Spieler wie Neuer oder Boateng Rückschläge erleiden, ein Draxler, Hector oder Werner kleinere Konstanzdellen hinnehmen müssen, wird es schwer. Joachim Löw muss diese 23 Spieler in der Vorbereitung zu einer eingeschworenen Einheit formen, wie es auch 2014 der Fall war, dann sind die Vorzeichen zumindest gut. Ob es reicht um den Weltmeistertitel zu verteidigen, das bleibt abzuwarten, dafür spielen Faktoren wie Glück oder Tagesform eine zu große Rolle. Eine gewisse Skepsis ist aber erlaubt, denn eine Titelverteidigung gelang seit 1962 (Brasilien) keiner Nation mehr.

90Plus-Startelftipp für das Spiel gegen Mexiko

Neuer

Kimmich Boateng Hummels Hector

Kroos Khedira

Müller Özil Reus

Werner

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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