WM 2022 | Marokko vor dem Achtelfinale: Warum nicht auch Spanien schlagen?

6. Dezember 2022 | WM-Spotlight | BY Manuel Behlert

Vor der WM 2022 waren sich die Experten uneinig, was die Nationalmannschaft Marokkos angeht. Die Gruppe mit Kroatien, Belgien und Kanada war eine sehr ausgeglichene und die Nordafrikaner waren zumindest nicht der Topfavorit auf den Einzug in die K.O.-Runde. 

Doch Marokko setzte sich durch. Nicht glücklich, nicht knapp, sondern als Gruppensieger vor den beiden Teams aus Europa. Zweifelsohne erreichte Belgien nicht das eigene Leistungslimit, das ist aber nicht Marokko, sondern einzig und allein Belgien selbst vorzuwerfen. Und so wartet nun der Gruppenzweite aus der Deutschlandgruppe auf das Team von Trainer Walid Regragui (47): Spanien.

Marokko überzeugt in starker Gruppe

Belgien, Kanada, Marokko, Kroatien: Diese Gruppe galt bei der WM 2022 als sehr ausgeglichen, zumal Kanada gleich zum Start gegen Belgien zeigte, wie unangenehm es sein kann. Kroatien stand bei der letzten Weltmeisterschaft im Endspiel, Belgien wurde Dritter. Marokko war im Vergleich dazu eher ein Außenseiter, allerdings wusste der Kader vor dem Turnier durchaus zu gefallen. Bono (31, Sevilla), Nayef Aguerd (26, West Ham), Achraf Hakimi (24, PSG), Noussair Mazraoui (25, FC Bayern), Sofyan Amrabat (26, Fiorentina), Hakim Ziyech (29, Chelsea) oder Youssef En-Nesyri (25, Sevilla) spielen allesamt bei bekannten Klubs, hinzu kamen Geheimtipps wie Ilias Chair (25, QPR) oder Bilal El Khannouss (18, Genk). 



Das Auftaktspiel sollte ein Schlüsselspiel werden. Gegen Kroatien verteidigte Marokko sehr diszipliniert und zeigte, dass sich die Mannschaft in der kurzen Vorbereitungszeit gefunden hat. Die Abläufe passten, der Zusammenhalt war groß. In den letzten Jahren galt das nicht immer, die marokkanische Auswahl schaffte es nur unregelmäßig, das große Potenzial auszuschöpfen. Eine Wandlung war vor dem Turnier schon erkennbar, die Frage war nur, ob es auch gelingt, von Anfang an auf dem Platz zu performen. Die Kroaten bissen sich die Zähne an disziplinierten Marokkanern aus. Und: Nach vorne setzte das Regragui-Team mehr als nur Nadelstiche.

Am zweiten Spieltag stand die Partie gegen Belgien auf dem Programm. Die Nordafrikaner benötigten ein Remis, um am letzten Spieltag noch gute Chancen auf das Weiterkommen zu haben. Das Team wollte aber gar nicht verhalten spielen und sich auf die Neutralisierung belgischer Angriffe beschränken. Marokko bestimmte die Partie in einigen Phasen, zwang den Europäern das eigene Spiel auf. Das Team wurde dafür belohnt, Romain Saiss (32) und Zakaria Aboukhlal (22) erzielten die beiden Treffer zum 2:0-Erfolg. Gegen Kanada im abschließenden Spiel tat sich Marokko dann in einigen Phasen etwas schwer, gewann aber wieder, diesmal mit 2:1. Das bedeutete den Gruppensieg, die „Belohnung“ war das Spiel gegen Spanien.

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Marokko: Spanien ist nicht unschlagbar

Wenn eine Mannschaft in einer guten Gruppe sieben Punkte holt, dann wächst das Selbstvertrauen. Die Stimmung im Team ist besser als vor dem Turnier und nicht selten sind es Schlüsselmomente wie der Sieg gegen Belgien, die dafür sorgen, dass sich eine Euphorie durch ein gesamtes Turnier zieht. Nicht falsch verstehen, Marokko ist nicht der ganz krasse Außenseiter gegen Spanien, kann individuell hier und da sehr gut mithalten. Dass Spanien den Anspruch hat, häufiger den Ball zu haben und auch in der Lage ist, das Spiel zu bestimmen, weiß auch der Gegner. Und wird sich darauf einstellen.

Zumal Spanien bisher auch nicht den Eindruck gemacht hat, unverwundbar zu sein. Gegen Costa Rica lief alles nach Plan, die Effizienz war hoch. Gegen Deutschland gab es gute und schwächere Phasen, die Niederlage gegen Japan warf dann doch einige Fragen auf. Wie gut Spanien wirklich ist, zeigt sich also erst in der K.O.-Runde. Wenn der Außenseiter eine große Chance hat, dann die möglicherweise fehlende Klarheit der Spanier, was das eigene Leistungsvermögen angeht. Tritt Marokko von Anfang an selbstbewusst und aggressiv auf, kann das Spanien nachhaltig beeinflussen. Und das taten die Nordafrikaner bisher in jedem Spiel dieser Weltmeisterschaft.

Marokko

(Photo by Matthias Hangst/Getty Images)

Das 4-3-3-System der Marokkaner ist zudem prädestiniert dafür, der spanischen Mannschaft Paroli zu bieten. Mit einem hohen Laufaufwand kann es gelingen, Ballverluste zu erzwingen und schnell umzuschalten. Es ist von Vorteil, dass das System der Spanier schon automatisch kopiert wird, ohne irgendeine Anpassung vornehmen zu müssen. Technisch ist Marokko gut, Spanien insgesamt besser, das ist nicht anzuzweifeln. Aber mit einer klaren Struktur, einer guten Ordnung, Kompaktheit und Nadelstichen mit und ohne Ball können die Iberer gefordert werden.

Die Schlüsselspieler müssen performen

Dem „Herausforderer“ muss es also gelingen, von der ersten Minute an den Eindruck zu erwecken, an diesem Tag als Sieger vom Platz gehen zu wollen und alles dafür in die Waagschale zu werfen. Spanien darf zu keiner Zeit das Gefühl erhalten, die komplette Kontrolle zu haben. Extrem wichtig wird sein, dass die Achse der Schlüsselspieler bei Marokko ihren Teil dazu beiträgt, dass die gesamte Mannschaft ihr bestmögliches Niveau erreicht. Angefangen bei Torhüter Bono, der auf der Linie seine Qualitäten hat und die Spanier zur Verzweiflung bringen könnte.

Die Innenverteidigung bestehend aus Aguerd und Saiss muss sehr wachsam sein, für die Außenverteidiger Hakimi und Mazraoui ist es wichtig, sowohl offensiv anzuschieben als auch defensiv für die Balance zu sorgen. Mittelfeldspieler Amrabat, in der Gruppenphase für die Organisation zuständig, muss seine Defensivaufgaben erfüllen. Das würde den anderen Mittelfeldspielern wieder Freiräume bringen. Enorm wichtig ist auch Ziyech, der Kreativität, Entlastung und die Ballbehauptung in der Offensive vereinen muss. Greift eines der Rädchen nicht ineinander, dann ist Spanien eines der Teams, das diese Angebote ausnutzt. 

Es stellen sich also einige essenzielle Fragen. Kann Spanien über 90 Minuten auf höchstem Niveau spielen? Und wenn ja, findet Marokko die Mittel, um die eigene individuelle Unterlegenheit zu kaschieren? Die Eindrücke aus der Gruppenphase zeigen, dass es die Nordafrikaner schaffen können, jeden Gegner vor Probleme zu stellen. Und den Druck haben wie bereits angedeutet die Iberer. Die Vorzeichen für eine weitere Überraschung könnten in jedem Fall deutlich schlechter stehen.

(Photo by FADEL SENNA/AFP via Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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