WM 2022 | Südamerikaner in Topform, Deutschland hofft auf den Bayern-Block, Frankreich als großes Fragezeichen – Der Favoritencheck zum Turnier

15. November 2022 | WM-Spotlight | BY Victor Catalina

Spotlight | Diesen Sonntag ist Anpfiff zur Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Vor dem Turnier blicken wir auf die größten Favoriten.

Argentinien: Starke Einzelspieler – und ein noch stärkeres Team

„Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir nach der 0:2-Niederlage gegen Korea in unserer Kabine saßen“, schreibt Joshua Kimmich in einem Stück für The Players‘ Tribune. „Völlige Stille. Keiner hat auch nur ein Wort gesagt. Ich vergrub den Kopf in meinen Händen und dachte darüber nach, wie ich die Fans, meine Familie und das ganze Land enttäuscht hatte. Joachim Löw sprach zu uns, aber ich konnte das gar nicht im Bewusstsein wahrnehmen. Ich fühlte mich wie ein Zombie und verkroch mich in meiner Enttäuschung.

Gruppenletzter.

Deutschland!

Oha.“

Für den Weltmeister von 2014 endete das vergangene Turnier in einem Desaster. Den Finalisten erwischte es nur bedingt besser. Nach einem 1:1 gegen Island und der 0:3-Demontage im Duell mit Kroatien besiegte Argentinien Nigeria mühevoll dank eines späten Treffers von Marcos Rojo 2:1. Das Achtelfinale war gebucht, die absolute Blamage verhindert, gerade so. Fünf Zähler betrug Argentiniens Rückstand auf den verlustpunktfreien Gruppensieger Kroatien.

 



 

In jenem Achtelfinale war für die Albiceleste, trotz eigener Führung, schon wieder Schluss. Frankreich setzte sich in einer höchst unterhaltsamen Partie letztlich verdient 4:3 durch. Knackpunkt waren die elf Minuten zwischen der 57′ und 68′, in denen der spätere Weltmeister aus einem 1:2 ein 4:2 machte. Womit man beim nächsten Punkt ankäme, den Kimmich ansprach:

„Wir hatten starke Einzelspieler, aber kein starkes Team. Auf diesem Level reicht es nicht aus, wenn es heißt: ‚Oh, dieser Spieler ist talentiert … und der hat die Champions League gewonnen … und die haben beim letzten Mal den WM-Pokal in die Höhe gestemmt.‘ Es muss einfach alles passen. Das war 2018 nicht der Fall.“

Nicht für Deutschland – und auch nicht für Argentinien. Zu oft in den letzten Turnieren verließ man sich entweder auf seinen Genius mit der Nummer 10 oder andere fraglos höchstbegabte Angreifer. Allein bei der Niederlage gegen Frankreich standen neben Messi noch Ángel di María, Sergio Agüero, Paulo Dybala sowie Gonzalo Higuaín im Kader. Allein, Argentinien war keine Mannschaft. 

WM 2022 Argentinien

Photo by Buda Mendes/Getty Images

Da alle namhaften argentinischen Trainer für die Nachfolge Jorge Sampaolis absagten, so berichtet der Kicker, bekam ein relativ unscheinbarer Name den Zuschlag: Lionel Scaloni, 2018 noch Co-Trainer. Fun fact: 2006 standen Scaloni und Messi noch zusammen in Argentiniens WM-Kader. Dort – und natürlich bei dem Vornamen – enden allerdings nicht die Gemeinsamkeiten. Beide stammen gebürtig aus Rosario und begannen einst ihre Karriere bei Newell’s Old Boys.

In der Heimat sorgte die Entscheidung, Scaloni zum Trainer zu machen, für viel Unverständnis. Nach einem verkorksten Turnier setzte man nun auf einen Rookie!? Kann ja nur schiefgehen. Wobei das lediglich die halbe Wahrheit ist. Jener „Rookie“ wird assistiert von Roberto Ayala, der Argentinien 2006 gegen Deutschland in Führung köpfte, Walter Samuel, 2010 Champions-League-Sieger mit Inter Milan und Pablo Aimar, auch bekannt als El idolo de Messi. Sogar César Luis Menotti, Weltmeistertrainer von 1978, band man im zarten Alter von 84 Jahren als AFA-Generaldirektor für die Nationalteams ein.

Schon war das Allerwichtigste wieder vorhanden: Eine interne Hierarchie. Die Erfahrenen geben ihr Wissen an die aktuelle Generation weiter. Das, in Tateinheit mit dem taktischen Know-How Scalonis funktionierte wiederum sehr gut. Mit Emiliano Martínez hat Argentinien den langfristigen Nachfolger Sergio Romeros gefunden. Nicolás Otamendi ist der unumstrittene Abwehrchef, an dem sich Cristian Romero orientieren kann. Davor ziehen Rodrigo de Paul und Leandro Paredes im Mittelfeld die Fäden, sodass man, darauf basierend, die Offensive um Lionel Messi und Lautaro Martínez von der Leine lassen kann. Spätestens als diese Mannschaft, von dort an bekannt als La Scaloneta, vergangenes Jahr die Copa America gewann, Argentiniens ersten Titel seit 1993, bestanden auch an der Eignung Lionel Scalonis keine Zweifel mehr. 35 Pflichtspiele in Folge ist Argentinien inzwischen ungeschlagen. Die letzte Niederlage datiert vom 3. Juli 2019, ein 0:2 gegen Brasilien im Halbfinale der Copa America. Zu diesem Zeitpunkt war Joshua Kimmich übrigens noch Rechtsverteidiger.

Brasilien: Mehr als Neymar

Jenen 2:0-Sieg feierte Brasilien im Estádio Mineirão. Ein Name, bei dem bei jedem, der es mit der Selecão hält, noch immer dezent das Zählen anfängt. Um, dois, três, quatro, cinco, seis, sete a um. Bei der Mannschaft allerdings ist das längst kein Thema mehr. Auch die zweite südamerikanische Großmacht, der Rekordtitelträger, ist rechtzeitig zur Weltmeisterschaft in absoluter Topform. Seit dem 1:2 gegen Belgien im Viertelfinale des vergangenen Turniers gewann Brasilien 37 von 50 Spielen bei einer Tordifferenz von 111:19 und holte in der Qualifikation 45 Zähler aus 17 Partien, ein neuer Rekord.

Daher sind die Erwartungen im eigenen Land gigantisch. Nach vier Weltmeisterschaften mit vier verschiedenen europäischen Siegern will man nun seine Vormachtstellung im Wettbewerb mit dem sechsten Stern auf dem Trikot untermauern.

WM 2022 Brasilien

Photo by ANNE-CHRISTINE POUJOULAT/AFP via Getty Images

Wie auch die Argentinier kommt Brasilien extrem über die mannschaftliche Geschlossenheit, verfügt mit Marquinhos und Thiago Silva im Defensivzentrum sowie Casemiro vor ihnen über Führungsqualitäten im Überfluss. Diese konnte bei der Nationalmannschaft auch Neymar aufweisen, der bei der Integration von jüngeren Spielern, wie Vinícius Júnior oder Rodrygo eine tragende Rolle gespielt haben soll. Ansonsten verfügt Tite noch über Spieler wie Lucas Paquetà oder Raphinha für die Offensive, was Neymar mehr Freiheiten im offensiven Mittelfeld gibt. Zentral in der Angriffsreihe des brasilianischen 4-3-3 etablierte sich zuletzt Richarlison. Tottenhams Stürmer gelangen sieben Tore in den letzten sieben Pflichtspielen.

Dazu kommt noch die Tatsache, dass es für den mittlerweile 61-jährigen und innerhalb des Teams hochrespektierten Tite das letzte Turnier in Amt und Würden sein will, was er seit längerer Zeit angekündigt hatte. Die Mannschaft wird also versuchen, das Turnier auch für ihn zu gewinnen.

Eklatante Schwächen hat diese Mannschaft nicht. Selbst die Tatsache, dass dem Team hochklassige, offensive Außenverteidiger fehlen, löst Tite dadurch, dass sie guardiolesk ins Mittelfeld rücken. Wenn man überhaupt etwas anmerken will, dann, dass sie seit dem Viertelfinalaus 2018 nicht mehr auf einen Europäischen Gegner getroffen sind und dort ein Stück weit die Standortbestimmung fehlt. Aber das soll der Favoritenrolle keinen Abbruch tun.

Deutschland: Führt Flick das DFB-Team zu altem Glanz?

Ein viermaliger Weltmeister sollte schon allein qua Selbstverständnis in diese Liste gehören. Das Turnier 2018 sowie die Europameisterschaft 2020 endeten für das DFB-Team jeweils in einem mittelschweren Desaster. Nicht zuletzt deshalb luchste der DFB dem FC Bayern Hansi Flick ab. Beim Champions-League-Sieg des Rekordmeisters vor zwei Jahren fiel Flick dadurch auf, dass er sein Team für ein K.O.-Turnier auf den Punkt genau eingestellt hat. Weder der FC Barcelona (2:8), noch Olympique Lyonnais (0:3) oder Paris Saint-Germain (0:1) wussten die rote Dampfwalze zu stoppen. Die Münchener agierten als Einheit auf das gemeinsame, große Ziel hin. Ach ja: weltmeisterliche Vergangenheit hat Flick auch noch.

WM 2022 Deutschland

Photo by Alexander Hassenstein/Getty Images

Dahingehend stimmen die Vorzeichen also. Sorgen bereiten eher die jüngsten Auftritte gegen Ungarn (0:1) sowie England (3:3), in denen sich das DFB-Team offensiv schwertat und defensiv immer wieder Konterangebote machte. Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch, dass der, in der Nationalmannschaft naturgemäß stark vertretene Bayern-Block damals sein viertes siegloses Bundesligaspiel in Folge hinnehmen musste. Diesmal kommen die Akteure des Rekordmeisters mit dem Rückenwind von zehn Pflichtspielsiegen in Folge. Es wäre vielleicht einen Gedanken wert, auf der Arbeit von Julian Nagelsmann aufzubauen, die bislang 82 Pflichtspieltore einbrachte, die mit Abstand meisten in den europäischen Top-5-Ligen und 25 mehr als beim zweitplatzierten Paris Saint-Germain. Aus der Liste der Toptorschützen sind einzig Eric Maxim Choupo-Moting sowie Sadio Mané keine deutschen Nationalspieler.

Die einzige wirkliche Problemzone sind die Außenverteidiger. Dort gilt es für Flick noch, aus dem Pool Thilo Kehrer, Christian Günter, Lukas Klostermann oder auch Niklas Süle die richtige Mischung zu finden. Talent hat die Mannschaft zweifellos. Nun gilt es, bei der Weltmeisterschaft zur alten Selbstverständlichkeit zurückzufinden. Zur jener Selbstverständlichkeit, die bei allen sechs Turnieren zwischen 2006 und 2016 mindestens das Halbfinale einbrachte. Das heißt, dass auch für Flick die Trauben sehr hoch hängen. Seine beiden Vorgänger Jürgen Klinsmann (WM-Halbfinale 2006) und Joachim Löw (EM-Finale 2008) haben bei ihrem ersten großen Turnier jeweils geliefert.

Niederlande: van Gaals nächster Geniestreich?

Das taten die Niederlande bei ihrer letzten Weltmeisterschaft 2014 mit Platz 3 ebenfalls. Gleich im ersten Gruppenspiel deklassierte man den Europa-Welt-Europameister Spanien 5:1 und scheiterte erst im Halbfinale nach torlosen 120 Minuten 2:4 im Elfmeterschießen an Argentinien.

Die vier Gründe für das gute Abschneiden von damals und die niederländische Hoffnung im Jahr 2022 lauten Aloysius, Paulus, Maria und van Gaal. Nach der enttäuschenden Europameisterschaft im Vorjahr, mit Aus gegen Tschechien im Viertelfinale (0:2) übernahm er als großer Retter vom zurückgetretenen Frank de Boer und brachte die Mannschaft per sofort wieder auf Kurs. Über die letzten Monate hinweg machte van Gaal vor allem Formstärke zum obersten Kriterium und schreckt dabei auch nicht vor Entscheidungen zurück, die für die Öffentlichkeit auf den ersten Blick eher unverständlich wirken. So listete beispielsweise der Kicker Mark Flekken und Jesper Cillessen als Optionen fürs Tor, van Gaal hingegen berief Justin Bijlow (Feyenoord), Remko Pasveer (Ajax) sowie Andries Noppert (SC Heerenveen) in den WM-Kader. Auch Arnaut Danjuma, der letzte Saison im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League für Villarreal gegen den FC Bayern das Siegtor erzielte, oder Ryan Gravenberch sucht man vergeblich.

WM 2022 Niederlande

Photo by JOHN THYS/afp/AFP via Getty Images

Das System van Gaals ist nicht von Namen abhängig. 2009 führte er die AZ Alkmaar zum Meistertitel. Ein Jahr später war er mit dem FC Bayern, in der ersten Saison nach Jürgen Klinsmann, nur einen Diego Milito vom Gewinn des Triples entfernt. Bei seiner vergangenen WM hießen die einzigen großen Namen im Kader Wesley Sneijder, Robin van Persie sowie Arjen Robben. In der Innenverteidigung spielten damals Ron Vlaar und Bruno Martins Indi. Diesmal stehen ihm Virgil van Dijk, Matthijs de Ligt, Nathan Aké, Jurriën Timber sowie der zuletzt äußerst formstarke Jeremie Frimpong zur Verfügung. Ja, den Niederländern mag ein echter Torjäger fehlen. Aber van Gaal ist dennoch zuzutrauen, dass er diese Mannschaft sehr weit führen kann.

Frankreich: Der Sonderfall

Natürlich darf in der Liste der Favoriten auch der Titelverteidiger nicht fehlen. Obwohl, vielleicht sollte er das genau deswegen? Vier der letzten fünf Weltmeister, darunter auch Frankreich selbst 2002, erwischte es jeweils in der nächsten Gruppenphase. Einzig Brasilien bildete mit dem Viertelfinale 2006 die große Ausnahme.

WM 2022 Frankreich

Photo by FRANCK FIFE/AFP via Getty Images

Genauso ungewiss darf man auch Frankreichs Chancen bei der Weltmeisterschaft einschätzen. Die Mannschaft platzt in allen Teilen vor Qualität und Kaderbreite. Es würde nicht überraschen, sollten sie ihre Gruppe in Grund und Boden spielen. Allein, war genau das zuletzt eher Theorie. Frankreichs letzter Pflichtspielsieg mit drei Toren Differenz ist fast ein Jahr her, ein 8:0 gegen Kazakhstan, davor ein 3:0, allerdings a) über Andorra und b) aus dem September 2019. In der vergangenen Nations League gab es lediglich einen Sieg, ein 2:0 gegen Österreich. Von den vier Partien gegen Kroatien (1:1, 0:1) und Dänemark (1:2, 0:2) verlor man drei. Antoine Griezmann, Schlüsselfigur beim Titelgewinn 2018, ist momentan außer Form. Dazu fehlen in N’Golo Kanté und Paul Pogba zwei wichtige Akteure im Mittelfeld verletzt und ihre Ersatzleute sind noch nicht ganz auf ihrem Niveau.

Dennoch kommt man nicht umhin, eine Offensive aus Kylian Mbappé, Karim Benzema, Olivier Giroud, Christopher Nkunku oder Kingsley Coman zu den Titelfavoriten zu zählen. Der Knackpunkt für Frankreich wird sein, inwiefern es Didier Deschamps gelingt, einen Teamgeist wie 2018 heraufzubeschwören. Die französische Skala ist nach beiden Enden hin offen. Nicht zuletzt, weil die Equipe Tricolore eine reiche Geschichte hat, wenn es um Selbstzerstörung geht, auch vor dem wilden 3:3 gegen die Schweiz bei der vergangenen Europameisterschaft. Drei Pflichtspielniederlagen gab es bereits in diesem Jahr, die meisten seit 2010. Damals schied man in einer Gruppe mit Uruguay (0:0), Mexiko (0:2) sowie Gastgeber Südafrika (1:2) als Letzter aus. Der Titelverteidiger ist und bleibt das große Fragezeichen unter den Favoriten.

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Victor Catalina

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


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