WM 2022 | Frankreich gegen Marokko – David gegen Goliath im WM-Halbfinale
14. Dezember 2022 | WM-Spotlight | BY David Schöngarth
Vorschau | Im zweiten Halbfinale der WM 2022 kämpfen Frankreich und Marokko um das Ticket fürs Endspiel. Zieht der Weltmeister von 2018 erneut ins Finale ein oder macht Marokko wieder das Unmögliche möglich? Unsere Vorschau zum Spiel.
Frankreich gegen Marokko: Ein ungleiches Duell
Wer im Vorfeld der WM 2022 Frankreich gegen Marokko im Halbfinale getippt hätte, der hätte vermutlich mit schiefen Blicken rechnen müssen. Der einstige Superstar vom FC Barcelona, Samuel Eto’o, hat genau dies getan. Wenn Eto’o Recht behält, zieht Marokko gegen den amtierenden Weltmeister Frankreich sogar ins WM-Finale ein. Gut, wir müssen zugeben: Der kamerunische Ex-Profi hat auch sein Heimatland als WM-Sieger getippt. Die Prognosen von Eto’o sind also mit Vorsicht zu genießen. Unabhängig davon ist jedoch Fakt: Marokko steht nach K.O.-Siegen über Spanien und Portugal im Halbfinale der WM 2022 in Katar und trifft dort auf Frankreich. Ein Satz, den man sich durchaus einmal auf der Zunge zergehen lassen kann. Es ist ein ungleiches, historisches, politisches und vor allem hochspannendes Duell.
Die marokkanische Fußballnationalmannschaft schrieb im Jahr 1986 Geschichte, als den Löwen vom Atlas bei der WM in Mexiko in einer Gruppe mit England, Polen und Portugal der erste Gruppensieg einer afrikanischen Mannschaft bei einer WM gelang. Es war auch das letzte Mal, dass Marokko die Gruppenphase überstand. 36 Jahre später hat Marokko erneut Geschichte geschrieben und steht als erste afrikanische Mannschaft im Halbfinale einer Fußball-Weltmeisterschaft. Der Gegner heißt Frankreich, der amtierende Weltmeister und ein fußballerisches Schwergewicht. Den Franzosen mit ihrem Superstar Kylian Mbappé (23) trauten schon im Vorfeld des Turniers viele die Titelverteidigung zu, in unserem Powerranking vor der K.O.-Phase landeten Les Bleus auf Rang Drei. Die Rollen des Schlagabtauschs sind klar verteilt: FIFA-Weltranglistenvierter Frankreich ist der unumstrittene Favorit gegen Marokko, die Rang 22 der Weltrangliste belegen und deren Kader auf dem Papier gerade einmal ein Viertel der Franzosen wert ist.
Frankreich: Auf Sparflamme zur Titelverteidigung?
Es ist erst zwei Mal vorgekommen, dass eine Nation den Weltmeistertitel verteidigen konnte. 1938 gelang Italien, 1962 Brasilien das Kunststück. Passenderweise sechzig Jahre nach der Titelverteidigung der Brasilianer könnte es bei der WM 2022 in Katar wieder soweit sein, denn der amtierende Weltmeister Frankreich wird in dem noch verbleibenden Teilnehmerfeld aus Kroatien, Argentinien und Marokko weithin als Favorit angesehen. Dabei kann man der Mannschaft von Didier Deschamps den Vorwurf machen, die Mission Titelverteidigung bislang auf Sparflamme angegangen zu sein. Die Gruppenphase überstand Frankreich souverän, aber uninspiriert. Am letzten Spieltag verlor man gar gegen Underdog Tunesien. Im Achtelfinale bekamen Les Bleus mit Polen ein leichtes Los. Erst im Viertelfinale wartete mit den englischen Three Lions eine richtige Herausforderung auf die Franzosen, die – wenn auch etwas schmeichelhaft – mit 2:1 gemeistert wurde. Frankreich marschiert bis hierhin durch das Turnier, konnte aber bislang wenig Begeisterung auslösen. In noch keinem Spiel hielt die Mannschaft von Kapitän Hugo Lloris (35) hinten die Null.
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Während es hinten noch nicht läuft, stimmt es vorne umso mehr. Elf Tore haben Les Bleus bei dieser WM bereits erzielt. Frankreichs Top-Spieler bei dieser WM ist bislang – wer auch sonst – Kylian Mbappé. Vor vier Jahren in Russland verzückte der damals 19-jährige Mbappé die Fußballwelt als junger Shooting-Star, inzwischen ist er einer der tragenden Säulen der französischen Nationalmannschaft. Zum Kreis der Anführer zählt auch Olivier Giroud (36), der sich trotz seines Alters bei der WM äußert treffsicher zeigt. Der Ex-Gunner hat bereits vier Treffer in Katar erzielt. Aber nicht nur im Sturm sind die Franzosen exzellent besetzt, und das obwohl Nationaltrainer Didier Deschamps im Vorfeld des Turniers gleich mehrere Verletzungen zu beklagen hatten. Es ist alles angerichtet für Frankreich, den sechzig Jahre anhaltenden Fluch des Titelverteidigers zu brechen und in Katar erneut den Zenit der Fußballwelt zu erklimmen. Ein Bein stellen möchte den Franzosen dabei jedoch ein ambitionierter Underdog, der in jedem Fall Ernst genommen werden sollte: Marokko.
Marokko: Geht der Traum der Löwen gegen Frankreich weiter?
Eines steht jetzt schon fest: Die marokkanische Fußballnationalmannschaft hat Historisches geleistet und eine unvergleichliche Euphorie ausgelöst. Bereits in der Gruppenphase sicherten sich die Löwen gegen Belgien, Kroatien und Kanada überraschend den Gruppensieg, im Achtelfinale zwang Marokko die beiden iberischen Fußballmächte Spanien und Portugal in die Knie. Die Marokkaner haben sich ihren Platz unter den vier besten Mannschaften der Welt allemal verdient. Anders als Halbfinal-Gegner Frankreich sind die im gesamten Turnier noch ungeschlagen und haben überhaupt erst ein einziges (!) Gegentor kassiert, was dazu noch ein Eigentor war. Die defensive Stabilität der Mannschaft von Walid Regragui, der einst Schützling Rudi Garcias war, ist beeindruckend.
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Ebenso beeindruckend ist die Leidenschaft der Löwen vom Atlas, die der ganzen Fußballwelt imponiert haben. Zwar ist die Fußballnation Marokko definitiv nicht zu verachten, das Halbfinale gehörte im Vorfeld des Turniers dennoch zu den eher kühneren Träumen. Bei allem Respekt kann die Underdog-Rolle der Marokkaner nicht von der Hand gewiesen werden. Bislang spielte das Land im internationalen Fußball eine begrenzte Rolle. Der Erfolg bei der Weltmeisterschaft ist aber auch Zeugnis der positiven Entwicklung, die die Mannschaft in den letzten Jahren unternommen hat. Seit 2019 ist das Land in der FIFA-Weltrangliste stets nach oben geklettert, beim Africa-Cup in Kamerun erreichte man Anfang 2022 das Viertelfinale. Der Kader der Marokkaner ist gespickt mit erfahrenen Leistungsträgern: Torwart Bono (31) vom FC Sevilla, der gegen Spanien zum Held avancierte, Abwehrchef und Kapitän Romain Saiss (32), Ballzauberer oder Offensivkünstler Hakim Ziyech (29) vom FC Chelsea. Das Gesicht der Mannschaft ist aber natürlich Achraf Hakimi (24), der mit seinen 24 Jahren als einer der besten jungen Außenverteidiger der Welt gilt. Abseits davon hat sich Mittelfeldmotor Sofyan Amrabat (26), der Anfang des Jahres bereits mit einem Wechsel zu Tottenham in Verbindung gebracht wurde, ins Rampenlicht gespielt. Bei seinem Verein Florenz sollen sich wohl schon Interessenten gemeldet haben, wie The Athletic berichtete.
Mögliche Aufstellungen
Frankreich: Lloris, Koundé, Varane, Upamecano, Theo Hernandez, Tchouameni, Rabiot, Griezmann, Dembelé, Giroud, Mbappé
Marokko: Bono, Hakimi, El Yamiq, Saiss, Mazraoui, Amrabat, Ounahi, Amallah, Ziyech, En-Nesyri, Boufal
Prognose
Im Kampf um das WM-Finale treffen mit Frankreich und Marokko Welten aufeinander. Die Rollen sind klar verteilt: Weltmeister gegen Underdog. Ein Kader mit fast einer Milliarde Euro Marktwert auf der einen gegen 220 Millionen Euro auf der anderen Seite. Es ist aber auch das Duell einer der besten Offensiven gegen die beste Defensive des Turniers. Frankreich zeigt sich bei der WM bislang unberechenbar und ist gegen Marokko der klare Favorit. Ein erneutes Wunder der Löwen vom Atlas sollte aber definitiv nicht ausgeschlossen werden. So oder so, es wird ein hochspannendes und vor allem brisantes Spiel. Marokko und Frankreich sind durch die französische Kolonialgeschichte politisch und historisch miteinander verbunden. Das Polizeiaufgebot in Paris wurde im Vorfeld der Partie verstärkt.
(Photo by Justin Setterfield/Getty Images)
David Schöngarth
Aufgewachsen mit Grafite, Luca Toni und Co. entfachten Gareth Bale und Mauricio Pochettinos Spurs in David eine Leidenschaft für die Premier League. Interessiert sich für alles, was auf der Insel vor sich geht. Seit 2022 bei 90Plus.