WM 2022 | Vorschau Gruppe H: Portugal, Ghana, Uruguay, Südkorea
19. November 2022 | WM-Spotlight | BY Victor Catalina
Spotlight | Am 24. November steigt die Gruppe H in den Wettbewerb ein. Neben Portugal finden sich dort auch Uruguay, Ghana und Südkorea wieder. Wer warum welche Chancen besitzt, wo seine Stärken hat und wie zu knacken ist – die Gruppenvorschau.
Der Spielplan der Gruppe H
24.11.2022, 14:00 Uhr: Uruguay – Südkorea
24.11.2022, 17:00 Uhr: Portugal – Ghana
28.11.2022, 14:00 Uhr: Südkorea – Ghana
28.11.2022, 20:00 Uhr: Portugal – Uruguay
02.12.2022, 16:00 Uhr: Südkorea – Portugal
02.12.2022, 16:00 Uhr: Ghana – Uruguay
Die Kader der Gruppe H in der Übersicht
Portugal: Offensivwucht und das Ronaldo-Dilemma
Lange Zeit galt Portugal als Land großer Spieler, denen allerdings noch die große Krönung fehlt. Unter der seit 2014 anhaltenden Ägide Fernando Santos‘ gelang nach zwei Jahren der Gewinn der Europameisterschaft. 2019 kam noch ein weiteres Badge aufs Trikot, als sich die Portugiesen auf heimischem Boden im Finale der Nations League 1:0 gegen die Niederlande durchsetzten.
WM 2022: Warum und wie wir berichten
Geht es nach dem Trainer selbst, waren das nicht die letzten Titel: „Es gibt noch eine Trophäe, die ich gewinnen muss“, sagte Santos portugiesischen Medienvertretern im September nach dem 4:0 gegen Tschechien. „Das Beste kommt noch… und es kommt dieses Jahr.“
Die Chance dazu erarbeitete sich Portugal in einer Gruppe mit Serbien, Irland, Luxemburg und Azerbaijan. Da man am letzten Spieltag Serbien – trotz früher Führung – 1:2 unterlag, musste Portugal durch die Playoffs. Mit Siegen gegen Stefan Kuntz‘ Türkei (3:1) sowie Nordmazedonien (2:0) löste die Seleção das Ticket nach Katar.
Santos‘ Dilemma: Zwischen Offensivpower und Sicherheitsdenken
Dort wollen sich die Portugiesen bevorzugt im 4-3-3 behaupten, das qua Spielermaterial asymmetrisch wird. Die Schlüsselpositionen sind hierbei die Außenverteidiger, die im Offensivspiel die nötige Überzahl herstellen. Während João Cancelo auf der rechten Seite, wie auch bei Manchester City, ins Mittelfeld zieht, sind Portugals Optionen auf links, wie Raphaël Guerreiro oder Nuno Mendes eher klassische, überlaufende Außenverteidiger.
Portugal macht Joga Bonito mit Nigerias Verteidigung 🪄 #DAZNmoment pic.twitter.com/TuLDYc6DbO
— DAZN DE (@DAZN_DE) November 18, 2022
Der zweite Faktor im portugiesischen Spiel sind die offensiv ausgerichteten Achter. Im Normalfall sind das Bruno Fernandes, William Carvalho oder Vitinha. Dadurch können die Außenstürmer, Rafael Leão, beziehungsweise João Félix nach innen ziehen, um mit den Zehnern, wie Bernardo Silva positionstechnisch zu rochieren.
Beispielhaft dafür der vierte Treffer der Portugiesen im Testspiel gegen Nigeria. Guerreiro leitet die Szene mit einem gelungenen Heber ein, João Félix macht den Tiefenlauf nach innen und legt am ersten Pfosten rüber zu Gonçalo Ramos, dessen Hackenablage João Mário nur noch über die Linie schieben muss.
An guten Tagen gelingt es Portugal dadurch, offensiv eine gewaltige Wucht zu entwickeln. Nicht zuletzt, wenn auch Cristiano Ronaldo mitspielt. Allerdings steht das konträr zum Sicherheitsdenken Fernando Santos‘. Der 68-Jährige geht nur so viel Risiko, wie zwingend nötig. Wenn ein Remis reicht, soll dieses verwaltet werden, anstatt auf den Sieg zu gehen.
Die Nachteile dessen wurden in der WM-Qualifikation sichtbar, als Portugal im Heimspiel gegen Serbien das 1:1 halten wollte, die Serben aber auf den Siegtreffer gingen und ihn schlussendlich auch erzielten. Dadurch verspielte Portugal das direkte WM-Ticket und musste stattdessen in die Playoffs. Gleiches Bild in der Nations League. Das torlose Remis gegen Spanien hätte für den Einzug ins Final Four gereicht. Erneut entschied sich Portugal für die Sicherheitsvariante statt den Sieg, erneut bezahlten sie den Preis. In Minute 88 zog Spanien dank Álvaro Morata noch vorbei.
Dann wäre da noch das Thema Cristiano Ronaldo. Auch kurz vor seinem 38. Geburtstag ist er für die Mannschaft essentiell, als Kapitän wie als Spieler. Bei allen Toren, die er ihr gibt, wirft er für das System allerdings auch Fragen auf. Ronaldo fällt es im hohen Fußballeralter sichtlich schwer(er), das Pressing im Offensivspiel anzuführen. Hohe Ballgewinne gelingen der Mannschaft dadurch seltener, da man den Gegner nicht in die Pressingfalle locken und zu Fehlern zwingen kann. Topteams nutzen das, um Portugal simpel auszukombinieren. Dazu ist Ronaldos defensive Mitarbeit überschaubar. In Ballbesitz lässt er sich außerdem weit zurückfallen, um die Zuspiele der Innenverteidiger anzunehmen. Dadurch kann die Mannschaft zwar das Spiel kontrollieren. Signifikanter Raumgewinn wird aber seltener. Ganz zu schweigen, dass Ronaldo in diesen Situationen mit seiner Wucht und Kopfballstärke im Strafraum fehlt.
Führungen gegen große Gegner ins Ziel zu bringen, wird somit entscheidend schwerer, wenngleich dieses Phänomen abseits der Personalie Ronaldo ebenfalls ersichtlich wurde. Bei der Europameisterschaft im vergangenen Jahr führte Portugal sowohl gegen Deutschland als auch Frankreich. Beide Male hieß der Torschütze Cristiano Ronaldo. Letztlich gab es aus diesen Partien nur einen Punkt, weshalb man als einer der besten Gruppendritten ins Achtelfinale einzog.
Nichtsdestotrotz hält Santos weiter an seinem Superstar fest, der trotz des Achtelfinalaus bei der EM, mit fünf Toren Toptorschütze wurde. Auch in der WM-Qualifikation führte er die mannschaftsinterne Liste mit sechs Treffern an.
Player to watch: Diogo Costa
Über Jahre hinweg galt Rui Patrício im portugiesischen Tor als gesetzt, absolvierte mittlerweile über 100 Länderspiele. Vor den Playoffs zur WM traf Fernando Santos allerdings eine schwerwiegende Entscheidung und ließ Diogo Costa spielen. Dieser wusste so sehr zu überzeugen, dass er mittlerweile Stammtorhüter ist. Mit 23 Jahren übrigens der jüngste im Turnier.
Three penalty saves in successive games for Porto!
Diogo Costa 🚫🚫🚫@FCPorto || #UCL pic.twitter.com/yZIGCHrt7A
— UEFA Champions League (@ChampionsLeague) October 31, 2022
Auffällig sind bei ihm der Distanzschuss sowie das Verhalten bei Flanken. Besonders sticht jedoch seine Fähigkeit vom Punkt heraus. Der xG für einen Elfmeter beträgt 0,76. Der xG für einen Elfmeter gegen Diogo Costa lediglich 0,57. In seiner Profikarriere konnte er 15 der bislang 26 Versuche abwehren. Zudem wurde Diogo Costa in der Champions League der erste Torhüter, der drei Strafstöße binnen einer Spielzeit parierte – und die K.O.-Phase steht erst noch an.
Uruguay: Wachablösung der goldenen Generation
Wie Portugal im Tor hatte auch Uruguay über Jahre hinweg eine große Konstante – allerdings an der Seitenlinie: Óscar Washington Tabárez Silva. 2006 trat er seine zweite Amtszeit als Trainer der Celeste an und betreute Uruguay bei drei verschiedenen Weltmeisterschaften sowie dem Gewinn der Copa América 2011. Vor vier Jahren musste man sich erst im Viertelfinale dem späteren Weltmeister Frankreich 0:2 geschlagen geben. Diesen Winter sollte eigentlich eine vierte Weltmeisterschaft für Tábarez hinzukommen – im zarten Alter von 75 Jahren. Da Uruguay vier Spieltage vor Schluss in den südamerikanischen Eliminatorias, der WM-Qualifikation, lediglich auf Platz 7 stand, entschied man sich für den Wechsel.
Diego Alonso konnte die verbleibenden vier Partien allesamt gewinnen und sogar Platz 3, hinter den beiden Großmächten Brasilien und Argentinien, sichern. Diese Personalie steht ein Stück weit symptomatisch für den aktuellen Zustand des uruguayischen Nationalteams, das sich momentan mitten im Umbruch befindet. Auch in Katar ist noch ein Großteil der 2010er-Generation dabei, wie Fernando Muslera, Diego Godín, Martín Cáceres, Edinson Cavani sowie Luis Suárez. Auf der anderen Seite drängen Youngster wie der momentan verletzte Ronald Araújo, Facundo Pellistri, Fede Valverde oder Darwin Núñez auf deren Ablösung, sofern nicht bereits geschehen.
Spiel über den Dritten und zurückfallende Sechser: Diego Alonsos stilistische Kniffe
Taktisch hat Diego Alonso im Vergleich zu Tabárez nicht viel verändert, Uruguay fächert sich noch immer im 4-4-2 auf. Dafür fügte er einige stilistische Kniffe ein. Kontrollierten Aufbau in Ballbesitz sucht man vergeblich. Wenn Uruguay den Ball gewinnt, soll er schnellstmöglich und mit wenigen Kontakten nach vorne gebracht werden. Dabei steht vor allem das Spiel über den Dritten im Mittelpunkt. Beim 2:0 über Kanada Ende September bot Alonso Nicolás de la Cruz sowie Agustín Canobbio auf den Flügeln auf, die immer wieder eng ins Zentrum rückten, um mit den hochstehenden Außenverteidigern Dreiecke zu bilden, sodass die beiden Spitzen, Luis Suárez und Darwin Núñez steilgeschickt werden konnten.
Das zweite Trademark des uruguayischen Spiels findet sich bei eigenen Abstößen, wenn sich einer der beiden Sechser, Rodrigo Bentancur oder Fede Valverde zwischen die Innenverteidiger fallen lässt, um eine de-facto-Dreierkette zu bilden und das gegnerische Pressing auszuhebeln. Somit stehen immer zwei Anspielstationen links und rechts bereit, sowie die Möglichkeit, den jeweils anderen Sechser per Steilpass zu bedienen. Von dort aus versucht Uruguay, wieder seine Dreiecke auf den Flügeln zu bilden, um über den Dritten mit einem Kontakt in die Angriffsposition zu kommen. Logisch, einfach zu verstehen und enorm effektiv.
Genauso effektiv, wie ein weiteres Stilmittel: Einwürfe. Mit Suárez, Cavani sowie Núñez verfügt Uruguay über drei One-Touch-Stürmer, die allesamt durchaus kopfballstark sind. Wenn Uruguay den Einwurf bekommt, bietet sich regelmäßig eine der beiden Spitzen als Abnehmer für den Kurzpass an, dreht sich auf und zieht entschlossen Richtung Grundlinie. Von dort soll jeweils der Sturmpartner bedient werden.
Uruguays schneller Aufbau macht sie allerdings auch anfällig für Ballverluste. Das, zusammen mit der fehlenden Geschwindigkeit der Viererkette sorgt immer wieder für gegnerische Konter. Uruguay findet sich somit häufiger in Defensivsituationen wieder.
Player(s) to watch: Fede Valverde und Luis Suárez
Mit seiner Vielseitigkeit ist Fede Valverde wie gemacht für Uruguays variables Spiel. Entweder kann er sich beim Abstoß zwischen die Innenverteidiger fallen lassen, oder als erste Anspielstation für den Steilpass bereitstehen. Genauso problemlos fügt er sich ins Spiel über den Dritten ein, sowohl als Passgeber auf die Flügel, als auch mit eigenen Tiefenläufen. Das alles garniert er mit einer brachialen Schussgewalt. Luis Suárez verglich ihn bereits mit seinem ehemaligen Liverpooler Teamkollegen Steven Gerrard.
Auch Suárez selbst ist mit 35 Jahren noch immer von großer Wichtigkeit für Uruguays Spiel, nicht nur aufgrund seiner acht Treffer in der WM-Qualifikation. Als spielstarker Stürmer gelingt es ihm, Situationen auf engstem Raum zu lösen. Zudem ist er immer in der Lage, seine Sturmpartner, Cavani oder Núñez, per Maßflanke zu bedienen.
Ghana: Otto Addos schwere Mission
Gleich in der Gruppenphase kommt es zu einem Aufeinandertreffen mit großer Vorgeschichte: In der 120. Minute des Viertelfinals 2010 köpfte Dominic Adiyiah den Ball aufs leere Tor, den Suárez mit ausgefahrenen Armen abwehrte. Für Olegário Benquerença gab es keine zwei Optionen – Elfmeter und Rot. Asamoah Gyan hatte die Möglichkeit, Ghana als erste afrikanische Mannschaft überhaupt in ein WM-Halbfinale zu schießen, donnerte den Strafstoß allerdings an den Querbalken. Am Ende setzte sich Uruguay 4:2 im Elfmeterschießen durch.
Davon, oder von der Mannschaft, die 2014 beim 2:2 als einzige Deutschland nicht unterlag, ist allerdings nur noch wenig übrig. Ghana geht auf Platz 61 als weltranglistentiefstes Team ins Turnier, noch hinter Gastgeber Katar (50.) oder Saudi-Arabien (51.). 14 Plätze mussten die Black Stars über die vergangenen vier Jahre einbüßen.
Viel Unklarheit bei Ghana in allen Mannschaftsteilen
Generell wabert noch sehr viel Unklarheit um die ghanaische Nationalmannschaft. Nach dem Aus in der Gruppenphase des Afrika Cups, dem ersten seit 2006, wurde Trainer Milovan Rajevac entlassen. Borussia Dortmund ließ sich dazu überreden, Otto Addo die Freigabe für das WM-Turnier zu erteilen. Auch an ihm scheiden sich die Geister. Einerseits wird er vom Verband geschätzt, weil er den afrikanischen Fußball mit europäischer Taktik verbindet. Dann wiederum gibt es kritische Stimmen, die ihm vorwerfen, zu unerfahren zu sein. Nun muss er für die Weltmeisterschaft ein schlagkräftiges Team zusammenstellen. Dazu war Ghana zuletzt stark „auf dem Transfermarkt aktiv“ und konnte sich viele Akteure mit doppelter Staatsbürgerschaft sichern, darunter Iñaki Williams (Spanien), Tariq Lamptey (England), Denis Odoi (Belgien) oder die ehemaligen U21-Nationalspieler Stephan Ambrosius (Karlsruhe) sowie Ransford-Yeboah Königsdörffer (Hamburger SV).
Taktisch zeigte sich Otto Addo flexibel. Beim Playoff-Rückspiel gegen Nigeria setzte er auf ein 4-2-3-1. Iddrisu Baba, einer der Mittelfeldspieler ließ sich zwischen die beiden Innenverteidiger, Daniel Amartey oder Alexander Djiku, fallen. Dafür rückten die defensiven Außen, Gideon Mensah und Denis Odoi weit auf, sodass faktisch zwei Dreierketten entstanden. Anders, als bei Uruguay eröffnen hier allerdings die Innenverteidiger das Spiel mit einem Pass zwischen die Linien. Als Abnehmer ließ sich einer der Ayew-Brüder in den von Baba freigemachten Raum fallen.
Gegen den Ball agiert Ghana in einem 4-1-4-1 und versucht, das Mittelfeld zu verdichten, beziehungsweise den Gegner auf die Außen zu drängen. Dort mangelt es allerdings an defensivstarken Flügelspielern, sodass meistens einer der Außenverteidiger herausrücken muss und viel Platz in seinem Rücken hergibt.
Dazu mangelt es auf der anderen Seite an Topstürmern. Lediglich acht Tore, darunter ein Elfmeter, erzielte Ghana in der Qualifikation, die mit Abstand wenigsten aller afrikanischen WM-Teilnehmer. Marokko kommt auf 25, Senegal 16, Kamerun 14 und Tunesien auf 12. Iñaki Williams sucht noch seine Rolle im Team, Jordan Ayew ist mehr Vorlagengeber denn Torschütze und Felix Afena-Gyan international nicht erfahren genug. So hängt, auch 2022, noch viel von André Ayew ab.
Player to watch: Mohammed Kudus
Eine von Ghanas großen Hoffnungen für die Zukunft. Der 22-Jährige, mittlerweile bei Ajax unter Vertrag, ist Absolvent von Ghanas Right-To-Dream-Akademie – und variabel einsetzbar: Entweder in der Sturmspitze, auf allen Positionen im Mittelfeld oder sogar dem Flügel. Dazu ist er nahezu beidfüßig und kann einen guten letzten Ball spielen.
Scores with his right ✅
Scores with his left ✅🇬🇭 Ghana’s Mohammed Kudus is simply unstoppable! 🎯#TotalEnergiesAFCONQ2023 | @ghanafaofficial | @KudusMohammedGH pic.twitter.com/XWWCl9fuTM
— CAF (@CAF_Online) June 12, 2022
Bei allen Fähigkeiten gibt es auch hier einen Haken: Kudus hängt der Ruf nach, etwas zu eigensinnig zu sein und sich nicht früh genug vom Ball zu trennen. Böte man ihn zusammen mit André Ayew auf, bestünde das Risiko, die eigene Defensive zu sehr zu entblößen.
Südkorea: Viel Ballbesitz – und ein brisantes Wiedersehen
Es war einmal, an einem Sommernachmittag des 27. Juni 2018 in Kasan. Schiedsrichter Mark Geiger malte das Viereck in die Luft und zeigte auf den Mittelkreis, was die Miene von Joachim Löw versteinern ließ. Mit diesem Treffer, aus der 92. Minute, war Deutschlands Ausscheiden praktisch besiegelt. Heung-min Son legte vier Minuten später den 2:0-Endstand nach. Oder wie es Joshua Kimmich in The Players‘ Tribune formulierte: „Gruppenletzter. Deutschland! Oha.“
Dieses Jahr qualifizierte sich Südkorea zum zehnten Mal in Folge für eine Weltmeisterschaft – neuer asiatischer Rekord. Einen solchen stellte auch Trainer Paulo Bento auf, nämlich allein dadurch, seit seiner Ernennung im August 2018 bis zur Weltmeisterschaft nicht entlassen worden zu sein. Bis dahin war genau das Tradition des südkoreanischen Fußballverbands. So kommt Bento in den Genuss am 3. Spieltag auf sein Heimatland Portugal um Nachfolger Fernando Santos zu treffen. Fun fact: 2002 gab es dieses Duell bereits in der Gruppenphase, damals spielte Bento noch für Portugal, unterlag 0:1 und schied vorzeitig aus.
Seitenverlagerungen als größtes Stilmittel: Wie Südkorea seine Gegner auseinanderzieht
Taktisch setzt Bento auf ein 4-2-3-1 oder 4-3-3. Allerdings ist auch hier die Frage nach dem wie. Und die Antwort lautet: Ballbesitz, Ballbesitz und noch mehr Ballbesitz. Genau zwei Drittel davon hatte Südkorea in der Qualifikation. Dazu die meisten Aktionen mit zehn oder mehr Pässen, die in einem Torschuss endeten (163). Beides sind Topwerte unter den fünf asiatischen Nationen, die sich für die Weltmeisterschaft qualifizierten.
Auch Südkorea benutzt gern das Stilmittel der hochstehenden Außenverteidiger, um eine breitstehende Viererkette zu kreieren. Bisweilen wird diese auch durch einen der zentralen Mittelfeldspieler erweitert, der in dieser Situation fast eine Quarterbackrolle einnimmt. Faktisch entsteht so allerdings ein Vier plus Zwei. Dafür lässt sich Heung-min Son gerne tief fallen, um Angriffe einzuleiten. Wenn dieser den Ball im Spielaufbau erhält, folgt der weite Wechsel auf die gegenüberliegende Seite, entweder zu den Flügelspielern oder den hinterlaufenden Außenverteidigern, die einen Abnehmer im Strafraum finden sollen. Im Juni konnten sie auf diese Art und Weise Brasilien dazu bringen, der Kugel für 96 Sekunden hinterherzulaufen, bevor sie mit dem flachen Seitenwechsel Hwang-Ui-jo im Strafraum zum zwischenzeitlichen 1:1 fanden.
Allerdings – und das verrät der Endstand von 1:5 bereits – hängt bei den Südkoreanern viel von der individuellen Qualität ihrer Topstars ab, allen voran Heung-min Son. Genauso trifft das aber auch auf Abwehrchef Kim Min-jae oder Mittelfeldspieler Woo-Young Jung zu. Fällt einer von ihnen aus, droht Südkorea Ungemach. Nicht zuletzt deshalb hofft man, dass die Fraktur der Augenhöhle, die sich Son beim 2:1 am 6. Champions-League-Spieltag in Marseille zuzog, ihn nicht zu sehr beeinträchtigen wird.
Dazu ist die Mannschaft in Ballbesitz naturgemäß anfällig für Konter. Paraguay oder Costa Rica ließen sie in Freundschaftsspielen locker auf ihren Mittelfeldblock laufen, bevor sie dort die Bälle gewannen, um schnelle Gegenangriffe zu lancieren. Außerdem fehlt es, mit Ausnahme von Son, an wirklicher Torgefahr. 2019 scheiterte man im Viertelfinale des Asian Cup an Katar (0:1). In der Qualifikation erzielte Südkorea lediglich 13 Tore. Warum lediglich? Weil ihr xG rund 17 Treffer hergab.
Player to watch: Kang-in Lee
Ausgebildet in der Akademie des Valencia Club de Fútbol machte Lee bereits bei der U20-Weltmeisterschaft 2019 mit zwei Toren und vier Assists auf sich aufmerksam, was ihm den Goldenen Ball für den Spieler des Turniers einbrachte. Im selben Jahr wurde er mit 18 Jahren, sechs Monaten und 17 Tagen zu Südkoreas drittjüngstem Nationalmannschaftsdebütanten.
🤩 Lee Kang-in putting on a show!
#AFCU23 | #KORvMAS pic.twitter.com/AUxTYXEVoJ
— #AsianCup2023 (@afcasiancup) June 2, 2022
Lee verfügt über eine außerordentliche Pressingresistenz, wodurch es ihm leicht fällt, die Pässe der Innenverteidiger anzunehmen und sich aufzudrehen. Dazu hat er auch die für Bentos Spiel eminente Seitenverlagerung im Repertoire, gepaart mit einem durchaus brauchbaren Distanzschuss.
In der notorisch unruhigen Umgebung Valencias fiel es ihm jedoch schwer, sich als Spieler weiterzuentwickeln, weshalb ihn der Verein vergangenen Sommer ablösefrei zu RCD Mallorca ziehen ließ. Ende Oktober reisten die Mallorquiner ins Mestalla. Zwar gelang Edinson Cavani der Führungstreffer (vielleicht sogar eine Steilvorlage für das Duell am 1. Spieltag?). Vedat Muriqi glich allerdings vom Punkt aus – und der Siegtreffer sieben Minuten vor Schluss war wem vorbehalten? Richtig.
Prognose zur Gruppe H
Portugal geht als großer Favorit ins Rennen. Gesichert ist der Gruppensieg allerdings bei Weitem nicht. Gerade Uruguay könnte dem Europameister von 2016 einen harten Kampf liefern – auf dem Platz wie in der Tabelle. Bei Südkorea steht und fällt vieles mit der Form von Heung-min Son. Sollte er performen können, ist Paulo Bento und den Seinen zuzutrauen, in die Diskussion um das Achtelfinale einzusteigen. Vor allem, sollte sich Portugal in seinem Sicherheitsdenken erneut verzocken. Ghana verfügt zwar über einige individuell starke Akteure. Insgesamt ist das Mannschaftsgebilde, wenngleich Otto Addo taktisch fraglos sein bestes tut, aber noch nicht ausgereift genug, um den anderen Teams gefährlich zu werden.
Photo by Octavio Passos/Getty Images
Victor Catalina
Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.