Expertenrunde zur 2. Bundesliga: „Am Ende wird die mentale Reife entscheidend sein“

19. Januar 2024 | Trending | BY 90PLUS Redaktion

An diesem Wochenende nimmt auch die 2. Bundesliga wieder ihren Spielbetrieb auf und verspricht ihren Fans einmal mehr ein äußerst spannendes Aufstiegsrennen. Gemeinsam mit Experten aus anderen Redaktionen wagen wir eine Prognose. 

2. Bundesliga: Schafft es der HSV im sechsten Anlauf? Greift die Hertha nochmal ganz oben an?

Wie bereits zum Saisonstart der 2. Bundesliga war es der 90PLUS-Redaktion wichtig, gemeinsam mit anderen Kennern des deutschen Unterhauses einen Blick auf die bevorstehenden 17 Partien zu werfen. Daher haben wir uns mit Andreas Ernst, tätig als Schalke-Reporter für FUNKE Sport und für die WAZ, Daniel Jovanov, Journalist und HSV-Experte durch und durch, sowie Tobias Kröger von transfermarkt.de über das Aufstiegsrennen in der 2. Bundesliga ausgetauscht. Außerdem gab unser Redakteur Philipp Overhoff seine Einschätzungen zum Kampf um die Bundesliga-Plätze ab.



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90PLUS: Unabhängig von der Platzierung: Welches Team hat in der ersten Saisonhälfte den besten Eindruck hinterlassen?

Andreas Ernst: Ich habe als Schalke-Reporter den FC St. Pauli zweimal spielen sehen – in der Liga und im DFB-Pokal. Und das hat über weite Strecken wirklich Spaß gemacht. Mir gefällt die 2. Bundesliga vor allem, weil einige Mannschaften sehr individuellen, wiedererkennbaren Fußball spielen.

Daniel Jovanov: Der FC St. Pauli hat die Hinrunde als einziges Team der 2. Bundesliga ungeschlagen abgeschlossen und über weite Strecken den intensivsten und attraktivsten Fußball gespielt. Fabian Hürzeler hat seit seinem Amtsantritt eine beeindruckende Mannschschaft geformt und holt als Trainer im Schnitt weit über zwei Punkte pro Spiel. Ich traue ihm den Aufstieg zu, wenn der Klub und er selbst bis zum Schluss die Nerven behalten. Am Ende der Saison wird die mentale Reife entscheidend sein. Ich glaube, dass St. Pauli dem Spitzenreiter Holstein Kiel, der ebenfalls eine herausragende Hinrunde spielt, in diesem Aspekt ein paar Prozent voraus ist.

Tobias Kröger: Das stabilste Team ist für mich der FC St. Pauli. Wer ungeschlagen durch die Hinrunde geht, hat definitiv ein Zeichen gesetzt, auch wenn Kiel aktuell an der Spitze steht. Beim Team von Fabian Hürzeler gefällt mir der gute Offensiv-Fußball mit einer guten defensiven Balance. Die Mischung am Millerntor ist die für mich überzeugendste aktuell.

Philipp Overhoff: Hier muss man wohl das einzige noch ungeschlagene Team der Saison nennen, den FC St. Pauli. Die wenigsten Gegentore der Liga, ansehnlicher Offensiv-Fußball und ein alles überragender Mann in Marcel Hartel. Das hat schon Hand und Fuß, was Armin Hürzeler da macht. Trotzdem müssen die Kiezkicker noch beweisen, dass sie auch zwei ähnlich starke Saisonhälften spielen können. Diesen Beleg sind sie uns in den letzten Jahren schuldig geblieben.

90PLUS: Die Hinrunde des HSV glich mal wieder einer emotionalen Achterbahnfahrt und endete auf dem 3. Platz. Gelingt dem ehemaligen Bundesliga-Dino im sechsten Anlauf die Rückkehr ins Oberhaus?

AE: Als ich am ersten Spieltag den HSV gegen Schalke habe spielen und 5:3 gewinnen sehen, hätte ich viel Geld verwetten können, dass die Hamburger diesmal ohne Niederlage aufsteigen. Es sah alles so eingespielt, so offensiv variabel, so leicht aus. Der Rückrundenstart auf Schalke dürfte für den HSV eine hohe Bedeutung haben – gelingt ein Sieg, könnte dieser den nötigen Schwung geben. Misslingt er aber, müssten der HSV und Trainer Tim Walter erst einmal mit dem Druck umgehen, ein Projekt zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Und Druck war für den HSV in den fünf vorherigen Jahren nicht immer förderlich.

DJ: Das hängt von vielen Faktoren ab. Tim Walter muss seinen Spielstil justieren und vor allem in den Auswärtsspielen neue Lösungen finden. Viele Gegner scheinen sich inzwischen sehr gut auf den HSV eingestellt zu haben. Insbesondere in der Defensive sehe ich die größten Baustellen, insgesamt steht Walters Team zu hoch und ist deshalb anfällig für Konter. Der Druck ist jedenfalls jetzt schon groß. Hinzu gibt es außerhalb des Platzes Ärger, zum Beispiel in der Nachwuchsabteilung von Vereinslegende Horst Hrubesch. Auch Investor Klaus-Michael Kühne steht nicht auf der Seite von Walter. Der Rückhalt im Club bröckelt. Das kann über Aufstieg oder Nichtaufstieg entscheiden.

(Photo by Cathrin Mueller/Getty Images)

TK: Nach dem sehr guten Saisonstart konnte man euphorisch sein, doch die letzten Wochen und Spiele haben wieder sehr große Zweifel ans Licht gebracht. Die Trainersituation belastet den Verein und hat noch mehr Druck aufgebaut. Jede Niederlage wird jetzt noch extremer bewertet. Ich hoffe natürlich auf den direkten Aufstieg, doch sehe ich den Relegationsplatz aktuell am realistischsten.

PO: Um ehrlich zu sein, fand ich den HSV in der Hinrunde etwas schwächer als in den Vorjahren. Die wirklich überzeugenden Spiele kann man an einer Hand abzählen, Robert Glatzel und László Bénes dürften schon Rückenschmerzen davon haben, ihr Team durch die Saison zu tragen. Nichtsdestotrotz glaube ich 2024 an den HSV. Die Verletztenliste sollte nach und nach kürzer werden und in Winter-Neuzugang Okugawa setze ich, sofern fit, große Hoffnungen.

90PLUS: Bei Hertha BSC überschattet der Tod von Kay Bernstein natürlich alles und lässt das sportliche weit in den Hintergrund rücken. Auch wenn der Schock tief sitzen wird, kann ein Team in solchen Situationen auch näher zusammenrücken. Kann die Hertha, vor der Winterpause immerhin sieben Mal in Folge ungeschlagen, nochmal entscheidend ins Aufstiegsrennen eingreifen?

AE: Der Tod von Kay Bernstein hat alle, auch mich, schockiert. Da fällt es aktuell immer noch schwer, eine sportliche Prognose zu versuchen. Wer zur Winterpause lediglich sechs Punkte Rückstand auf die ersten drei Plätze hat, kann immer entscheidend ins Aufstiegsrennen eingreifen – schon rein statistisch. Da die Hertha über ein aufstiegsreifes Aufgebot verfügt, traue ich ihr den direkten Wiederaufstieg zu – und eine ähnliche Rolle wie Schalke vor zwei Jahren, als auf eine solide Hinrunde im oberen Drittel ein überragender Endspurt mit dem Erringen der Meisterschaft folgte.

DJ: Der Familie und allen Angehörigen ist in dieser Zeit viel Kraft zu wünschen. Fußball tritt in diesen Momenten in den Hintergrund. Trotzdem ist davon auszugehen, dass in Berlin viele Emotionen und Impulse freigesetzt werden. Hertha hat sich nach den Turbulenzen im Sommer gefangen und wirkt gefertigter als noch zu Beginn der Saison. Und in der Offensive steckt noch einiges an Potenzial

TK: Ich hatte schon vor dem Jahresende gesagt, dass ich die Hertha bis zum Saisonende im Aufstiegskampf sehe. Am Aufstieg wird man jedoch knapp scheitern und am Ende auf einem guten 4. oder 5. Platz landen. Die Hertha hat sich nach der chaotischen Transferphase im Sommer insgesamt stabilisiert. Man ist auf dem richtigen Weg. Jetzt ist natürlich nicht vorherzusagen, welchen Einfluss der Tod von Kay Bernstein hat.

PO: Die Nachricht über den Tod von Kay Bernstein war zweifelsohne ein absoluter Schock. Auch wenn es schwerfällt, sich dabei auf das Sportliche zu konzentrieren: Ja, die Hertha kann definitiv noch ein Wörtchen im Aufstiegskampf mitreden. Der sportliche Trend zeigte vor der Winterpause in die richtige Richtung und in Haris Tabaković und Fabian Reese verfügt Pál Dárdai über zwei zuverlässige Scoring-Optionen. Da geht noch was.

90PLUS: Mit Herbstmeister Holstein Kiel und der SpVgg Greuther Fürth gibt es zwei klare Überraschungsteams. Sind die beiden Underdogs „for real“ und können sie bis zum Schluss ganz oben mitspielen?

AE: Aber ja. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass immer wieder vermeintliche Underdogs den Sprung nach oben geschafft haben – wenn ich da zuletzt an den 1. FC Heidenheim, zweimal Darmstadt 98, zweimal Greuther Fürth oder Eintracht Braunschweig vor einigen Jahren denke.

DJ: Letztlich wird es auch darum gehen, wer mehr Breite und Erfahrung im Kader hat. Da sehe ich andere Teams leicht im Vorteil. Aber möglicherweise liegt genau hier die Chance, denn die Erwartungshaltung in Fürth und Kiel ist eine andere als in Hamburg oder Düsseldorf.

(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)

TK: Holstein Kiel spielt eine hervorragende Saison und steht definitiv zu Recht ganz oben. Und trotzdem glaube ich nicht, dass man bis zum Saisonende in den Aufstiegsrängen bleiben wird. Egal, wie es am Ende ausgeht, man wird eine beeindruckende Saison gespielt haben. Bei Greuther Fürth könnte ich mir vorstellen, dass sie zwischendurch ein wenig Federn lassen, um in der Saisonschlussphase noch einmal zurückzukomme – genau dann, wenn kaum einer mit ihnen rechnet. Sie haben wenig Druck und können wie der SC Paderborn immer eine Serie starten, ohne dass es die Öffentlichkeit direkt mitbekommt.

PO: Beide Teams erwartet zum Wiederauftakt direkt ein hammerhartes Programm. Für Kiel geht es nach einem vermeintlichen leichten Heimspiel gegen Braunschweig unter anderem gegen eben Fürth, Geraerts‘ Schalke, Paderborn, St. Pauli und die Hertha. Fürth hat es im Umkehrschluss mit Paderborn, Kiel, St. Pauli, Hertha und Hannover zu tun. Ich glaube daher, dass beide Teams ordentlich Punkte lassen und Mitte Februar schon nicht mehr da stehen, wo sie überwintert haben. Abschreiben darf man sie nach der tollen Hinrunde natürlich nicht, aber für die ersten drei Plätze habe ich weder Kiel noch Fürth auf dem Zettel.

90PLUS: Jetzt Butter bei die Fische: Welche zwei Teams gehen am Ende der Saison direkt hoch? Und welches Team darf sich in zwei Relegationsspielen mit einem Bundesligisten messen?

AE: St. Pauli und Hertha BSC steigen direkt auf, der HSV muss wieder in die Relegation.

DJ: Aus Hamburger Sicht befürchte ich, dass nur der FC St. Pauli den direkten Aufstieg klar machen wird. Düsseldorf wird auf Platz 2 landen, der HSV muss in die Relegation. Und da wird es davon abhängen, auf wen Walters Mannschaft trifft – sofern er bis dahin noch Trainer des Hamburger SV ist.

TK: Der FC St. Pauli ist für mich als Aufsteiger gesetzt. Dahinter werden der HSV und die Fortuna um den zweiten Platz streiten. Aufgrund der vergangenen Jahre tendiere ich beim HSV dann leider zum Relegationsplatz und bei Düsseldorf zum direkten Aufstiegsplatz.

PO: Tatsächlich steigt der HSV in diesem Jahr auf. Aber „nur“ als Zweiter, denn Zweitliga-Meister wird die beste Offensive der 2. Bundesliga, Fortuna Düsseldorf. St. Pauli geht in die Relegation und wahrt die Hoffnungen auf einen Hamburger Doppelaufstieg.

(Photo by Joern Pollex/Getty Images)


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