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Interview mit Sportpsychologe: „Wenn ich ’nur‘ Fußballer bin, was bleibt dann von mir, wenn dieser Traum nicht in Erfüllung geht?“

10. Februar 2023 | Spotlight | BY Marc Schwitzky

Moritz Hirmke ist Psychologe (M. Sc.) und seit 9 Jahren in verschiedenen Organisationen im Bereich der Sportpsychologie tätig. Von 2019 bis 2022 begleitete er Spieler, Trainer und Mitarbeiter an der erfolgreichen Nachwuchsakademie des 1. FSV Mainz 05 e.V.. 90PLUS hat sich mit ihm für ein Gespräch zu seiner Perspektive auf die Kultur im Nachwuchsleistungsfußball getroffen.

Im zweiten Teil setzen wir uns mit folgenden Fragen auseinander:

  • Warum kann es hilfreich sein, wenn der Fußball nicht Plan A, sondern Plan B ist?
  • Wieso sollte in NLZs mehr Gelassenheit als Willen geschult werden?
  • Wieso sind Lücken in Talententwicklungskonzepten empfehlenswert?
  • Wie kann der Leistungssport zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen?
  • Warum kann die psychologische Arbeit mit Trainern oftmals sogar effektiver sein als mit Spielern?
  • Warum ist es wichtig, dass die Psychologie im Fußball nicht den Psychologen gehört?

Hier könnt ihr den ersten Teil des Interviews lesen

Wenn ich ’nur‘ Fußballer bin, was bleibt dann von mir, wenn dieser Traum nicht in Erfüllung geht?

90PLUS: Wie viele aus der U17 oder U19 an einem NLZ haben eigentlich einen Plan B, wenn das mit dem Profiwerden nicht funktioniert?

MH: Ich glaube, oft ist es sogar förderlich, wenn der Fußball selbst der Plan B ist. Mainz 05 war da beispielsweise sehr klar: Ausbildung und Schule muss immer vor dem Fußball stehen. Familie ist Prio eins, Schule zwei, Fußball drei. Wenn in der Schule Dinge nicht funktionieren, dann setzte der Verein diese Priorisierung zum Beispiel auch durch Sanktionen in die Tat um. Die Spieler sollten meiner Meinung nach etwas in der Tasche haben, auch wenn viele verständlicherweise erstmal einfach nur Bock haben zu kicken. Klar, du kannst der eine sein, der es aus deinem Jahrgang schafft Profi zu werden, aber die Wahrscheinlichkeit ist leider höher, dass du es nicht bist. Da ist es dann sinnvoll, wenn du noch ein Back-up hast und dein Lebensglück nicht komplett vom Fußball abhängt. Ich glaube, dass es häufig sehr befreiend wirkt, wenn auf dem Fußball nicht so viel Druck liegt.

Deshalb, und für eine breite Persönlichkeitsentwicklung, würde ich auch jedem Spieler raten, Interessen auch außerhalb des Fußballs zu verfolgen. Vielleicht gibt es mir eine gewisse Sicherheit, wenn ich mich auch in anderen Lebensbereichen verwirklichen kann und Fußball „nur“ mein Plan B ist. Mit einem breiten Selbstkonzept kann ich dann immer noch befreit das tun, was ich liebe: Fußball spielen, auf dem Platz stehen, die frische Luft einatmen und Bälle ins Netz jagen. Problematisch kann es dagegen werden, wenn ich nur noch der Fußballer bin und nicht ein Mensch, der Fußball spielt. Wenn ich „nur“ Fußballer bin, was bleibt dann von mir, wenn dieser Traum nicht in Erfüllung geht? Das ist jetzt nicht nur meine persönliche Erfahrung, sondern die Forschung zeigt, dass Leistungssportler häufig bessere sportliche Leistungen bringen, wenn sie ein breites Selbstkonzept haben und Interessen außerhalb des Sports pflegen.

Wenn Spieler kommen und sagen: Ich konzentriere mich jetzt nur noch auf Fußball“, dann ringen deshalb bei mir die Alarmglocken. Ich werde ihm dann nicht vorschreiben, wie er zu leben hat, hoffe ihm jedoch zu einer informierten Entscheidung verhelfen zu können. Schon allein einen Traum zu haben, in diesem Fall Profifußballer zu werden, ist unabhängig davon, ob ich ihn verwirkliche, etwas sehr Wertvolles. Das würde ich keinem Sportler nehmen wollen.

„Ich glaube, dass das größere Potenzial nicht im Wollen liegt, sondern in einer Gelassenheit.“

Steht das nicht dem entgegen, was im Leistungssport häufig gepredigt wird: es mehr wollen zu müssen als die Anderen?

Ich finde es spannend, den Versuch zu wagen, ein bisschen loszulassen, mehr Distanz zu den reinen Ergebnissen zuzulassen und so Druck rauszunehmen. Sich stattdessen mehr Prozessen zuzuwenden, auf die man ohnehin zumeist deutlich mehr Einfluss nehmen kann und seinen Erfolg darüber zu definieren. Oft empfinden Sportler dann mehr Freude am Fußball und dem Lernprozess, haben mehr Gelassenheit in stressigen Situationen und spüren mehr Raum für kreatives Handeln. Oft kommt der Erfolg dann zum Sportler. Wenn dieser aber wie besessen dem Erfolg hinterherrennt und dabei wichtige Prozesse aus dem Auge verliert, dann entfernt sich der Erfolg oft von ihm.

Den Jungs wird als Pauschallösung bei Ausbleibendem Erfolg oft hingeworfen, sie müssten „es einfach noch mehr wollen“. Die Jungs wären aber im Sinne der Selektion gar nicht erst im NLZ, wenn sie bestimmte Dinge, die das „Wollen“ betreffen, nicht schon sehr gut machen würden: ein hohes Leistungsmotiv mitzubringen oder diszipliniert an sich arbeiten zu können. Ich glaube, dass die häufige Analyse „die haben es eben nicht genug gewollt“ deshalb oft daneben liegt. Meist trifft eher das Gegenteil zu bzw. die Art der Motivation des Spielers zum Beispiel eine sehr vermeidungsorientierte Motivation ist nicht hilfreich. Die extreme Disziplin und das extreme Wollen auf der einen Seite kommen oft nur dann zum Tragen, wenn ich auch Mal loslassen und locker sein kann.

Es braucht die Mischung zum Beispiel, um in den Flow zu kommen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Lernen: viele Kompetenzen wie Kreativität entwickeln sich in Teilen besser ohne Druck. Natürlich, irgendwann müssen die Nachwuchsspieler lernen mit dem Druck selbst klarzukommen, da dieser Teil des Profifußballs ist. Neben diesem Lernprozess sollte jedoch auch immer wieder eine Art Safe Space für andere Lern- und Entwicklungsprozesse gestaltet werden. Man darf nicht vergessen, dass viele Spieler sich selbst gegenüber bereits immensen Druck aufbauen.

Viele sind stark von Extrembeispielen wie Cristiano Ronaldo geprägt, der durch seine Disziplin und volitionale Kompetenzen herausragt. In jedem zweiten Gespräch hört man: ‚Ronaldo macht dies, Ronaldo macht jenes.‘. Natürlich hat es ihn weit gebracht, natürlich hat ihr Perfektionismus auch die Jungs dahin gebracht, wo sie jetzt stehen: in einem Bundesliga-NLZ. Dennoch glaube ich, dass dieser Wille seine Schwestertugend der Gelassenheit braucht, um das volle Potenzial zu entfalten. Die Jungs sind bereit Vieles zu opfern. Sie sind extrem motiviert und diszipliniert und auch wenn das Training gestern bescheiden lief, stehen sie entgegen dem Frust und dem Muskelkater am nächsten Morgen wieder auf und stehen pünktlich nach einem langen Schultag auf dem Platz.

Insofern beweisen die Jungs schon einen großen Willen und eine Frustrationstoleranz, die ich sehr bewundernswert finde. Von außen wird das teilweise gar nicht so wahrgenommen, wie oft die Spieler mit Enttäuschungen umgehen und diesen Kampf für sich entscheiden. Insofern glaube ich, dass das größere Potenzial nicht im Wollen, sondern in einer Gelassenheit liegt.

fußballer

(Photo by -/AFP via Getty Images)

Nadiem Amiri hat zu Beginn seine Karriere Mal gesagt, dass er keine Zeit für eine Freundin hätte, weil er alles für den Fußball geben will.

Ich kenne da den Einzelfall nicht. Für ihn mag diese Vorgehensweise genau richtig gewesen sein. Oftmals kann eine tragfähige Beziehung aber auch eine sehr wichtige Stütze sein. Nach Hause kommen zu können, wenn alle im Team unzufrieden mit dir sind, weil du keine Leistung gebracht hast und trotzdem von jemandem freundlich empfangen zu werden und zu merken, dass jetzt doch nicht alles den Bach runtergeht. Wenn du da jemanden hast, dem du dich öffnen kannst und der dich so mag wie du bist, dich als Mensch und nicht nur als Fußballer unabhängig von Erfolg und Misserfolg wertschätzt, das ist doch etwas Tolles!

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„Ein gutes Talententwicklungskonzept sollte immer auch bewusst Lücken zur individuellen Gestaltung lassen.“

Leistungsorientierte Nachwuchsarbeit ist etwas, was schon sehr früh, teilweise mit sieben oder acht Jahren beginnt und damit parallel zu kritischen Lebensphasen stattfindet. Wie kann man die Spieler als Verein in der Identitätsbildung unterstützen, so dass es auch einen Menschen neben dem Fußball gibt?

Indem Prozessen der Identitätsbildung Raum gelassen und nicht alles vorstrukturiert und durchgeplant wird. Sicher ist ein solides Konzept sehr nützlich. Dennoch denke ich, dass ein gutes Talententwicklungskonzept immer auch bewusst Lücken zur individuellen Gestaltung lassen sollte. So schwer das auch manchmal sein mag, man kann und sollte nicht alles kontrollieren. Es muss Bereiche geben, in die sich der Club nicht einmischt und die Jungs selber machen lässt. Viele beeindruckende Entwicklungen sind ja einfach dadurch entstanden, dass zunächst ein Raum da war, der potenziell bespielbar ist und dann entsteht von innen heraus etwas. Oder es entsteht auch Mal nichts. Das lässt sich kaum beeinflussen. Jeder Kontrollversuch würde diesem Prinzip widersprechen.

Der Heimatverein von Erling Haaland, Bryne FK, hat dieses Prinzip im Rahmen seiner Philosophie perfektioniert. Dort lässt man diesen Raum, sodass die Kinder lange Zeit ihr Fußballspiel hauptsächlich selbst organisieren. Wir können unsere Bemühungen darauf fokussieren potenziell lehrreiche Erfahrungsräume zu gestalten, in welchen der Spieler eine Sicherheit verspürt Fehler machen zu dürfen oder sich selbst in verschiedenen Funktionen und Rollen auszuprobieren. Darin sehe ich eher meine Aufgabe, auch in meiner individuellen Betreuung der Spieler, anstatt die Jungs bei jeder Entscheidung zu bevormunden und ihnen zu sagen, was sie meiner Meinung nach zu tun hätten. Beispielsweise sollte man es erlauben und respektieren, dass die Spieler ein Privatleben haben.

Es ist eine Haltung, die wir dem Spieler mit auf den Weg geben: Vermitteln wir, dass man von früh bis spät an den Fußball zu denken habe oder: ist weniger auch manchmal mehr? Ich habe schon oft Verantwortliche von den Vorteilen berichten hören die Spieler immer griffbereit zu haben. In Mainz wollten wir hingegen den Spielern Raum zur eigenen Gestaltung gegeben und ihnen ermöglichen eigene unabhängige Erfahrungen zu machen und auch Abstand zum Fußball entwickeln zu können. Dabei half ein Internat, welches nicht direkt vor Ort war, sondern wo die Spieler nochmal 10, 15 Minuten hinfuhren. Diese räumliche Distanz sollte auch eine mentale Distanz zum Fußballplatz ermöglichen. Zusätzlich wurde das Internat nicht von Mainz 05, sondern einem externen Träger betrieben, auch wenn sie dort natürlich sehr eng kooperierten. Ich habe immer gehofft, dass die Jungs da auch Mal Blödsinn machen können und das direkt vor Ort geregelt wird, ohne, dass alles zu uns durchsickert. Im Internat gab es auch Bewohner, die andere Ausbildungen machen und nicht nur Fußballer. Das empfinde ich auch durchaus als förderlich.

Ich glaube, dass es für die Identitätsbildung wichtig ist, nicht alles vorwegzunehmen und den Spieler nicht vor allem zu „beschützen“. Viel effektiver wäre es, den Spieler zu befähigen sein Umfeld selbst gestalten und sein Leben selbst managen zu können. Wenn der Spieler lernt, seine Lebenssituation selbstständig zu verändern, entwickelt er ein Gefühl von Wirksamkeit gegenüber seiner Situation und seinem Schicksal. Diese Selbstwirksamkeit ist für den gesamten Talententwicklungsprozess grundlegend. Am Ende geht es doch darum, dass er lernt, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Auf dem Spielfeld können wir ihm das auch nicht abnehmen. Manchmal sind das dann eben auch Entscheidungen, die wir gerne anders gehabt hätten. Das gehört dazu.

Auch Spieler, die kein Profi werden, entlassen NLZs ja in die Gesellschaft und wenn er für diesen Abschnitt seines Lebens im NLZ Kompetenzen und eine stabile Persönlichkeit entwickelt hat, dann ist das alle Mühen wert.“

Widerspricht so eine Persönlichkeitsentwicklung nicht häufig dem, wie der Leistungssport funktioniert mit seiner Reduktion des Wertes eines Menschen auf seine Leistungsfähigkeit?

Sicherlich hat der Leistungssport seine Schattenseiten. Die Forschung zeigt jedoch, dass Leistungs- und Mannschaftssport selbst helfen können die Persönlichkeit und Identität der Sportler zu entwickeln. Bei Brose Bamberg haben wir damals eine Informationsbroschüre herausgegeben, in der wir auch die Rubrik Von Bamberg in die Bundesliga des Lebens eingefügt haben. Spieler, die durch unser Programm gegangen sind und danach mit beiden Beinen fest in ihrem Leben standen, berichteten, wie Erfahrungen im Nachwuchsleistungssport ihnen auch auf ihrem weiteren Lebensweg geholfen haben.

Die ehemaligen Spieler nannten Dinge, wie: „Ich merke in meinem Unternehmen, dass es mir viel leichter fällt als anderen diszipliniert zu arbeiten und unterschiedliche Rollen anzunehmen, kooperativ zu arbeiten, gut und effektiv miteinander zu kommunizieren, zielstrebig zu sein.“ Wir nehmen also nicht nur von den Spielern, sondern geben auch viele Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung. Am NLZ hat man die Möglichkeit Menschen für ihr Leben danach und für die Gesellschaft vorzubereiten. Vielleicht sind es diese Menschen, die dann die zukünftigen Architekten der Kultur im Fußball und im Leistungssport sind. Die Vorstände, Trainer, Sportdirektoren der Zukunft. Denen Dinge mitzugeben und zu helfen für sich selbst Werte zu finden, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, sich Widerständen und Herausforderungen zu stellen, das ist etwas, das mir wahnsinnig viel gibt.

Auch Spieler, die kein Profi werden, entlassen NLZs ja in die Gesellschaft und wenn er für diesen Abschnitt seines Lebens im NLZ Kompetenzen und eine stabile Persönlichkeit entwickelt hat, dann ist das alle Mühen wert.

„In kaum einer anderen Sportart ist der Einzelne so sehr von seinen Mitspielern abhängig, wie im Fußball.“

Die in der Psychologie sehr populäre Selbstbestimmungstheorie kennt drei Grundbedürfnisse. Über Autonomie und Verbundenheit haben wir schon gesprochen. Das dritte ist Kompetenz. Inwieweit können die Spieler denn den richtigen Schluss ziehen und verstehen, dass sie zwar die überragenden Straßenkicker sein mögen, ein großer Teil ihrer Kompetenz aber auch von der Eingliederung in ein Team abhängt?

Wir haben bislang sehr viel über Beziehungen gesprochen. Beziehungen sind in gewisser Form auch ein Skill, den ich in einer Mannschaftssportart wie Fußball beherrschen muss. In kaum einer anderen Sportart ist der Einzelne so sehr von seinen Mitspielern abhängig. Ich kann alleine der überragende Kicker sein, aber wenn ich es nicht schaffe, meine Mitspieler auch besser zu machen, dann werde ich nicht erfolgreich sein. Das ist ja das, was den Fußball so spannend macht!

Es wird immer wieder versucht, top Einzelspieler zusammenzuholen jetzt haben wir es erst wieder bei PSG gesehen, dass es ziemlich schwierig ist, aus guten Einzelspielern eine funktionierende Einheit mit tragfähigen Beziehungen zu formen. Für den Innenverteidiger in der letzten Reihe vor dem Tor spielt beispielsweise Vertrauen gegenüber seinem Nebenmann eine sehr große Rolle. Der wird nur dann mutig nach vorne ausbrechen, um frühzeitig zu klären, wenn er das Vertrauen hat, dass sein Nebenmann die Lücke, die dann hinter ihm entsteht, schließt. Wenn der Innenverteidiger ihm aber nicht vertraut oder das Gefühl hat, er hat eine andere Spielidee, dann wird das für die Verteidigung zum Problem, weil nicht rechtzeitig attackiert wird. Insofern müssen Fußballspieler gewisse soziale Kompetenzen erlernen.

Im Kontext von Beziehungen höre ich immer wieder: „Die Jungs werden immer egoistischer, die wollen alle nur ihr Ding machen.“ Das deckt sich nicht unbedingt mit meiner Erfahrung. Auch die Forschung zeigt, dass es im Allgemeinen eher keine Entwicklung in diese Richtung gibt. Die ShellStudien, die sich damit beschäftigen, wie aktuelle Generationen im Durchschnitt gestrickt sind, zeigen, dass für Jugendliche soziale Werte wie Familie weiterhin außerordentlich wichtig sind. Auch wenn fraglich ist, wie das auf den kompetitiven Kontext des Leistungssports übertragbar ist, habe ich den Eindruck, dass die Mehrheit der Spieler Lust hat, sich einem Kollektiv zugehörig zu fühlen.

Dem gegenüber steht natürlich das Bedürfnis nach Autonomie, also in gewisser Hinsicht eine Loslösung vom Kollektiv. Auch Autonomiestreben gewann zuletzt auch an Bedeutung. Ich glaube, diese Einschätzung, dass Spieler immer egoistischer werden rührt daher, dass viele Spieler das System um sie herum mittlerweile besser verstehen. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Teamdienlichkeit letztendlich weniger oft belohnt als gepredigt wird.

„Kreative Lösungen entstehen oft bei der Auseinandersetzung mit Problemen“

Fehlt dem deutschen Jugendfußball die Bolzplatzmentalität? Es wird ja immer wieder behauptet, dass man wieder die unorthodoxen Dribbler braucht und nicht so die geradlinigen Spieler.

Zum einen – da sind wir in Deutschland nicht nur im Sport immer vorne dabei – empfinde ich diese Sicht sehr defizit-orientiert. Kritische Reflektion ist sinnvoll, braucht aber seinen Gegenspieler für eine gesunde Balance. Wir schauen zu oft: „Was haben wir nicht?“, anstatt den Blick auch darauf zu richten, welche Stärken die Jungs mitbringen. Indem wir beginnen diese Stärken, wie eine gewisse Geradlinigkeit, wertzuschätzen und zu kultivieren, können sie zu einem Wettbewerbsvorteil werden und einen individuellen Spielstil prägen. Aber natürlich kann beispielsweise Kreativität nur entstehen, wenn es Raum gibt, Dinge auszuprobieren, Fehler machen zu dürfen und psychologische Sicherheit gegeben ist. Wenn ich weiß, dass mich der Trainer nicht sofort auswechselt, sobald ich Dinge ausprobiere.

Wenn ich stattdessen dafür sogar Lob erhalte oder mir der Trainer Kreativität als explizites Ziel mitgibt. Das sind Rahmenbedingungen, die mir helfen können meine kreativen Potenziale zu explorieren. Kreativität auf dem Spielfeld bedeutet letztendlich mit Erwartungen zu brechen; etwas für den Gegner in diesem Moment Überraschendes zu tun. Wie kann man das schulen? Durch Raum und Anregung zum Ausprobieren von Neuem und Unerwartetem, sodass der Spieler unterschiedlichste Lösungsmöglichkeiten in petto hat und eine Intuition dafür entwickelt, diese gewinnbringend einzusetzen. Das heißt nicht, dass man die Spieler nicht vor Herausforderungen, Probleme oder Einschränkungen stellen darf. Im Gegenteil: Kreative Lösungen entstehen oft bei der Auseinandersetzung mit solchen Problemen.

Wichtig ist dabei, mit welcher inneren Haltung und in was für einer Umgebung der Spieler sich mit diesen Problemen auseinandersetzt. Bei so einer Freiheit, die dem Spieler gewährt wird, werden natürlich auch ganz viele Dinge nicht funktionieren. Das muss man akzeptieren und aushalten können und daran scheitert es aus meiner Sicht oft. Da sind wir wieder bei der Defizitorientierung: vielleicht sieht man es eben nicht so gerne, wenn die Dinge zunächst – im Sinne von Ergebnissen – nicht klappen und Zeit brauchen.

Da geht es dann darum, an welchen Leistungskriterien man sich im Nachwuchsleistungsfußball selbst misst. Was wollen wir genau sehen? Was bedeutet für uns Erfolg? Dass wir gegen einen kleinen Verein 12:0 gewinnen oder dass wir mutig sind, Dinge ausprobieren und damit womöglich im Sinne des Spielergebnisses auch scheitern? Der (Lern-)Prozess selbst hingegen kann trotz eines unerwünschten Ergebnisses überaus erfolgreich ablaufen!

(Photo by Maja Hitij/Getty Images)

„Ich habe bei vielen Trainern den Eindruck, dass sie tatsächlich ziemlich gute „praktische Psychologen“ sind.

Druck entsteht ja oftmals in dem unmittelbaren Umfeld, beispielsweise im Trainerteam. Wird in eurer Arbeit auch mit den Trainerteams gesprochen? Werden sie dahingehend auch geschult? Mangelt es Trainern an psychologischen Skills?

Das, glaube ich, kann man nicht so pauschal beantworten. Ich habe bei vielen Trainern den Eindruck, dass sie in ihrem Tätigkeitsfeld ziemlich gute „praktische Psychologen“ sind. Sie können aus einer Intuition heraus viele Dinge gut umsetzen. Wie bei allem gibt es auch hier immer Raum zur Weiterentwicklung. Deshalb glaube ich, dass auch diesen Trainern die Arbeit mit Psychologen weiterhelfen kann. Meine Kernaufgabe ist dann, vertrauensvolle Beziehungen zu gestalten und Angebote für die Trainer zu schaffen, die sie nutzen können oder nicht.

Die Trainerrolle bringt oft Konflikte mit sich. So ist auch der Trainer ein Mensch, der bestimmte individuelle Ziele und Bedürfnisse mitbringt, die er mit den individuellen Zielen der Spieler, der Mannschaft und der Organisation in Einklang bringen muss, um erfolgreich zu sein. Es ist völlig legitim, dass auch der Trainer in seiner Karriere weiterkommen will. Er ist dabei aber stark von seinen Spielern abhängig. Trainer müssen einen Weg damit finden, dass sie nur eingeschränkt Kontrolle über Spielgeschehen und -ergebnisse sowie Lernfortschritte ihrer Spieler besitzen. Das kann durchaus frustrierend sein.

Ich glaube, da ist ein Verständnis angebracht und ich habe großen Respekt vor den Herausforderungen eines Trainers. Da für einen Trainer neben seinem Fachwissen immer auch grundlegend ist, wie kompetent er in diesem vielfältigen und komplexen Job mit sich selbst und anderen umgehen kann, bin ich zu 100 Prozent davon überzeugt, dass eine kompetente psychologische Zusammenarbeit Trainer effektiv unterstützen kann. Aufgrund der Multiplikatorrolle des Trainers, der deutlich intensiveren Kontakt mit den Sportlern hat, ist sie oftmals sogar noch wirksamer als direkte psychologische Begleitung von Sportlern.

„Die Psychologie gehört nicht dem Psychologen im Verein.“

Was muss passieren, damit sich dein Beitrag, den du mit deiner Arbeit mit den Jugendlichen leistest, auf die gesamte deutsche Fußballkultur überträgt? Was braucht es an Strukturen und Institutionen?

Meiner Meinung nach gehört die Psychologie nicht dem Psychologen im Verein, sondern ist ein Leistungsfaktor, der bestenfalls von allen Stakeholdern bespielt wird, sodass ein regelmäßiger gemeinsamer, offener Austausch über psychologische Inhalte stattfindet. Mit oder ohne Psychologen, der im Raum sitzt. Im Optimalfall ist die Art dieser Interaktion auch noch psychologisch kompetent. Dafür braucht es zum einen die Offenheit und Ressourcen Mitarbeiter in diesen Bereichen in ihrer Entwicklung unterstützen und befähigen zu können.

Zum anderen ist ein Kulturwandel im Fußball notwendig, der solche Prozesse zum Standard werden lässt. Wichtig für Psychologen ist, ihr Wissen effektiv an Verantwortliche herantragen zu können. Wenn dadurch eine psychologisch informierte Kultur im Miteinander entsteht, dann wird diese Kompetenz im NLZ-System wirksamer. Das funktioniert schneller als der vorhin geschilderte Weg über Spieler als zukünftige Gestalter des Fußballs. Es gibt inzwischen Vereine, die im psychologischen Bereich sehr weit sind und dem Bereich viele Ressourcen bereitstellen.

Meiner Meinung nach gibt es jedoch noch nicht den einen Klub, der Sportpsychologie zu seinem USP gemacht hätte. Diese Lücke ist noch unbesetzt und ich hoffe, dass der Wettbewerb darum an Fahrt aufnimmt.

Das Interview führten Niklas Döbler und Marc Schwitzky

Marc Schwitzky

Erst entfachte Marcelinho die Liebe zum Spiel, dann lieferte Jürgen Klopp die taktische Offenbarung nach. Freund des intensiven schnellen Spiels und der Talentförderung. Bundesliga-Experte und Wortspielakrobat. Seit 2020 im 90PLUS-Team.


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