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Tuchel, die Spieler oder alle? Der FC Bayern und die Suche nach des Rätsels Lösung

1. Oktober 2023 | Spotlight | BY Michael Bojkov

Der FC Bayern und die Souveränität sind dieser Tage keine Synergie. Beim 2:2 in Leipzig klafften Anspruch und Wirklichkeit nicht zum ersten Mal in dieser Saison weit auseinander. Auf der Rückfahrt nach München hat der Rekordmeister erneut Fragezeichen im Gepäck.

Der FC Bayern und die fehlende Souveränität

„Momentan ist es ein bisschen schwierig zu erklären, warum wir wieder so eine erste Halbzeit spielen“, waren die Worte von Joshua Kimmich (28) nach einem Spiel, in denen der FC Bayern zwei Gesichter zeigte. Nach einer guten Anfangsphase, in der Jamal Musiala (20) beinahe das 1:0 erzielte, ließen die Münchner mit zunehmenden Dauer des ersten Durchgangs auch zunehmend mehr vermissen. Man habe „Probleme gegen die Topteams, das über 90 Minuten konstant gut zu gestalten“, monierte der Kapitän am Sky-Mikrofon.



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In der Tat hatte der FC Bayern in allen Partien, über denen in irgendeiner Form das Wörtchen Topspiel schwebte, Phasen, in denen der Gegner überlegen war. Am ehesten davon ausgenommen ist noch der Supercup gegen RB Leipzig, den man paradoxerweise mit 0:3 verlor. Gegen Angstgegner Gladbach hingegen gab man zwischenzeitlich die Spielkontrolle ab, ließ den Gegner das 1:0 und beinahe auch noch das zweite Tor erzielen. Im Spitzenspiel gegen Leverkusen vor zwei Wochen schaffte es die Werkself teilweise lächerlich einfach, zwischen die Münchner Verteidigungsketten zu kommen und aufzudrehen. Zwei Gegentore waren die Konsequenz. Und auch in der Champions League ließ sich die Mannschaft von Thomas Tuchel (50) gegen ein zu Beginn hoch pressendes Manchester United überraschen, später den Gegner leichtsinnig wieder in die Show kommen, sodass es trotz langer Zwei-Tore-Führung hintenraus noch einmal eng wurde.

Fand Tuchel seinen Meister in Rose?

Die deutlichen Siege gegen Bochum (7:0) und in Münster (4:0) waren in der laufenden Saison die einzigen Partien, in denen der FC Bayern zu jeder Spielphase die Kontrolle über Ball und Gegner hatte. Das waren zugegebenermaßen aber auch die leichtesten Gegner. In Leipzig schwammen die Münchner nahezu eine komplette Halbzeit gegen heftige Strömungen. „Vielleicht lag es am Plan, nehme ich auf meine Schulter“, zeigte sich Tuchel nach dem Spiel selbstkritisch. Auch wenn es auf dem Platz kaum danach aussah: Einen Matchplan gab es in der Tat und Tuchel scheute sich nicht davor, diesen im Nachgang der Partie auch vor laufender Kamera zu erläutern. Ziel sei es demnach gewesen, in einer 3-2-Struktur aufzubauen, um eine Überzahl gegen die vier Leipziger Angreifer herzustellen und auch bei Gegenstößen des Gegners hinten genug absichernde Verteidiger zu haben.

Die Dreierkette hinten war auch für den Zuschauer auf dem Feld zu sehen: Im eigenen Ballbesitz schob Linksverteidiger Alphonso Davies (22) hoch, während sein Pendant auf rechts, Konrad Laimer (26), in der letzten Kette blieb. So wurde aus einer nominellen Vierer- eine Dreierkette hinten, mit Kimmich und Leon Goretzka (28) davor auf der Doppelsechs. Vor dem Spiel habe es sich „nicht so angefühlt, dass wir die Kontrolle im Spiel verlieren könnten“, konstatierte Kimmich nachdenklich. Im Spiel mit Ball taten sich die Münchner allerdings extrem schwer. Zum einen, weil es der Gegner sehr geschickt machte, gegen den Ball kompakt verschob und Kimmich sowie Musiala in Manndeckung nahm. Damit waren Tuchels einzigen Kreativspieler aus dem Spiel genommen. Man könnte also damit argumentieren, dass RB-Trainer Marco Rose (47) auf der Taktiktafel das richtige Gegenmittel wählte.

Im ersten Durchgang war Leipzig am Jubeln, der FC Bayern nur Zuschauer.

Im ersten Durchgang war Leipzig am Jubeln, der FC Bayern nur Zuschauer. (Photo by Alexander Hassenstein/Getty Images)

Individuelle Fehler und die „Mentalitätsfrage“ beim FC Bayern

Es gab aber noch viel mehr Gründe, warum der FC Bayern im ersten Durchgang zwei Tore kassierte und keins selbst schoss. Musiala nannte das Kind beim Namen: „Wir haben keinen Rhythmus gehabt, keine Abläufe, viele Ballverluste, sind nicht genug in die Zweikämpfe gegangen.“ Der FC Bayern war „zu statisch und das Spiel war zu langsam“, ergänzte Tuchel. Ein mentaler Aspekt? Es hänge davon ab, „Plan hin oder her, wie viel Leben wir da reinkriegen“, so Tuchel.

Im ersten Durchgang habe die Mannschaft nicht gelebt. Dass die Halbzeitansprache etwas lauter ausfiel als gewöhnlich, daraus machte der 50-Jährige keinen Hehl. Nach dem Seitenwechsel lief es dann wie auf einen Schlag besser. Auch, weil der Gegner müder und mit zunehmender Spieldauer passiver wurde. Insbesondere aber, weil die Körpersprache der Bayern-Spieler eine andere war, sie gedanklich schneller wurden, die Laufwege machten und dadurch auch das Spiel ein viel höheres Tempo bekam.

Es ist kein neues Phänomen und liegt auch irgendwo tief in der Natur dieses Fußballklubs, dass die Mannschaft da ist, wenn sie da sein muss. Der negative Umkehrschluss ist, dass sie zu oft nicht da ist, wenn sie eben nicht muss. In dem Punkt ist die Eigenverantwortung der Spieler gefragt. Die Münchner haben sich allein in der laufenden Spielzeit bereits wiederholt Spielphasen erlaubt, in denen sie schlichtweg nicht auf dem Platz waren. Das kann auch als Erklärungsansatz für die vielen individuellen Fehler dienen, die sich auch in Leipzig einschlichen. Beim ersten Gegentor schob erst Dayot Upamecano (24) völlig ohne Zwang nach vorne und öffnete damit den Raum, dann stellte Min-jae Kim (26) den Gegner ungeschickt und verpasste den Block, fälschte sogar noch unglücklich und wohl entscheidend den Schuss ab.

Beim zweiten Gegentreffer schätzte Sven Ulreich (35) einen Eckball falsch ein, ehe seine Vorderleute trotz Überzahl im Raum die Leipziger zum Schuss kommen ließen. Es war „komplett das gegenteilige Verhalten von dem, was wir eigentlich wollten“, war Tuchels vernichtendes Urteil zu einer ersten Halbzeit, in der aufseiten der Gäste nichts funktionierte. Schuld daran tragen sowohl die Spieler als auch der Trainer. Tuchel muss seine taktische Herangehensweise hinterfragen beziehungsweise wie er diese seinen Spielern vermittelt und im Zweifel auch früher Anpassungen während des Spiels vornehmen. Genauso ist die Eigenverantwortung der Spieler gefragt. Es reicht auf Dauer nicht, erst dann da zu sein, wenn es mindestens zwei Tore braucht. 

Gerade im Hinblick auf die dünne Personaldecke beim FC Bayern ist es für Tuchel wichtig, Profis zu haben, auf die er sich verlassen kann. Im Moment ist das mit Ausnahme von einigen wenigen wie Harry Kane (30) und Leroy Sané (27) nicht der Fall. Dass ausgerechnet die beiden auch die Tore zum 1:2 und 2:2 erzielten, steht sinnbildlich für eine Mannschaft, deren Erfolg nach sechs Spieltagen noch zu stark von der individuellen Klasse einzelner abhängt.

Michael Bojkov

(Photo by RONNY HARTMANN/AFP via Getty Images)

Michael Bojkov

Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.


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