„Der BVB ist ein ernster Meisterschafts-Kandidat“ – Das Experten-Panel zur Bundesliga

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90PLUS: Kostspielige Transfers, Abgänge zahlreicher Schlüsselspieler und dazu ein neuer Trainer, der über keine Erfahrungen auf höchstem Coaching-Niveau verfügt – Borussia Dortmund gleicht aktuell einer Wundertüte. Was erwartest du vom „neuen“ BVB?

CM: Der BVB hat sehr spannende Transfers getätigt. Waldemar Anton zählte zu den besten Verteidigern der vergangenen Saison. Maximilian Beier war Senkrechtstarter und wurde noch EM-Teilnehmer. Was Pascal Groß kann, durfte die Premier League sieben Jahre lang bewundern. Spannend finde ich den Wechsel von Yan Couto, den Manchester City an Girona verliehen hatte. Couto kam vergangene Saison auf einen Treffer und zehn Vorlagen. Er war somit ein wichtiger Baustein für den Einzug in die Champions League. Fragezeichen gibt es dennoch: Wie schnell funktioniert Nuri Sahin beim BVB? Wann ist Serhou Guirassy tatsächlich fit? Wie schnell bildet sich nach den Abgängen von Mats Hummels und Marco Reus ein neues Gerüst? Und was ist mit der Unruhe hinter den Kulissen rund um Sven Mislintat? So etwas kann einen ganzen Verein belasten. Die Meisterschaft sehe ich nicht, aber Dortmund wird wieder in den Top-Vier landen, selbst die Vizemeisterschaft würde ich nicht ausschließen.

EP: Für mich hat Dortmund in der Bundesliga den besten Job auf dem Transfermarkt gemacht. Beier, Anton, Groß, Couto, dazu Guirassy (wenn er fit ist) – damit ist der BVB wieder ein ernster Meisterschafts-Kandidat. Ich denke nicht, dass die Fans Hummels oder Füllkrug lange hinterher trauern werden. Der Druck auf Trainer Sahin ist dementsprechend groß. Bisher macht er einen souveränen Eindruck auf mich. Ich traue ihm zu, mit Dortmund um Titel mitzuspielen.

TG: Der BVB geht mit der Personalie Nuri Sahin ein großes Risiko. Nach Edin Terzic setzt man wieder auf einen unerfahrenen Trainer mit enger Bindung zum Verein. Allerdings hat sich der neue Coach auf die Fahne geschrieben, wieder mitreißenderen Fußball spielen zu lassen, was deutlich besser zur Vereins-DNA passt als der biedere, wenn auch mitunter erfolgreiche Ansatz unter Terzic. Die Transferphase der Dortmunder bewerte ich als sehr positiv. Maximilian Beier ist eines der größten deutschen Sturm-Talente Serhou Guirassy ist ein klares Upgrade gegenüber Niclas Füllkrug, den man bei dem lukrativen Angebot von West Ham definitiv ziehen lassen musste. Pascal Groß wird dem Spiel von der Sechs Struktur geben, ein spielstarker defensiver Mittelfeldspieler fehlte dem BVB zuletzt. Auch Yan Couto dürfte das Spiel mit seiner offensiven Art beleben. Ich erwarte in der neuen Saison einen BVB, dem man wieder gerne beim Kicken zuschaut. Für ganz oben wird es nicht reichen, aber Borussia Dortmund wird sich direkt hinter dem FC Bayern, Bayer 04 Leverkusen und RB Leipzig einreihen.

90PLUS: Der befürchtete Ausverkauf ist bei Bayer Leverkusen bislang nahezu vollständig ausgeblieben. Dazu hat sich die Werkself weiter intelligent verstärkt. Gelingt dem deutschen Meister die Titelverteidigung? 

CM: Kann Leverkusen damit umgehen, von Tag eins in der Rolle des Gejagten zu bestehen? Der Kader bringt weiterhin alles mit, Trainer Xabi Alonso wird seinen persönlichen nächsten Entwicklungsschritt gehen. Ich bin gespannt, wie Bayer damit umgeht, dass man mindestens acht Champions League-Partien hat. In der vergangenen Saison profitierte die Werkself auch davon, eine ganz leichte Europa League-Gruppe erwischt zu haben. Dadurch konnte Alonso viel rotieren und die Laune hochhalten. Ob das so auch in der Königsklasse gelingt? Es gibt allerdings enorm viele Punkte, die für eine Titelverteidigung sprechen: Eine unfassbare Offensivwucht mit Florian Wirtz, Victor Boniface oder Jeremy Frimpong. Bayer hat sein Gerüst zusammengehalten, vor allem der Transfer von Aleix Garcia ist ein Coup. Martin Terrier begann denkbar schlecht mit der Roten Karte, doch 82 Torbeteiligungen in 202 Ligue 1-Partien sprechen für Qualität. Bayer ist Titelanwärter, wenngleich ich darauf wetten werde, dass der FC Bayern wieder ganz oben landet und sich den Platz an der Sonne zurückerobert.

EP: Alle Meister-Helden gehalten zu haben, ist eine Riesen-Leistung der sportlichen Führung. Dazu kam mit Aleix Garcia ein Top-Spieler, der die Liga aufmischen wird. Leverkusen geht als Top-Favorit in die neue Saison. Sie sind eingespielt, unfassbar hungrig und haben mit Xabi Alonso den mit Abstand besten Trainer der Liga. Aber: Die Dreifach-Belastung mit Pokal und Champions League wird diesmal schwerer zu handeln sein. Die Gegner werden noch motivierter sein, Wirtz & Co. ein Bein zu stellen. Wenn ich mich aber jetzt festlegen müsste, würde ich sagen: Leverkusen gelingt die Titelverteidigung – aber natürlich nicht wieder mit 17 Punkten Vorsprung.

TG: Der Ausverkauf ist nicht nur ausgeblieben, der Kader ist sogar dank der Neuverpflichtungen Martin Terrier und Aleix Garcia noch stärker und vor allem breiter aufgestellt als in der Vorsaison. Jede Position ist doppelt gut besetzt, zudem rückt ein Abgang von Jonathan Tah mehr und mehr in die Ferne. Meistermacher Xabi Alonso ist geblieben, dazu wirkt das Team mit der Achse aus Lukas Hradecky, Alejandro Grimaldo, Granit Xhaka und Florian Wirtz zu gefestigt, um einzubrechen. Eine weitere Saison ohne Niederlage ist natürlich Utopie, aber auch 2024/2025 wird der Titel nur über Bayer Leverkusen gehen. Spannend wird, wie sich die Werkself in der Champions League gegen die besten Europas behaupten kann.

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Leistungsgefälle ab Platz sechs: Was passiert dahinter?

90PLUS: Hinter der „Big Five“ ist die Bundesliga leistungstechnisch extrem nah beieinander. Die letzte Saison hat gezeigt, dass zwischen Abstiegskampf und Europapokalplätzen oft nur wenige Punkte liegen. Welchen Teams traust du in diesem Jahr einen Angriff auf die internationalen Ränge zu? 

CM: Die Bundesliga-Tabelle 2023/24 war nicht so schwer prognostizierbar. Der VfB und Heidenheim waren die Ausreißer nach oben, Wolfsburg und Union Berlin die großen Enttäuschungen. Sollte es Ralph Hasenhüttl gelingen, das Potenzial herauszukitzeln, ist bei Wolfsburg ein Sprung nach oben möglich. Gespannt bin ich auf Gladbach. Können sie ihren Abwärtstrend der vergangenen Jahre stoppen und den „Turnaround“ einläuten? Oder zieht der FC Augsburg einmal sein „Graue-Maus“-Kostüm aus mit einem prominenten Namen wie Marius Wolf? Ansonsten sehe ich in der Liga tatsächlich wenig Substanz, die Top-Sechs der vergangenen Saison ernsthaft anzugreifen.

EP: Im Normalfall sind die ersten vier Plätze mit Leverkusen, Bayern, Dortmund und Leipzig gebucht. Stuttgart wird diese Saison Probleme bekommen – ein internationaler Platz wäre schon ein Riesen-Erfolg. Frankfurt sehe ich auf Platz fünf. Gladbach und Wolfsburg werden diesmal ums internationale Geschäft kämpfen. Auch Mainz und Freiburg rechne ich Chancen aus.

TG: Es wäre bereits eine Überraschung, wenn jemand anderes als Bayern, Leverkusen, Leipzig, der BVB und Stuttgart die ersten fünf Plätze erreichen würde. „Best of the rest“ ist für mich rein von der individuellen Qualität her Eintracht Frankfurt. Die Hessen haben sich schlau verstärkt, zudem kam Hugo Ekitiké zum Ende der letzten Spielzeit immer besser ins Rollen. Allerdings gelang es Dino Toppmöller bisher selten, die vorhandene Klasse in überzeugende Auftritte umzuwandeln. Der Trainer muss dringend Argumente sammeln. Ab Platz sieben entscheiden Nuancen darüber, ob man um die europäischen Ränge oder gegen den Abstieg spielt. Den VfL Wolfsburg und den SC Freiburg sehe ich jedoch eher im Kampf um die Conference League als im Rennen um den Ligaverbleib.

90PLUS: Mit Holstein Kiel und dem FC St. Pauli sind zwei vermeintlich kleinere Klubs in die Bundesliga aufgerückt: Was können die Aufsteiger reißen und mit welchen Teams werden sie um den Klassenerhalt konkurrieren müssen? 

CM: Das Glück von Pauli und Holstein Kiel ist, dass der 1. FC Heidenheim möglicherweise mit Dreifachbelastung in die neue Saison geht. Sie haben mit Jan-Niklas Beste, Tim Kleindienst und Eren Dinkci drei Leistungsträger verloren. Trotz Paul Wanner ist der FCH ein Kandidat für die Kellerregion. Ähnliche Gefahr sehe ich aktuell bei der TSG Hoffenheim. Die TSG hat erfahrene Spieler verloren, mit Ozan Kabak und David Jurasek fehlen vermeintliche Stützen langfristig. Man hat Maxi Beier abgegeben und auf dem Transfermarkt herbe Rückschläge hinnehmen müssen. Dazu die Dreifachbelastung. Ich weiß nicht, was auf dem Transfermarkt noch passiert. Doch die aktuelle Lage spricht nicht dafür, dass die TSG wieder oben angreift. Das Bosse-Beben rund um die Demission von Alexander Rosen liefert Zutaten, die für eine schwierige Saison sprechen. Und ich schaue mit Spannung darauf, ob die Personalie Julian Schuster nach der Ära Christian Streich greift. Wenn es gut geht, dann erlebt der SCF eine ruhige Saison. Wenn das schief geht, kann es auch ungemütlich werden.

EP: Ein zweites Heidenheim wird es nicht wieder geben. Kiel und St. Pauli werden den Abstieg wohl kaum verhindern können. Ich bin mir fast sicher, dass auch Bochum den Gang in die zweite Liga antreten muss. Auch Augsburg und Heidenheim werden etwas zittern müssen. Und Hoffenheim könnte in einen gefährlichen Negativ-Strudel geraten.

TG: Beide Nordklubs werden es extrem schwer haben. Für Kiel ist es ist die erste Saison in der Bundesliga überhaupt, das alleine macht die Störche zum krassen Außenseiter. Der Kader ist jedoch größtenteils zusammengeblieben. Gelingt es der Mannschaft von Trainer Marcel Rapp, die Aufstiegseuphorie mit in die ersten Spieltage zu nehmen, kann Kiel zu Saisonbeginn einige etablierte Bundesligisten ärgern. Der FC St. Pauli musste dagegen Unterschiedsspieler Marcel Hartel und Erfolgstrainer Fabian Hürzeler ziehen lassen. Neben den Aufsteigern ist der VfL Bochum Abstiegskandidat Nummer eins. Die Bochumer haben mit Kevin Stöger unheimlich an Qualität verloren, mit Bernardo fällt ein Schlüsselspieler verletzt aus und will den Verein verlassen. Hinzu kommt das Theater um Manuel Riemann, der sich vor dem Arbeitsgericht wieder ins Mannschaftstraining klagen will. Nach dem blamablen Aus im DFB-Pokal muss der VfL schnell die Kurve kriegen.

(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)

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