Deutscher Meister – mit Wiederholungspotenzial? Bayer 04 in der Rolle des Gejagten
21. August 2024 | Spotlight | BY Michael Bojkov
In Leverkusen ticken die Uhren seit dem Frühsommer anders. Bayer 04 war jahrzehntelang Jäger und ist nun plötzlich selbst der Gejagte. Wie gehen Fans, Klub und vor allem die Spieler damit um? Klar ist: An Substanz hat die Mannschaft nicht verloren – eher im Gegenteil.
Es war eine Saison für die Geschichts- und Rekordbücher dieser Welt. Bayer 04 Leverkusen gelang es als erste Bundesliga-Mannschaft überhaupt, ohne eine einzige Niederlage durch die Saison zu kommen. Der Lohn war die Meisterschale – gleichwohl die erste der Vereinshistorie. Dekoriert wurde die für alle unvergessliche Saison 2023/24 mit dem Pokalsieg. Einzig der Triumph in der Europa League blieb Erfolgstrainer Xabi Alonso und seiner Mannschaft verwehrt, Weil Leverkusen ausgerechnet im Finale gegen Atalanta seine erste Pflichtspielniederlage seit über einem Jahr kassierte. Ein Beinbruch war das verpasste Triple für die Mannschaft nicht, zum Saisonabschluss überwogen Freude über das erste Tafelsilber seit 31 Jahren und Aufarbeitungsversuche des historisch Geleisteten.
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Bayer 04 startet die Mission Titelverteidigung
Mit dem Erfolg – so ist das naturgemäß – wächst auch die Erwartungshaltung von außen. Das ist auch in Leverkusen nicht anders. Am stärksten in die Pflicht nehmen sich aber die Spieler selbst, wie Granit Xhaka deutlich machte. „Wir wollen angreifen“, kündigte der Mannschaftskapitän noch im Rahmen der Double-Feierlichkeiten im Hinblick auf die nächste Saison an. „Wir werden genauso weitermachen.“ Warum auch nicht? Indizien, dass die Leverkusener Erfolgsgeschichte nach ihrer Entstehung alsbald auch wieder enden sollte, gibt es für den Moment keine. Zu gefestigt wirkt das Uhrwerk Bayer 04.
Das liegt auch daran, dass die Erfolgsmannschaft zusammengeblieben ist. Der sportlich einzig nennenswerte Abgang ist der von Josip Stanisic. Den Defensivakteur, der in der vergangenen Saison immerhin vier Tore und sechs Vorlagen in allen Wettbewerben beisteuerte, zog es nach Leihende zurück nach München. Verschmerzbar ist sein Verlust aber allemal, zumal mit Edmond Tapsoba, Odilon Kossounou, Piero Hincapié und auch Bayern-Flirt Jonathan Tah vier wichtige Spieler für die Dreierkette geblieben sind. In der Bundesliga kassierten sie im Verbund mit Torhüter Lukas Hradecky nur 24 Gegentreffer und bildeten damit die mit Abstand sicherste Hintermannschaft.
Zudem hat sich Bayer 04 mit Jeanuël Belocian aus Rennes verstärkt, der trotz seines jungen Alters von 19 Jahren schon 32 Einsätze in der Ligue 1 und sechs weitere in der Europa League auf dem Buckel hat, zudem unter Thierry Henry für die französische U21-Auswahl debütierte. Für den Fall, dass einer der etablierten Verteidiger doch noch den Verein lässt, was Stand jetzt zumindest nicht ausgeschlossen ist, bemüht sich Bayer 04 angeblich auch um die Dienste von Liverpools Sepp van den Berg (90PLUS berichtete).
Das Herzstück bleibt die Mittelfeldzentrale
Am namhaftesten hat sich der deutsche Meister im Mittelfeld verstärkt, wo mit Aleix García das Aushängeschild des spanischen Überfliegers aus Girona kommt. Der 27-Jährige ist einer der besten spanischen Strategen der vergangenen Jahre und passt perfekt zu dem dominanten und auf Ballbesitz ausgelegten Fußball, den Alonso weiterhin spielen lassen möchte. An der Seite von Xhaka würde García eine der ballsichersten und technisch versiertesten Schaltzentralen Europas bilden. Dabei hat Bayer in Exequiel Palacios ja eigentlich schon einen technisch soliden Sechser, der mit seinen offensiven Läufen für zusätzliche Torgefahr aus dem Mittelfeld sorgen kann. Und dann wäre da noch Robert Andrich, der sich in erster Linie als Abräumer und Mentalitätsbiest einen Namen unter dem Bayer-Kreuz gemacht hat, in der vergangenen Rückrunde mit dem einen oder anderen wunderschöneren Tor aus der Distanz aber auch versteckte technische Qualitäten aufblitzen ließ.
Der deutsche EM-Fahrer hat erst vor wenigen Tagen seinen Vertrag bis 2028 verlängert und damit seinen Wert für Bayer 04 unterstrichen. Der Maschinenraum der Mannschaft, der so ausschlaggebend für die historische Double-Saison war, wurde im Sommer also nochmal aufgerüstet. Ebenfalls neu im Team ist Martin Terrier, der für 20 Millionen Euro zusammen mit Belocian von Stade Rennes kam. Der 27-Jährige bringt Tempo, Gradlinigkeit und einen guten Schuss mit, kann vorne links, hängend oder als Spitze, aber auch im Halbraum eingesetzt werden. Für Alonso und seine Mannschaft dürfte er vor allem als Joker wertvoll werden. Nicht aber, weil er zu schwach, sondern Bayer 04 auch vorne schlicht und ergreifend zu hochklassig besetzt ist.
Machen Wirtz und Boniface erneut den Unterschied?
In seinem womöglich letzten Jahr im rot-schwarzen Trikot soll Florian Wirtz erneut der Unterschiedsspieler sein, an seiner Seite auf der Doppelzehn wird, je nach Gegner, Amine Adli, Jonas Hofmann oder eben Terrier auflaufen, während Victor Boniface auf der Neun an seine starke Trefferquote aus dem Vorjahr (wettbewerbsübergreifend 21 Tore in 34 Pflichtspielen) anknüpfen will und in Patrik Schick einen hervorragenden Joker im Nacken sitzen hat. Flankiert werden sollen die beiden erneut von Jeremie Frimpong und Alejandro Grimaldo, die es im Vorjahr zusammen auf sage und schreibe 58 (!) Torbeteiligungen brachten – als Schienenspieler wohlgemerkt.
Dass bei all der vorhandenen Klasse kein Platz mehr für den zweifelsohne talentierten Adam Hlozek war, ist nur verständlich. Der flexibel einsetzbare Angreifer wechselte daher für 17 Millionen Euro fest zur TSG Hoffenheim.
In Summe verfügt Bayer 04 nicht nur über den wahrscheinlich ausbalanciertesten, sondern auch mit den individuell stärksten Kader der Liga. Die Mannschaft ist eingespielt und die Neuzugänge passen maßgeschneidert zu Alonsos Fußball.
Hat Bayer überhaupt Schwächen?
Um bei Bayer 04 Schwachstellen zu entdecken, muss man schon gezielt nach ihnen suchen. Schaut man auf die Testspielergebnisse, sticht eines davon negativ heraus: Neben einem Sieg gegen Rot-Weiß Essen und Unentschieden gegen Lens und Betis ging die Werkself 1:4 im Emirates unter. In jeweiliger (Fast-)Bestbesetzung erwies sich die Spielstärke der Gunners für eine an diesem Tag desoltate Werkself als eine Klasse zu hoch. Gegen den Ball hatte die Elf von Xavi Alonso besonders im ersten Durchgang kaum Zugriff, verlor alle wichtigen Duelle und warf dazu mit individuellen Aussetzern Fragezeichen auf. Auch im Supercup gegen Stuttgart, den der deutsche Meister mit 4:3 im Elfmeterschießen gewann, machte die Leverkusener Dreierkette keinen sattelfesten Eindruck, die zwei Gegentore nach regulärer Spielzeit waren das Resultat einer in vielen Szenen nachlässigen Defensivleistung. In Frühform befindet sich die ligaweit mit Abstand beste Abwehr der Vorsaison also nicht.
Bayer 04 und die schwarze Magie
Dafür scheint sich die Mannschaft auch in dieser Saison auf die schwarze Magie verlassen zu können. Späte Tore waren auf dem Weg zum Double ein absoluter Schlüsselfaktor, von dem Stürmer Schick nun auch im ersten Pflichtspiel gegen Stuttgart „Gebrauch machte“ und seinem Team nach 88 Minuten den Ausgleich zum 2:2 besorgte. Das späte Tor des Tschechen, der Sieg im Elfmeterschießen, bei dem kein Leverkusener Schütze verfehlte, und als Lohn dessen direkt das erste Tafelsilber der Saison waren am Ende die Überschrift. Bayer 04, das ist sicher, hat jeder Menge Selbstbewusstsein im Tank – und das noch bevor die Mission Titelverteidigung überhaupt begonnen hat.
Ob die Werkself im kommenden Mai erneut die Schale in den Himmel recken darf, hängt selbstredend auch von der Konkurrenz ab. Und da ist sowohl beim BVB als auch beim FC Bayern im Vergleich zur jeweils schwachen Vorsaison eine Verbesserung zu erwarten. Klar ist aber auch, dass beide Kontrahenten mit neuen Trainern an den Start gehen und aus Fragzeichen erst einmal klare Fakten schaffen müssen. Das hat Leverkusen längst getan. Eine Titelverteidigung – so viel ist sicher – liegt für die Alonso-Elf absolut im Bereich des Machbaren und sollte in dieser Jahr auch den letzten nicht mehr überraschen.
Text von Michael Bojkov
(Photo by Alex Grimm/Getty Images)
Michael Bojkov
Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.