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Weißt du noch…? | Saisonfinale 2001: Drama zwischen Bayern und Schalke

19. Mai 2021 | Trending | BY Victor Catalina

Spotlight | Es war das wohl dramatischste Saisonfinale, das die Bundesliga in mittlerweile 59 Jahren erlebt hat. Am 19. Mai 2001 standen sich der FC Bayern und der FC Schalke 04 im Fernduell gegenüber. Tief in der Nachspielzeit fiel die Entscheidung einer irrsinnigen Saison, in der letztendlich beide feiern durften.

„Das hat nichts mehr mit Fußball zu tun!“ – Beckenbauer schießt gegen wackelige Bayern

Er begann eigentlich relativ unschuldig, der 19. Mai 2001. Freundliches Frühlingswetter, ab und zu kamen auch ein paar Wolken dazwischen, aber ansonsten war alles ruhig. Fast schon zu ruhig.

Klar war, dass an diesem Tag die Meisterschaft entschieden werden würde. Entweder war es der FC Bayern, der nach 1999 und 2000 seinen Titel-Hattrick perfekt machen konnte. Oder Schalke holte die erste Meisterschaft seit 1958, was inzwischen auch schon 43 Jahre her war.

Die Spielzeit an sich war größtenteils ausgeglichen. Der FC Bayern bewegte sich immer im Dunstkreis der Tabellenführung, ließ größzügigerweise aber auch Mannschaften wie Leverkusen, Dortmund, Hertha und natürlich Schalke am Gefühl teilhaben, die Bundesliga anzuführen. Bis zum 32. Spieltag standen für den Rekordmeister 14 nicht gewonnene Spiele zu Buche, fünf Unentschieden und neun Niederlagen. Sechs davon gegen Gegner aus der unteren Tabellenhälfte. Das, in Tateinheit mit einem 0:3 gegen Lyon in der Champions League, veranlasste den damaligen Präsidenten Franz Beckenbauer zu einem regelrechten Loblied auf seine Mannschaft.

 

 

„Die Frage ist immer, wie man ein Spiel verliert. Das war heute eine Blamage. So, wie wir gespielt haben, das hat nichts mit Fußball zu tun. Das ist eine andere Sportart, die wir spielen. Wir haben zugeschaut, wir haben körperlos gespielt. Das ist nicht Fußball, das ist Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft, Altherrenfußball! Tut mir Leid,wenn ich das so sagen muss. Es ist so. Es hat von der Tribüne aus vermutlich noch schlimmer ausgesehen, als ihr es unten auf dem Platz mitbekommen habt.“

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„In handgestoppten Zwokommadrei Sekunden ist der FC Bayern München deutscher Fußballmeister geworden!“ – oder auch nicht

Eine Woche später, am 33. und vorletzten Spieltag stand für den FC Bayern ein Heimspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern an, Schalke spielte parallel in Stuttgart. Beide Titelaspiranten standen zu dem Zeitpunkt bei 59 Zählern, Schalke führte die Tabelle aufgrund der leicht besseren Tordifferenz an. Nach nur fünf Minuten brachte Vratislav Lokvenc den FCK in Führung, die Carsten Jancker zehn Minuten nach Wiederanpfiff ausglich. In Stuttgart tat sich derweil nicht viel. Erst in der Nachspielzeit wurde es wieder interessant. Sekunden vor Schluss brachte Ottmar Hitzfeld Alexander Zickler für Hasan Salihamidzic. Und ab hier nahm der Irrsinn seinen Lauf.

Hansi Küpper und der zum Saisonende scheidende Tom Bayer begleiteten die Spiele damals in der „Kick-Konferenz“. Zickler bekam einen langen Ball auf den linken Flügel serviert.

Küpper: „Und vielleicht nochmal die Möglichkeit, kein Abseits, Zickler. Die letzten Sekunden, regulär…“

Bayer: „TOOOOOOOOOR IN STUTTGART!“

Küpper: „Und das Tor fällt…HIER! Und in Stuttgart! Wahnsinn! Wahnsinn! Tom Bayer!“

Bayer: „Ich würde sagen, in handgestoppten Zwokommadrei Sekunden ist der FC Bayern München deutscher Fußballmeister geworden!“

Zuerst zog Zickler vom linken Flügel nach innen sein Abschluss wurde noch geblockt. In diesem Moment versenkte Krassimir Balakov einen Distanzschuss zum 1:0-Endstand gegen Schalke, danach kam Zickler in München noch ein zweites Mal an die Kugel und hämmerte sie in den rechten Winkel. Man konnte die Abfolge der Ereignisse genau an Zicklers Torjubel ablesen. Erst Erleichterung, dann pure Ekstake. Irgendjemand muss auf die Idee gekommen sein, den Spielstand aus Stuttgart auf der Anzeigetafel des Münchener Olympiastadions durchzugeben.

Damit erhöhte der FC Bayern last-minute auf 62 Punkte, Schalke blieb bei 59. Heißt im Klartext: Ein Unentschieden in Hamburg und die 17. Meisterschaft der Vereinsgeschichte ist fix. Schalke stand derweil gegen Unterhaching unter Siegzwang.

Schalke macht die Hausaufgaben – Hoffen auf einen Blackout von Bayern in Hamburg

Es war die vorletzte Saison für S04 unter Huub Stevens. Für das Schalker Parkstadion war es die letzte, bevor es in die „Arena auf Schalke“ ging – und das letztes Heimspiel. Die Wolken, die am Vormittag des 19. Mai 2001 noch über Gelsenkirchen hingen, hatten sich inzwischen verzogen und die Fans tauchten das Parkstadion ein letztes Mal in blau und weiß. Selten waren die Schalker Hoffnungen auf die Meisterschaft so groß, wie in dieser Saison. Man spielte mit dem FC Bayern auf Augenhöhe, hatte sogar beide Spiele gegen die Münchener gewonnen, 3:2 in Gelsenkirchen, 3:1 in München, als Ebbe Sand dreifach traf.

Nun galt es nur noch, das abstiegsbedrohte Unterhaching zu besiegen und auf Schützenhilfe aus Hamburg zu hoffen. Aber beides lief anfangs eher mittelmäßig. André Breitenreiter brachte Haching schon in der 3. Minute in Führung, bevor Miroslaw Spitzak in der 26. auf 0:2 erhöhte.

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Also, dasselbe Programm wie ein Jahr zuvor, als Unterhaching den FC Bayern mit einem 2:0 gegen Leverkusen zum Meister machte? Nicht ganz. Denn kurz vor der Pause stellten Nico van Kerckhoven und Gerald Asamoah per Doppelschlag auf 2:2. Und auch die erneute Hachinger Führung durch Jan Seifert konterte Jörg Böhme in der 73. und 74. Minute, Ebbe Sand machte in der 89. den Deckel drauf, 5:3. Jetzt hieß es: warten.

Denn in Hamburg hatte sich noch nichts getan. Der FC Bayern brauchte im Fernduell mit Schalke einen Punkt – und genauso spielte er auch. 90. Minute, es stand noch immer 0:0. Alles sah so aus, als würde sich diese Partie bei selbigem Spielstand geradewegs in die Parkposition begeben.

Sergej Barbarez lässt FC Bayern verstummen – und sorgt für Ekstase auf Schalke

Marcel Reif begleitete das Spiel in Hamburg, Fritz von Thurn und Taxis war auf Schalke zugegen. Im Volkspark, wo das Spiel mit vier Minuten Verspätung angepfiffen wurde, lief noch die 90., als Marek Heintz eine Eingebung hatte: Wie wäre es mit einer Flanke in den Strafraum? Der Gegner interessierte sich sowieso von Minute 1 an für nichts anderes als den Schlusspfiff. So kam es auch.

Reif: „…und die Bayern hängen in den Seilen, wie ein angeknockter Boxeeeeeeeeer! Und da ist es passiert! Sergej Barbarez, im Moment ist Schalke Deutscher Meister! Das ist der Preis für diese Art Fußball!“

Der Torschütze selbst jubelte nach seinem perfekten Kopfball ins lange Eck wild, Ottmar Hitzfeld richtete sich versteinerter Miene die Krawatte und Hasan Salihamidzic, der aufgrund einer Gelbsperre fehlte, hatte in diesem Moment auch keine Gedanken für seinen Ex-Klub übrig, sondern sank auf seinem Platz in sich zusammen. Marcel Reif gelang es, trotz der hochkochenden Emotionen, die Situation treffend wie sachlich zusammenzufassen: „So wie es Schalke vor einer Woche vergeigt zu haben schien, so haben’s die Bayern zumindest im Moment – und viel Zeit bleibt nicht mehr – ihrerseits getan.“

Auf Schalke gab es derweil kein Halten mehr. „Das Spiel ist Auuuuus und der FC Schalke 04 ist deutscher Meister? Ist das so?“, rief Fritz von Thurn und Taxis. Währenddessen feierten die Spieler auf dem Rasen.

„Das Spiel in Hamburg ist noch nicht zu Ende! Zu früh! Bayern spielt noch, Bayern spielt noooooch!“, korrigierte er sich direkt danach. Aber diese Worte verhallten nahezu ungehört. Auch Rudi Assauer ließ seiner Freude nun freien Lauf, die Fans stürmten den Innenraum des Parkstadions.

„Effenberg und Andersson…“ – Die ultimative Klimax einer irrsinnigen Saison

Die Tatsachen lassen sich aber nunmal nicht verdrehen, so lief das Spiel im Volkspark unbeirrt weiter, irgendwann sickerte diese Erkenntnis auch in Gelsenkirchen durch. 94. Minute, der HSV in Ballbesitz, Tomas Ujfalusi spielte einen Pass zurück zu seinem Torhüter Mathias Schober, selbst ausgebildet in der Schalker Jugend. Und auch ohne ihn zu kennen, kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass, wenn es möglich wäre, eine Aktion in seinem Leben rückgängig zu machen, es diese eine wäre, in der er Ujfalusis Pass mit der Hand aufnahm – indirekter Freistoß FC Bayern in der 95. Minute.

Die Münchener waren kurz davor die Nerven zu verlieren, als ihnen der Fußballgott nochmal einen ausgab. „Ein Freistoß, jetzt kommentiere ich das Spiel aus Hamburg mit, obwohl ich ja hunderte von Kilometern wegsitze“, so Fritz von Thurn und Taxis. Auf der Bank des FC Bayern tat das nun niemand mehr. Es war klar: Mit dieser Situation würde sich die Saison entscheiden. Alle 22 Spieler versammelten sich im Strafraum des HSV, auch Oliver Kahn war mit vorne, wollte den Freistoß anfangs selbst schießen, man einigte sich letztlich auf Stefan Effenberg und Patrik Andersson.

Und bitte.

Reif: „Der Ball ist so, ja, zehn, neun, zehn Meter, ja zehn Meter entfernt.

Effenberg und Andersson…

…Andersson…

…TOOOR! DER FC BAYERN IST MEISTER! Alle auf dem Platz, Ottmar Hitzfeld, jetzt auch auf dem Platz! Das gibt es nicht! Ich habe so etwas noch nicht erlebt! Leute, ich geb’s auf, ich geb’s auf! Un-fassbar, Unfassbar! Jetzt stellen sie sich mal, nur mal kurz rübergedacht nach Gelsenkirchen. Stellen Sie sich mal die Gemütslage der Schalker vor. Ich hoffe, es gibt Kardiologen auf der Tribüne, Herzspezialisten.“

Es war ein surreales Tor. Würde man nachträglich den xG-Wert berechnen, läge er wahrscheinlich bei 0,0000001. Andersson fand irgendwie zwischen 22 Mann hindurch eine Lücke, durch die der Ball und sonst nichts passte. Der Schuss war nicht einmal abgefälscht.

Hitzfeld : „Das lief alles vor mir wie ein Film ab“

Binnen Sekunden schwappte die Welle der Euphorie von Gelsenkirchen nach Hamburg. Im Parkstadion lagen sich die Menschen noch immer in den Armen, diesmal aber, um sich gegenseitig zu trösten. Währenddessen sanken die Spieler des FC Bayern zu Boden. Oliver Kahn rannte zurück in sein Tor, riss die Eckfahne aus ihrer Verankerung und fing ebenfalls an, wild zu jubeln. „Wir haben das 1:0 gekriegt und ich hab nichts gedacht in dem Moment. Ich hab gedacht, es geht bestimmt noch drei Minuten und wir müssen weitermachen, wir müs-sen weitermachen, wir dürfen nicht aufgeben“, schilderte er die Situation des Gegentreffers nach dem Spiel.

Ottmar Hitzfeld überlegte in dem Moment, was er noch hätte tun können. „Die Mannschaft pushen? Du kannst nichts machen. Man versucht, weiter daran zu glauben, eine höhere Macht heraufzubeschwören, dass man es doch noch schafft“, sagte er dem Magazin Mehr als ein Spiel.

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Auf das, was folgte, hatte er letztlich keinen Einfluss: „Normalerweise hat immer Stefan Effenberg die Elfmeter geschossen – und das war ja wie ein Elfmeter, nur mit Mauer. Für Effe war klar, es muss einer hin, der einen trockenen, harten Schuss hat. Aber Andersson hat ja nie Freistöße geschossen. Dass die Wahl auf ihn fiel, war für mich eine totale Überraschung. Ich hatte keinen Einfluss. Das alles lief vor mir wie ein Film ab.“

So wurden die Münchener letztlich doch noch belohnt. Für Patrik Andersson war es im Übrigen das einzige Tor im Trikot des FC Bayern. Drei Tage nach dem Triumph über Schalke traten die Bayern mit der Euphorie dieser Meisterschaft im Champions-League-Finale gegen den FC Valencia an. Nach verwandelten Elfmetern von Gaizka Mendieta und Stefan Effenberg fiel die endgültige Entscheidung ebenfalls vom Punkt. Patrik Andersson schien allerdings seinen Kredit an Spielglück schon im Volkspark ausgereizt zu haben, er scheiterte an Santiago Cañizares. Aber auch das wusste Kahn noch zu beheben. Drei Elfmeter parierte er, nur Helmuth Duckadam, der legendäre Torhüter von Steaua Bukarest hielt 1986 gegen Barcelona mit vier noch mehr Versuche des Gegners. Last-Minute-Freistoß plus Sieg im Elfmeterschießen, selten zuvor hat eine Mannschaft so dramatisch ein Double gewonnen.

Stevens über feiernde Schalke-Fans nach Bayern-Ausgleich: „Ich konnte nicht fassen, was ich sah“

Und die Schalker? Die mussten mitansehen, wie ihnen der sicher geglaubte Meistertitel entrissen wird. Im Interview mit dem Kicker sprach Huub Stevens von einer „surrealen Situation“, als in Hamburg das 1:1 fiel: „Irgendwie traute ich dem Braten nicht. Irgendwas in mir wollte ins Stadioninnere, also bin ich ins Trainerbüro im Kabinentrakt gegangen, dort saßen Youri Mulder und noch ein paar andere. Der Fernseher lief. In dem Moment, als ich reinkomme, bekommen die Bayern den Freistoß. Ich konnte nicht fassen, was ich sah. Die Bayern schießen das 1:1 und ich höre draußen unsere eigenen Fans über unsere vermeintliche Meisterschaft jubeln. Ich habe sofort alle Spieler reinholen lassen, ich wollte sie in der Kabine zusammenhaben.“

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„Ich habe der Mannschaft in der Kabine gesagt, dass es gerade sehr weh tut, aber dass wir rausgehen und uns von unserem Publikum verabschieden müssen. Wenn man dann da oben steht und die Fans weinen sieht, geht das mitten ins Herz“, so Stevens weiter.

„Es gibt gewisse Dinge im Fußball, die sind nicht beeinflussbar. So, wir haben alles dafür getan, um Deutscher Meister zu werden. Wir sind – Gott sei dank – ein toller, zweiter Vizemeister geworden! Wisst ihr was? Wir sind stolz auf euch!“, versuchte auch Rudi Assauer noch, die Fans in seinem typisch westfälischen Idiom aufzubauen.

Stevens: „Hätte Rudi Assauer so gerne einen Meistertitel geschenkt“

Es galt, diesen Tiefschlag schnell zu verdauen und den Kopf freizubekommen, vor dem DFB-Pokalfinale gegen Union Berlin, damals noch Meister der dritthöchsten Spielklasse, der Regionalliga. Stevens gab zu, dass „ein großer Druck auf uns lastete. Wir trafen in Berlin auf eine Mannschaft aus Berlin, und dass Union damals als Regionalliga-Meister der große Außenseiter war, machte es für uns nicht einfacher. Zum Glück hat uns Jörg Böhme mit seinen zwei Toren den DFB-Pokal beschert.“

Für Stevens und die Mannschaft sei das aber nur ein Trostpflaster gewesen. „Natürlich war die Wunde vom 19. Mai größer, als das Pokal-Pflaster. Um das zu erkennen, reicht allein schon der Gedanke daran, wie wir nach dem 5:3 auf der Tribüne standen. Es tat mir unfassbar leid, vor allem auch für meinen Freund Rudi Assauer. Ich hätte ihm so gerne einen Meistertitel geschenkt. Wir haben zusammen die Eurofighter-Mannschaft 1997 aufgebaut und fast auch eine Meister-Mannschaft, aber leider nur fast.“

Das Duell zwischen Bayern und Schalke beweist einmal mehr: Fußball ist ein einfaches Spiel, Fußball kann grausam, aber dann doch wieder gerecht sein. Und Fußball hat etwas kindlich-unberechenbares. Man sollte sich nie, nie auf den Status quo verlassen. Nicht 2001 – und auch nicht 2021.

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Victor Catalina

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


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