Union ins Achtelfinale? Atlético Sieger? Hot Takes im Experten-Panel zur Champions League!
19. September 2023 | Spotlight | BY Michael Bojkov
Vorhang auf für die Champions League! Welche Topteams haben die Nase vorn? Wo steckt Überraschungspotenzial? Und: Was ist Union Berlin bei der Königsklassen-Premiere zuzutrauen? Auch in der neuen Saison schweben jede Menge spannende Fragen über dem prestigeträchtigsten Klubwettbewerb. Experten haben sie für uns beantwortet – und die ein oder andere steile These gewagt.
Vor dem Saisonstart der Champions League haben wir uns mit Prime-Kommentator Jonas Friedrich und Zach Lowy unterhalten, der als freier Journalist u. a. für BBC Sport schreibt und das Fußballportal Breaking The Lines gegründet hat. Für 90PLUS antwortete Jannek Ringen.
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Champions League: Die Suche nach dem großen Favoriten
Jonas Friedrich: Ich tendiere Richtung Insel. Die Premier League hat sich ein weiteres Stück absetzen können, was Invest und damit verbunden mannschaftliches Potenzial angeht. Newcastle ist das Dark Horse. ManUnited ist derzeit in kritischer Lage, hat aber enormes Potenzial. Arsenal könnte zum engen Favoritenkreis zählen – und über allem thront ManCity. Dass die italienischen Mannschaften nochmals zwei Halbfinalisten stellen, glaube ich nicht und lande daher bei den üblichen Verdächtigen: City als klarer Hauptfavorit, dazu Arsenal, PSG, die Bayern, Real sowie Barca.
Zach Lowy: ManCity ist immer noch der Favorit, obwohl ich glaube, dass der Verlust von Gündogan sie in Bezug auf ihre Dynamik im Mittelfeld beeinträchtigen könnte. Real Madrid wird immer eine Bedrohung sein, aber ich denke, das Fehlen eines echten Stürmers in der Spitze wird ihnen noch zum Verhängnis werden. Ich glaube nicht, dass Barcelona etwas ausrichten kann, wenn sie in der Champions League unter Xavi so sehr zu kämpfen hatten. Da wird Atlético aufgrund seiner Erfahrung, der defensiven Organisation und der Synergie im Angriff eine größere Gefahr darstellen. Sie haben mit Antoine Griezmann einen der besten Spieler Europas und sind mein Favorit.
Jannek Ringen: Neben ManCity muss man Real Madrid natürlich in jedem Jahr in der Champions League auf der Rechnung haben. Bei Barca und Arsenal tue ich mir aktuell etwas schwer, eine Einschätzung für die Saison zu treffen. Die Champions League werden die beiden nicht gewinnen, aber ich denke, sie könnten eine gute Rolle spielen. Auf jeden Fall sollte man noch Inter mit auf der Rechnung haben, die haben in der Liga bereits gezeigt, zu was sie fähig sind. Und nicht zu vergessen: Der FC Bayern.
PSG vollzieht einen Umbruch. Mit Messi und Neymar sind zwei Weltstars weg, dafür wurde der Kader auf nahezu allen Positionen qualitativ hochwertig und mit viel Talent verbessert. Mit Luis Enrique steht zudem ein neuer Trainer an der Seitenlinie, dem zugetraut wird, aus viel individueller Klasse endlich eine eingeschworene Mannschaft zu formen. So müßig die Frage inzwischen klingen mag: Schafft PSG im x-ten Anlauf den großen Wurf?
JF: Ich kann es mir (noch) nicht gut vorstellen. Bei PSG gibt ständig große Baustellen abseits des Platzes. Allein die endlose Saga um Kylian Mbappe im Sommer zeigt, dass dies ein Klub ist, der nur schwer zu Ruhe kommt. Die Spielstärke ist da, um den Titel zu gewinnen. Aber die Erfahrung zeigt: Es braucht diesen mannschaftlichen X-Faktor, um wirklich zu bestehen. Und den sehe ich bei PSG nicht.
ZL: Ich denke, dass PSG in diesem Fenster wirklich gut gearbeitet hat. Sie haben sich von einer Menge totem Holz und schwächelnden Spielern getrennt und Luis Enrique ist der beste Trainer, den sie seit Thomas Tuchel verpflichtet haben. Manuel Ugarte gibt ihnen den Biss im Mittelfeld, der ihnen gefehlt hat, und ich glaube auch, dass sie ohne Neymar und Messi viel aktiver im Pressing und bei der Balleroberung sein werden. Ich glaube, dass für PSG mindestens das Viertelfinale drin ist.
JR: Vor der Saison hätte ich ihnen einiges zugetraut, da ich vor allem an Luis Enrique und seinen Ansatz glaube. Allerdings haben mich in den ersten Saisonspielen der Ligue 1 eines Besseren belehrt, weshalb ich sie nicht zum Favoritenkreis zähle.
Was reißen die deutschen Teams in der Champions League?
Wenn über Titelfavoriten gesprochen wird, kommt man auch nicht um den FC Bayern herum. Derweil hat Ligakonkurrent Dortmund die Todesgruppe erwischt, während Union zur Feuertaufe nach Neapel und ins Bernabéu reisen darf. Was traut ihr den deutschen Team zu?
JF: Die Bayern sind – wie immer – sicher fürs Viertelfinale gerüstet und dann kommt es auf Gegner und Tagesform an. Zumal die kritischen Positionen (Außenverteidigung und zentrales Mittelfeld) im Winter verstärkt werden können. Dortmund hat die denkbar schwerste Gruppe erwischt. Das Weiterkommen wäre ein großer Erfolg, mit den bisherigen Leistungen aus der Bundesliga wird es allerdings sehr schwer.
Leipzig hat einen massiven Umbruch gut verkraftet. Sie sind die klare Nummer zwei in ihrer Gruppe. Ein erneuter Einzug ins Achtelfinale ist absolut realistisch – und auch hier kommt es dann auf den Gegner an. Union – was für ein Traum! Da ist jedes Spiel ein Genuss. Auf gute, stimmungsvolle Abende! Und ich will Real erstmal gewinnen sehen gegen Urs Fischers Bollwerk.
ZL: Union Berlin kann froh sein, wenn sie in ihrer Gruppe Dritter werden. Auch Dortmund wird nicht in der Champions League überwintern. Leipzig sollte dagegen keine Probleme haben, Zweiter zu werden. Die Bayern haben mit Min-jae Kim und Harry Kane zwei Weltklassespieler geholt, aber ich befürchte, dass ihnen die mangelnde Balance im Mittelfeld im Halbfinale oder Finale zum Verhängnis wird.
JR: Dem FC Bayern traue ich einiges zu, denn sie gehören wie jedes Jahr zum Kreis der potenziellen Titelanwärter. Dortmund muss bei der aktuellen Form und der starken Gruppe aufpassen, dass sie es überhaupt ins Achtelfinale schaffen. Für Union ist die Gruppe zu stark für ein Weiterkommen und man muss Platz drei und das Überwintern im europäischen Wettbewerb anstreben. Allerdings sind sie immer für eine Überraschung gegen Topteams gut.
It’s hot take time!
Wir alle lieben sie: die Underdogs, die über sich hinauswachsen und sich überraschend lange im Turnier halten, vielleicht sogar bis unter die letzten Vier stoßen. Welche Mannschaft habt ihr auf dem Schirm, die andere vielleicht nicht haben?
JF: Da bin ich Realist. Ich sehe keinen Underdog im Halbfinale. Am ehesten hätte ich es noch San Sebastian zugetraut, aber da war der Saisonstart nicht berauschend.
ZL: Ich denke, PSV hat gute Chancen, alle zu schocken und Zweiter in ihrer Gruppe zu werden. Gruppengegner Sevilla hat einen schlechten Start in die Saison hingelegt und Lens sieht ohne Loïs Openda und Seko Fofana völlig verloren aus. Die Niederländer dagegen haben Johan Bakayoko gehalten und in Noa Lang einen Top-Angreifer aus Brügge geholt. Ich erwarte, dass PSV in der Champions League sehr gut abschneiden wird.
JR: Benfica hatte ich im letzten Jahr schon als Underdog auf dem Schirm und das wird auch dieses Jahr so sein. Die Gruppe ist machbar und dass man gegen die Topteams bestehen kann, hat man im vergangenen Jahr gezeigt. Ansonsten habe ich noch den FC Porto auf der Liste, die sich in den vergangenen Jahren auch immer gut in der Champions League gemacht haben.
Der ein oder andere Star darf zum ersten Mal Champions-League-Luft schnuppern, Talente wollen sich auf der größten internationalen Fußballbühne ins Rampenlicht spielen. Welche Spieler gilt es besonders im Auge zu behalten?
JF: Xavi Simons von RB Leipzig wird natürlich sehr, sehr spannend. Und Lamine Yamal von Barca, ein 16-Jähriges Ausnahmetalent.
ZL: Ich behalte Sacha Boey im Auge. Bei Galatasaray gibt es viele erfahrene Veteranen wie Mauro Icardi und Dries Mertens, aber Boey ist seit seiner Zeit in Frankreich ein hoch geschätzter Rechtsverteidiger und es wird eine großartige Herausforderung für ihn, sich auf der größten Bühne mit Spielern wie Leroy Sané und Marcus Rashford messen zu dürfen.
JR: Elye Wahi vom RC Lens sollte man im Auge behalten. Nach seinem späten Wechsel innerhalb Frankreichs braucht er natürlich noch etwas Anpassungszeit bei seinem neuen Club, aber er hat seine Qualitäten in jungen Jahren schon unter Beweis gestellt. Auch bin ich auf den 16-jährigen Lamine Yamal vom FC Barcelona gespannt, der zuletzt für Spanien debütierte.
Eine kleine Prognose-Runde zum Schluss: Wer gewinnt die Champions League? Dazu ein Hot Take zur Saison 2023/24.
JF: Ich glaube, wir stehen vor einer Dekade der Cityzens. Sie können, ähnlich wie Real Madrid die 2010er-Jahre, nun die 2020er dominieren.
Hot Take: Union im Achtelfinale der Champions League!
ZL: Ich denke, Atlético Madrid wird zum ersten Mal die Champions League gewinnen.
JR: Die Champions League wird in dieser Saison wieder zu Real Madrid gehen. Carlo Ancelotti und sein Team wissen genau, wie man die Königklasse gewinnen kann und haben mit Jude Bellingham einen weiteren talentierten Unterschiedsspieler in ihr Team bekommen. Paris Saint-Germain scheitert unterdessen in der Gruppenphase.
Fragen von Michael Bojkov
(Photo by MARCO BERTORELLO/AFP via Getty Images)
Michael Bojkov
Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.