EURO 2020 | Das Powerranking zum Halbfinale der Europameisterschaft

6. Juli 2021 | Global News | BY Victor Catalina

Spotlight | Italien, Spanien, England und Dänemark heißen die vier besten Mannschaften dieser Europameisterschaft. Aber wo genau stehen sie vor dem Halbfinale – und welche Schwächen haben sie im bisherigen Turnierverlauf offenbart? Das Powerranking der Halbfinalisten der Euro 2020.

Platz 4: Spanien

Die einst übermächtige Furia Roja befindet sich bei dieser Europameisterschaft im Umbruch – und das sieht man ihr auch an. Talent ist fraglos vorhanden. Lediglich fünf Spieler im Kader sind 30 oder älter. Trotzdem ist die Mannschaft noch sehr abhängig von Momenta während des Spiels. Zu oft stellt sich bei Spanien die Frage „Was wäre gewesen, wenn…?“

 

So, wie bei der Chance durch Andrej Kramaric (30) kurz nach Beginn der Verlängerung auf das 4:3 für Kroatien. Oder den vergebenen Elfmetern von Fabian Schär (29) und Manuel Akanji (25), nachdem zuvor Sergio Busquets (32) und Rodri (25) scheiterten. Mit Ausnahme des 5:0 gegen die Slowakei hätte jedes der Spiele auch in die andere Richtung ausgehen können.

Euro 2020: England und Italien sind Spanien noch voraus

Nicht zuletzt, weil Spanien zwar – wie bei den Europameisterschaften 2008 und 2012 – zwölf Tore erzielte, aber auch die Angewohnheit hat, sehr großzügig mit den eigenen Chancen umzugehen. Gerard Moreno (29) und Álvaro Morata (28) vergaben jeweils in der regulären Spielzeit vom Punkt, gegen Schweden (0:0) und Polen (1:1) scheiterte die Mannschaft nicht zuletzt auch an sich selbst. Mit Spielern wie Unai Simón (24), Pau Torres (24), Eric García (20), Pedri (18), Ferrán Torres (21) oder dem noch verletzten Ansu Fati (18) steht die kommende Generation schon bereit. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass ihnen England oder Italien in der mannschaftlichen Entwicklung momentan voraus sind. Die Spieler müssen erst noch in ihre Rollen hineinwachsen.

Daher gebührt auch Luis Enrique (51) ein Lob, dass er dieser Mannschaft vertraut und auch genau weiß, wann er welche Impulse von der Bank setzen muss. Gegen Kroatien kamen der Leipziger Dani Olmo (23) und Mikel Oyarzabal (24). Ersterer legte beide Treffer in der Verlängerung auf, Letzterer erzielte das 5:3. Dazu besteht Luis Enrique nicht stur auf einer Startaufstellung. Nachdem Marcos Llorente (26) als Rechtsverteidiger nicht wie erhofft funktionierte, spielte an seiner Stelle César Azpilicueta (31) und gab der Mannschaft wesentlich mehr Sicherheit. Luis Enrique wird bis hierhin seinem Spitznamen „Lucho“, dem Krieger, gerecht. Dass er die Mannschaft wieder an die Spitze führen kann, daran besteht kein Zweifel. Diese Europameisterschaft dürfte jedoch zu früh kommen.

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Platz 3: Dänemark

*Standbild*
*Schallplatten-Scratch*

Photo by Liselotte Sabroe/Imago

Ja, das sind wir. Ihr fragt euch sicherlich, wie wir in diese Situation gekommen sind.

Die Geschichte ist eigentlich surreal. Dänemark legte bei dieser Europameisterschaft einen Entfesselungstrick hin, der selbst Harry Houdini staunen lassen dürfte. Gleich im ersten Spiel mussten sie mitansehen, wie Christian Eriksen (29) auf dem Platz wiederbelebt wurde. Verständlicherweise rückte das Auftaktduell gegen Finnland in den Hintergrund. Dänemark unterlag 0:1. Als auch das zweite Spiel gegen Belgien 1:2 verloren ging, schien das Aus in der Gruppenphase bereits festzustehen. Zwei Spiele, zwei Niederlagen, null Punkte, 1:3 Tore, Gruppenletzter.

Was danach folgte, war nicht weniger als die Wiedergeburt einer Mannschaft. Mit den eigenen Fans im Rücken feierte man ein 4:1 gegen Russland. Da im Parallelspiel Belgien die Finnen 2:0 besiegte, zog Dänemark sogar als Gruppenzweiter ins Achtelfinale ein. Und genau diese Erlebnisse schienen das Team noch enger zusammenzuschweißen. Es folgte ein 4:0 gegen Wales in Amsterdam sowie ein 2:1 im Duell der Underdogs gegen Tschechien.

Starke Startelf, noch stärkere Bank

Dänemark spielt bei dieser Europameisterschaft einen äußerst mitreißenden und erfrischenden Fußball. Mit einem Kern aus ehemaligen und aktuellen Bundesligaspielern sowie dem unermüdlichen Joakim Mæhle (24), Mikkel Damsgaard (21), der Entdeckung von Kasper Hjulmand (49) in diesem Turnier, und Kasper Dolberg (23), der Dänemark mit seinen Toren durch die K.O.-Runde trägt, haben sie ein wetterfestes Grundgerüst. Und da wäre noch der Trainer selbst, dessen empathische Ader die Mannschaft zusammenhält.

Was an diesem dänischen Team allerdings am meisten beeindruckt, ist die Stärke des Kaders. Als Eriksen ausfiel, füllte Damsgaard das kreative Vakuum. Im Achtelfinale ersetzten Dolberg und Jens Stryger (30) Yussuf Poulsen (27) sowie Daniel Wass (32). Christian Nørgaard (27) steht bereit, sollte Thomas Delaney (29) eine Auszeit benötigen.

Trotzdem bleibt die Frage, ob die Mannschaft auch den allerhöchsten Standards bei dieser EM standhält. Gegen Belgien begann Dänemark furios, führte schon nach 99 Sekunden. Doch als zur Pause Kevin De Bruyne (30) kam, kippte die Partie. Mit Tor und Vorlage stellte er auf 2:1. Natürlich wäre am Ende noch mindestens ein Punkt möglich gewesen. Doch die individuelle Qualität setzte sich in diesem Fall durch. Gegen England werden sie auf einen ähnlich potenten Angriff treffen. Dazu muss „Danish Dynamite“ versuchen, den bisher noch stabil stehenden Abwehrriegel der Engländer zu sprengen. Das allein dürfte schon schwer genug werden.

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Platz 2: England

Das größte Kompliment, das man den Engländern bis hierhin machen kann, ist, dass sie nicht wie England spielen. Oder zumindest nicht, wie das, was man noch vor gut 10 bis 15 Jahren als „England“ kannte. Ein fraglos hochklassig besetzter Kader, der es zur Perfektion verstand, sich selbst im Weg zu stehen. Sei es vom Punkt, aufgrund mangelnder taktischer Flexibilität oder weil auf dem Platz keine Mannschaft, sondern ein Konglomerat an Individualisten stand. Das mündete meistens in der größtmöglich anzunehmenden Blamage. Island lässt grüßen.

Unvergessen auch das Viertelfinale 2012, als ein in die Jahre gekommener Andrea Pirlo eigenhändig mehr Ballkontakte sammelte als das gesamte englische Mittelfeld. England bewegte sich mit der Leichtfüßigkeit eines Elefanten durch das Olympiastadion von Kiev. Bisweilen wirkte es, als hätten die Spieler Angst vor dem Ball.

Was England bei dieser EM anbietet, ist keine Selbstverständlichkeit

Auch bei dieser EM gab es anfangs Zweifel. Nur zwei Tore in drei Spielen während der Gruppenphase. Aber Gareth Southgate (50) verstand von Beginn an, worauf es in einem K.O.-Turnier wirklich ankommt: Eine stabile Defensive. Nach fünf Spielen steht bei England noch immer die Null. Natürlich kann man ihnen vorhalten, dass es schwerere Gruppen gab. Natürlich kann man ihnen vorhalten, dass sie „nur“ gegen ein Deutschland, das sich im von Joachim Löw (61) aufoktroyierten System sichtlich schwergetan hat, sowie die Ukraine gespielt haben. Aber der Blick in die Vergangenheit zeigt eindrucksvoll, dass gerade solche Siege alles andere als eine Selbstverständlichkeit waren.

 

 

 

In Rom dominierten die Three Lions von Beginn an das Spiel, gingen früh in Führung und hatten das Halbfinalticket nach einer Stunde gelöst. Ohne große Ausreißer, ohne großen Schnickschnack. Und dazu noch mit ansehnlichem Fußball, gespielt von einer Mannschaft, die sich auch als solche versteht. Natürlich bedeutet das nicht, dass sie automatisch auch gegen Dänemark gewinnen werden. Vergangenen Oktober unterlagen sie in Wembley 0:1 und auch die Abwehr offenbarte Schwächen, wenn sie unter Druck gesetzt wurde. Aber der Fortschritt unter Gareth Southgate ist nicht zu übersehen. Gepaart mit der Menge an individueller Qualität, wird dieser irgendwann auch mit einem Titel einhergehen.

Platz 1: Italien

Das Paradebeispiel, wie man die optimalen Schlüsse aus einem Misserfolg zieht. 2018 scheiterte Italien noch in den Playoffs an Schweden (0:1, 0:0), drei Jahre später sind sie nicht nur Geheimfavorit, sondern heißester Titelanwärter. Nach der Entlassung Gian Piero Venturas (73) wurde die Verpflichtung von Roberto Mancini (56) zwar nicht mit ähnlicher Euphorie bedacht, wie es einst bei Antonio Conte (51) der Fall war. Doch seine Arbeit spricht für sich. Er verjüngte die Mannschaft auf Schlüsselpositionen, vertraute Spielern wie Nicolò Barella (24), Federico Chiesa (23) oder Manuel Locatelli (23).

Das Prunkstück der Mannschaft ist aber nach wie vor die Innenverteidigung. Eigentlich war Giorgio Chiellini (36) nach dem Debakel 2018 schon aus der Nationalmannschaft zurückgetreten, Mancini überzeugte ihn dennoch vom Weitermachen. Neben ihm spielt – wie bei Juventus – Leonardo Bonucci (34). Zusammen haben die beiden gerade einmal zwei Gegentore zugelassen, beide nach Standardsituationen. Aus dem Spiel an ihnen vorbeigekommen ist noch kein Gegner.

Das, obwohl Italiens letzte Reihe im Schnitt 46,44 Meter vor dem eigenen Tor steht. Natürlich bietet das Raum für Konter, wie Belgien zweimal mit Kevin De Bruyne und Romelu Lukaku (28)  in der ersten Halbzeit bewies. Doch kamen auch sie höchstens in die Zwischenräume und nicht hinter die Viererkette. So konnte Gianluigi Donnarumma (22) die Versuche aus der Distanz parieren.

Italien bietet bei dieser Europameisterschaft das kompletteste Paket aller Halbfinalisten. Genug defensive Stabilität, aber auch Kreativität und Überraschungsmomente im Angriffsspiel. Noch dazu ist die Mannschaft geschlossen genug, um enge Ergebnisse wie gegen Österreich (2:1 n.V.) oder Belgien (2:1) über die Zeit zu bringen. Besonders der Erfolg im Viertelfinale war gegen Belgiens Angriff eine taktische Meisterleistung. Die Stammelf hat nahezu keine Schwächen.

Starke Startelf, aber Leistungsträger sind für Italien nur schwer zu ersetzen

Dafür aber die Bank. Zweimal fehlte Chiellini im bisherigen Turnierverlauf verletzt, darunter im Achtelfinale gegen Österreich. Die Innenverteidigung mit Bonucci und Francesco Acerbi (33) machte bei Weitem keinen sicheren Eindruck. Österreich konnte mehrere Druckphasen aufziehen und hatte Pech, dass Marko Arnautović (32) bei seinem vermeintlichen Führungstreffer in der 67. Minute abseits stand. Der 2:1-Sieg war letztendlich glücklich. Es war auch jenes Spiel, in dem Italiens Serie von 1.143 Minuten ohne Gegentor ein Ende fand, als Saša Kalajdžić (23) am kurzen Pfosten einköpfte.

Ab dem Halbfinale ist Roberto Mancini wieder gezwungen, einen Leistungsträger ersetzen zu müssen, diesmal Linksverteidiger Leonardo Spinazzola (28), der sich gegen Belgien einen Riss der Achillessehne zuzog und rund ein halbes Jahr ausfällt. Dass es eine Systemumstellung geben wird, erscheint höchst unwahrscheinlich. Daher wird es wohl Emerson Palmieri (26) sein, der Spinazzola vertreten wird. Der Haken: Auch bei Chelsea ist er lediglich Ersatz, muss sich dort hinter Ben Chilwell (24) oder Marcos Alonso (30) anstellen.

Italiens Mannschaft hat im Fall Spinazzola einmal mehr großen Teamgeist bewiesen, ihn im Flugzeug gefeiert und später auch im Teamhotel herzlich empfangen. Das gilt es nun auch auf dem Platz zu demonstrieren. Das Halbfinale wird für Italien ein Härtetest und beweisen, ob sie dem Label „Titelfavorit“ wirklich gerecht werden. Denn wenn diese Europameisterschaft bisher etwas bewiesen hat, dann, dass die bessere Mannschaft nicht immer auch das bessere Ende für sich beanspruchen konnte.

Photo: Alfredo Falcone – LaPresse/imago

Victor Catalina

 

 

 

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


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