Island 2016: Wie ein Außenseiter Europa eroberte

6. Juni 2021 | Global News | BY Victor Catalina

Spotlight | Bei einer EM muss nicht immer alles so laufen, wie geplant. Das beste Beispiel dafür: Island 2016. Wie ein Land mit 300.000 Einwohnern ein ganzes Turnier auf den Kopf stellte.

Island 2016: Mehr als Schiefgehen kann es nicht

Es kommt nicht oft vor, dass ein gesamtes Stadion einer Mannschaft Tribut zollt. Noch dazu nicht der, die gerade hoffnunglos untergegangen ist. Aber genau das passierte beim 5:2-Sieg Frankreichs über Island im Viertelfinale der EM 2016. Weil eben jenes kleine Land, mit gefühlt mehr aktiven Vulkanen als Profifußballern, das gesamte Turnier auf den Kopf gestellt hat.

Sie sind bei weitem nicht als Favoriten angereist, die Isländer. In der Vorrunde hießen ihre Gegner Portugal, Ungarn und Österreich. Der Konsens war, dass die Portugiesen und Österreicher diejenigen sein werden, die sich die ersten beiden Plätze sichern. Für Island selbst war es die erste Teilnahme überhaupt bei einer EM. Es hatte ein bisschen was von Betriebssportgruppe Nord, als hätte sich eine Erstrundenmannschaft des DFB-Pokals ins Turnier verirrt. Der Trainer ein Zahnarzt, der Torhüter ein Filmemacher. Dann lass es uns mal probieren. Mehr als Schiefgehen kann es ja nicht.

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„Sie werden in diesem Turnier nichts erreichen“ – Wie Island CR7 eines Besseren belehrte

Der erste Gegner war auch gleich der Namhafteste: Portugal. Nach 31 Minuten nahmen die Dinge ihren scheinbar erwarteten Lauf: André Gomes auf Nani – Führung für den Favoriten. Aber die Portugiesen verpassten es nachzulegen und fingen sich den Ausgleich durch Birkir Bjarnasson. Es blieb letztlich dabei: Island holte tatsächlich den ersten Zähler – und einer war besonders bedient: Cristiano Ronaldo. „Ich habe gedacht, sie haben die EM gewonnen, so wie sie am Ende gefeiert haben. Es war unglaublich. Wir haben bis zum Ende versucht, das Spiel zu gewinnen – und sie haben gar nichts versucht. Das ist in meinen Augen ein Zeichen für fehlende Mentalität. Sie werden in diesem Turnier nichts erreichen“, polterte CR7 nach dem Spiel.

 

 

In der Tat war das nächste Spiel für Island eine gefühlte Niederlage. Gegen Ungarn waren sie es, die durch einen verwandelten Elfmeter des Ex-Hoffenheimers Gylfi Sigurdsson in Führung gingen, sich aber in der 88. Minute noch selbst den Ausgleich ins Netz legten. Birkir Sævarsson rettete der Mannschaft von Bernd Storck den Punkt. So kam alles auf den letzten Spieltag an, weil Cristiano Ronaldo selbst gegen Österreich einen Elfmeter vergab und es so beim 0:0 blieb.

Nun ging es gegen die bisher enttäuschenden Österreicher. Nach einer Stunde glich Alessandro Schöpf die Führung durch Jón Daði Böðvarsson aus. Mit dem Unentschieden hätte Island hoffen müssen, unter die besten Gruppendritten zu kommen. Aber das Spiel war noch lange nicht zu Ende. 94. Minute: auf einmal waren drei Isländer frei durch und Arnór Ingvi Traustason besiegelte nicht nur das frühe Aus für Österreich, sondern auch Islands Platz im Achtelfinale. Die Gruppe gewann übrigens Ungarn, Portugal wurde mit drei Unentschieden Dritter.

Sieg gegen England: Islands Sternstunde

Was nach dem Spiel natürlich nicht fehlen durfte:

Huh!

Huh!

Huh, Huh, Huh, Huh, Huh!

Man konnte es fast schon vor dem geistigen Auge sehen, wie nach jedem Erfolg der Isländer ein imaginäres Wikingerschiff ins Stadion einfuhr.

Aber die größte Stunde der Isländer sollte erst noch kommen: In Nizza ging es gegen England. Waren sie 2012 noch im Elfmeterschießen unter anderem an Andrea Pirlos Panenka-Elfmeter gescheitert, wollten sie diesmal ihrer Favoritenrolle gerecht werden. Und sie erwischten einen Auftakt nach Maß: 4. Minute, Hannes Haldorsson bringt Raheem Sterling im Strafraum zu Fall, Wayne Rooney schob sicher links unten links ein.

Copyright: JOHANNA LUNDBERG/imago

Aber wenn Island in diesem Turnier für etwas bekannt war, dann dafür, nie aufzugeben. Und für Einwurfflanken. 6. Minute, Aron Gunnarsson servierte, Kari Arnason verlängerte und Ragnar Sigurdsson schob ein. Und schon resettete das Spiel. England griff zwar wütend, aber dafür reichlich planlos an. So kam es in der 18. Minute, wie es kommen musste: Böðvarsson bediente Kolbeinn Sigthorsson – und der machte, was sein Name schon verrät. Im Strafraum ließ er noch zwei Engländer aussteigen, bevor er den Schuss irgendwie an Joe Hart vorbeimogelte.

Frankreich eine Nummer zu groß – Island verabschiedet sich erhobenen Hauptes

Für das stolze England war es eine der größten Blamagen der Verbandsgeschichte und die Presse ging dementsprechend mit jedem Spieler härtestmöglich ins Gericht. Sie waren gerade an einem Land mit der Einwohnerzahl von Bielefeld gescheitert.

Auf der Tribüne geriet Kommentator Guðmundur Benediktsson in Ekstase, seine Stimme dürfte dabei gute fünf Oktaven umfasst haben. Sie hatten dem nächsten haushohen Favoriten ein Bein gestellt. Nun ging es im Stade de France gegen den Gastgeber. Und der war dann doch einige Nummern zu groß. Olivier Giroud, Paul Pogba, Dimitri Payet und Antoine Griezmann sorgten für die 4:0-Pausenführung. Immerhin konnten sich die Isländer erhobenen Hauptes verabschieden. Nach der Pause erzielten sie noch selbst zwei Treffer – unterlagen aber trotzdem 2:5. Das änderte nichts an der Tatsache, dass sich die Isländer bei dieser EM nicht nur die Liebe der eigenen Fans, sondern auch den Respekt aller Zuschauer erarbeitet hatten.

Copyright: JOHANNA LUNDBERG/imago

Victor Catalina

Victor Catalina

Mit Hitzfelds Bayern aufgewachsen, in Dortmund studiert und Sheffield das eigene Handwerk perfektioniert. Für 90PLUS immer bestens über die Vergangenheit und Gegenwart des europäischen Fußballs sowie seine Statistiken informiert.


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