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Das DFB-Team vor dem EM-Start: Zuversicht ja, Euphorie nein

12. Juni 2024 | Spotlight | BY Manuel Behlert

Am Freitag startet die Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Die DFB-Auswahl eröffnet dieses Turnier mit dem Spiel gegen Schottland, ist wie auch in der Gruppe A der Favorit. Drei der letzten vier Testspiele konnten gewonnen werden, der Kader wirkt homogen zusammengestellt. Das ist eine Basis, aber kein Grund für Euphorie. 

Zu frisch sind die Erinnerungen an die vergangenen Turniere. Bei den letzten beiden Weltmeisterschaften war nach der Gruppenphase Schluss, bei der vergangenen EM in ganz Europa scheiterte die DFB-Auswahl im Achtelfinale an England. Über einen großen Namen verfügt die DFB-Elf zweifellos weiterhin, zu den größten Kandidaten, was den Titel angeht, gehört sie aber nicht.

DFB-Team: Die letzten Tests als Dämpfer

Nach den Siegen gegen Frankreich und die Niederlande im März war die Marschoute klar: Der EM-Hypetrain sollte Fahrt aufnehmen. Schließlich hat sich die deutsche Nationalmannschaft unter Bundestrainer Julian Nagelsmann wieder als Einheit präsentiert, zwei große Namen geschlagen und Rückkehrer Toni Kroos brachte zusätzliche Stabilität in ein zuvor fragiles Gebilde. Daran sollte gegen die Ukraine und Griechenland angeknüpft werden. Die Partien (0:0, 2:1) verliefen aber eher zäh, sind als kleiner Dämpfer zu werten. Vor dem Auftaktspiel gegen Schottland und mit einigen Trainingstagen zum Abstellen von Problemen war es aber ein Realitycheck zum möglicherweise richtigen Zeitpunkt.



Dass eine Euphorie wohl eher erst im Verlauf des Turniers entstehen kann, sieht auch Maximilian Koch (Abendzeitung) so: „Die Leistungen in den Tests waren okay, Grund zu Euphorie gibt es aber nicht, dafür liefen die Turniere in den vergangenen sechs Jahren zu schlecht. Seit der EM 2016 ging es bergab, wenn man ehrlich ist. Ich sehe weiter gewisse Problempositionen in der Mannschaft (Außenverteidiger, Mittelstürmer), sodass man demütig in das Turnier gehen sollte. Mit Siegen in der Gruppenphase könnte dann – womöglich – eine Euphorie entstehen, die die Mannschaft trägt.“

Die unangenehmen Gruppengegner als Schlüssel für das Turnier

Der Auftakt wird sehr wichtig sein, denn die deutsche Mannschaft spielt in der Gruppenphase gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz. Jeder dieser Gegner wird versuchen, kompakt zu stehen, die Räume eng zu machen und sehr viel Laufarbeit zu investieren, um die jeweils eigene individuelle Unterlegenheit zu kaschieren. Genau das sind Gegner, gegen die Deutschland zuletzt nicht immer Lösungen fand. In den Vorbereitungsspielen wurde das wieder deutlich, auch gegen Österreich (0:2), die Türkei (2:3) oder Japan beim letzten Turnier (1:2) tat man sich sehr schwer, verfiel zuweilen in Ungeduld, vergab dadurch zu viele Chancen.

Wird die Schottland-Partie zu Beginn ähnlich laufen, also vor in vielen Phasen zäh und mit einer ausbaufähigen Konterabsicherung, dann fällt es schwer, einen souveränen Sieg einzufahren. Und genau den erhofft sich jeder, um die weiteren Gruppenspiele und das weitere Turnier entsprechend anzugehen. Klar ist aber auch: Werden die tierstehenden Gegner gut bespielt und steigert man die eigene Effizienz, ist man noch besser gerüstet für die K.O.-Runde und große Gegner, die dem DFB-Team qua Rollenverteilung ohnehin besser liegen.

DFB-Team

(Photo by Alex Grimm/Getty Images)

Maximilian Koch erwartet indes den Gruppensieg von der Nagelsmann-Elf: „Alles andere als der Gruppensieg wäre für Deutschland bei einer Heim-EM eine Enttäuschung. Ganz wichtig wird der Auftakt gegen Schottland sein, hier braucht die DFB-Elf einen klaren Sieg. Die Schotten erwarte ich wie Ungarn sehr defensiv, hier könnte der robuste Niclas Füllkrug als wuchtiger Joker von der Bank sehr helfen. Ich erwarte aber auch von Spielern wie Musiala, Wirtz, Havertz oder Sané, dass sie genügend Chancen herausspielen und Tore erzielen. Die Schweiz wird der kniffligste Gegner in der Vorrunde sein.“

Einige Fragezeichen und potenzielle Überraschungen

Die Testspiele vor dem Turnier zeigten, woran noch gearbeitet werden muss. Rein taktisch gab es wichtige Erkenntnisse, einige Elemente funktionierten sogar schon sehr gut. Aber: Die Konterabsicherung muss noch verbessert werden, das steht außer Frage. Griechenland kam im letzten Spiel häufig mit nur wenigen Pässen in lukrative Situationen. Risiko ja, aber kontrolliert, so muss das Motto lauten. Neben den systemischen Baustellen gibt es auch noch personelle. Während die Viererkette steht patzte zuletzt ausgerechnet Manuel Neuer. Ihm ist zwar zuzutrauen, sich bis zum Turnier wieder zu fangen und seine Normalform abzurufen, aber für Ruhe sorgten seine Patzer zuletzt sicher nicht.

Während sein Platz als Nummer eins gesichert ist, darf sich im offensiven Mittelfeld niemand ausruhen. Jamal Musiala, Florian Wirtz und Ilkay Gündogan werden gegen Schottland von Anfang an spielen, das scheint sicher zu sein. Doch Chris Führich und Leroy Sané, der allmählich wieder belastbarer wird, scharren mit den Hufen. Zumal die aktuelle Ausrichtung mit drei spielstarken Spielern, die sich gerne im Zentrum aufhalten, noch nicht vollumfänglich aufging. Zuletzt stand vor allem Gündogan in der Kritik, der in Topform und ideal eingesetzt sicher ein herausragender Spieler ist. Aktuell trifft aber beides nicht zu. Die DFB-Elf muss in der Offensive noch beweisen, dass diese Dreierreihe funktioniert und man sich nicht gegenseitig die guten Räume blockiert.

Gündogan EM 2024 DFB-Team

(Photo by Alex Grimm/Getty Images)

Neben den bekannten, etablierten Namen beinhaltet der DFB-Kader auch einige Spieler, die bei diesem Turnier überraschen können. Vor allem im Offensivbereich, findet Maximilian Koch: „Robert Andrich traue ich ein starkes Turnier auf der Sechserposition zu. Von der Bank können Beier, Führich und Undav für wichtige Impulse sorgen. Einer von ihnen könnte zur positiven Überraschung werden.“ Und in der Tat ist die offensive Konstellation sehr empfänglich für gute Joker, insbesondere aufgrund der angesprochenen Tatsache, dass sich die drei Starter zunächst einmal gerne im Zentrum aufhalten.

Insbesondere Maximilian Beier könnte von seinem einzigartigen Skillset profitieren. Der Offensivspieler ist großgewachsen, dennoch sehr flink auf den Beinen, schnell auf den ersten Metern, hat einen enormen Zug zum Tor und es ist ihm relativ egal, ob er von der 9, hängend oder gar vom Flügel kommt. Seinen Spielstil findet man so im Kader nicht mehr. Aber auch Deniz Undav, der im Gegensatz zu Niclas Füllkrug noch etwas spielstärker ist, könnte gerade als Teil einer Doppelspitze in gewissen Konstellationen gut funktionieren. Im Mittelfeldzentrum könnte vor allem in der Gruppenhase gegen destruktivere Gegner auch mal ein spielstärkeres Element als Andrich gefordert sein, sowohl Pascal Groß als auch Aleksandar Pavlovic bringen dies mit.

Summa summarum ist der Kader gut, aber nicht herausragend. Die Art und Weise, wie die DFB-Elf unter Nagelsmann spielen will, passt im Großen und Ganzen zu diesem Kader. Zudem wirkt die Mannschaft stabiler als noch im letzten Jahr, was für Zuversicht sorgt. Zuversicht ja, weil es einen Heimvorteil gibt, die Gruppe machbar ist und Entwicklungen sichtbar sind. Für Euphorie ist aber noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen. Die Fragezeichen gilt es nämlich noch zu beantworten.

(Photo by Alex Grimm/Getty Images)

Manuel Behlert

Vom Spitzenfußball bis zum 17-jährigen Nachwuchstalent aus Dänemark: Manu interessiert sich für alle Facetten im Weltfußball. Seit 2017 im 90PLUS-Team. Lässt sich vor allem von sehenswertem Offensivfußball begeistern.


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