Es ist etwas ungewohnt, dass nicht Jürgen Klopp die Saisonvorbereitung beim FC Liverpool coacht, sondern Arne Slot. Der Niederländer, der als Nachfolger des Erfolgstrainers bei den Reds anheuert, tritt in große Fußstapfen und hat ebenso große Ziele.
Dabei will er seine ganz eigenen Ideen umsetzen, aber nicht zu viel über den Haufen werfen. Wohlwissend, dass die Reds in den letzten Jahren über ein stabiles Fundament verfügten, sowohl Topstars als auch hervorragende Talente in den eigenen Reihen haben. Sein Fußball ähnelt dem von Klopp ein wenig, ist in Teilen aber dennoch anders. Die Mischung macht es.
Liverpool: Schweres Erbe für Slot
Jürgen Klopp und der FC Liverpool waren in den letzten Jahren ein sehr gut funktionierendes Gespann. Der Trainer gewann Titel, spielte in nahezu jeder Saison weit oben mit und etablierte einen Spielstil, der unverwechselbar war. Heavy Metal auf dem Rasen sozusagen. Mal mit kontrollierteren Ansätzen, mal völlig losgelöst. Liverpool besann sich auf die eigenen Stärken, inszenierte Chaos auf dem Platz. In vielen Fällen mit schwerwiegenden Folgen für den Gegner, ganz selten auch für die eigene Mannschaft. Nämlich dann, wenn aus der Hektik, mit der Liverpool umgehen konnte, Chaos wurde.
Zwischen dem LFC, den Fans und Klopp herrschte eine ganz spezielle Chemie. Deswegen ist es auch eine so schwierige Aufgabe, das Erbe Klopps anzutreten und dabei nicht sofort auf die Nase zu fallen. Arne Slot hatte den Mut, zuzusagen und sich der Challenge zu stellen. Bei Feyenoord gewann er in den letzten beiden Jahren gleich doppelt: Einmal Titel und einmal die Herzen der Fans. Denn auch Slot ist jemand, der besondere Verhältnisse schaffen kann.
Das wird möglicherweise auch gefordert sein, denn auf dem Transfermarkt tat sich vor der Saison wenig. Was heißt wenig: Nichts. Kein externer Neuzugang wurde an die Anfield Road gelotst. Teils, weil der passende Spieler nicht auf dem Markt war, teils, weil dieser wie im Fall Martin Zubimendi kurz vor einer Einigung absagte. Frustrierend ist das zweifelsohne, aber wie wir schon gelernt haben: Das Fundament ist stabil. Und damit will Slot arbeiten.
Slot schlägt neue Töne in Liverpool an
Es hat sich in der Vorbereitung durchaus schon etwas verändert. Die Testspiele waren grundsolide, darauf ließ sich aufbauen. Einige Elemente, die typisch Liverpool waren, sind es noch immer. Die Intensität ist beispielsweise hoch, das Pressing scharf, die Gegenbewegungen nach Ballgewinn explosiv. Um in der Musik-Metapher zu bleiben: Es ist eine Lightversion des Heavy Metal, aber eben mit mehr Popmusikphasen. Der Slot-Ball ist gemäßigter, häufig kontrollierter. Das könnte trotz nur kleiner Anpassungen ein essenzieller Punkt werden.
(Photo by Barrington Coombs/Getty Images)
Der Dirigent von Außen will sein Orchester auf dem Platz mäßigen, nicht mehr. Es können auch mal leisere Töne angeschlagen werden, bei Feyenoord war die Flexibilität ein wichtiger Faktor. Mal aggressiv zu Werke gehen und Fehler erzwingen, mal im eigenen Ballbesitz Kräfte sammeln, aber immer das Auge für sich bietende Lücken zu haben, ist die Wunschvorstellung der fußballerischen Balance, die Arne Slot hat.
Warum diese so wichtig sein kann, zeigt ein Blick auf den Endspurt der neuen Saison. Dort ging Liverpool nämlich ein wenig die Luft aus. Fünf Punktverluste gab es in den letzten zehn Spielen der Saison, während Arsenal und ManCity davonzogen. Der Hochrisikofußball hatte natürlich auch seine Tücken. Er lässt sich nur durchziehen, wenn der Kader breit genug ist und von Verletzungen verschont bleibt. Und beides war 2023/24 nicht der Fall. Eine etwas moderatere Belastung könnte da schon enorm helfen.
Neue Impulse nur auf der Trainerbank
Etwas interessant ist es schon, dass es neue Impulse bei den Reds lediglich auf der Trainerposition gegeben hat. Klar, für den neuen Coach kann es ein Vorteil sein, einer eingespielten Mannschaft, die sich und ihr Verhalten auf dem Platz kennt, neue Inhalte zu vermitteln. Aber in kaum einem Wettbewerb konnte Liverpool in der Vorsaison das eigene Optimum erreichen, schied in der Europa League gegen Atalanta aus, holte „nur“ den EFL Cup.
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Etwas mehr Breite im Kader hätte es wohl gebraucht, auch wenn noch nicht klar ist, welche jungen Spieler in der neuen Saison einen Schritt nach vorne machen können. Auf der Hand liegt, dass ein Sechser gesucht wurde. Martin Zubimendi war der Wunschkandidat, sagte aber ab und blieb bei Real Sociedad. Mit ihm war Liverpool schon recht weit, eine echte Alternative gab es nicht.
Die Sechser-Position könnte also theoretisch eine Schwachstelle sein. Wataru Endo ist eine solide Option, aber nicht dem obersten Regal zuzuordnen. Stefan Bajcetic ist gerade mal 19 Jahre alt und in einigen Teilbereichen noch relativ roh. Die restlichen Optionen im Mittelfeld sind keine klassischen Sechser, sondern bringen eher das Skillset eines Achters mit.
Einige Spieler sind bei Liverpool in der Pflicht
Nicht falsch verstehen: Der Kader des FC Liverpool ist immer noch sehr gut. Dass er aber den allerhöchsten Ansprüchen genügt, muss er unter Beweis stellen. Hierfür ist es wichtig, dass einige Spieler nicht nur verletzungsfrei bleiben, sondern ihr Potenzial auch vollends ausschöpfen. Kandidaten gibt es einige, Harvey Elliott zum Beispiel. Der Mittelfeldspieler ist noch lange nicht am Ende seiner Entwicklung angelangt, kann in der neuen Saison einen großen Schritt machen.
Gleiches gilt für Jarell Quansah, der in der letzten Saison schon einige Male eingesetzt wurde und überzeugen konnte. Er hat die Fähigkeiten, um sich beim LFC festzuspielen. Zwei etwas erfahrenere Spieler, die unter besonderer Beobachtung stehen, sind Trent Alexander-Arnold und Darwin Nunez.
(Photo by Stu Forster/Getty Images)
Alexander-Arnold ist mit seinen technischen Fähigkeiten und seinen Standardsituationen über jeden Zweifel erhaben, aber nicht defensiv. Der Rechtsverteidiger offenbarte in den letzten Jahren immer wieder, dass er nur ein wenig von seiner Topform entfernt sein muss, um als das Ziel des Gegners zu gelten, wenn potenzielle Schwachstellen in der Liverpooler Abwehr abgeklopft werden sollen.
Ein ganz besonderer Fall ist indes Nunez. Seit seinem Transfer zu Liverpool im Sommer 2022 wird auf die Explosion des Spielers gewartet. Dass er vieles mitbringt, stellt er regelmäßig unter Beweis. Doch auf gute Phasen folgen auch schlechtere, auf schlechtere dann frustrierende. 31 Torbeteiligungen in 65 Spielen in der Premier League lesen sich gut, wer seine Spiele gesehen hat, wird aber feststellen, dass deutlich mehr möglich war.
Vieles, aber nicht alles passt vor dem Saisonstart
Liverpool ist und bleibt ein Topteam in der Premier League, daran besteht kein Zweifel. Die Testspiele zeigten, dass gegnerische Teams gegen die Reds immer aufmerksam sein müssen. Spieler wie Mohamed Salah, Luis Diaz oder Diogo Jota können ein Spiel jederzeit auf den Kopf stellen oder unterscheiden. Und der neue Trainer bemüht sich intensiv darum, die fußballerische Komponente verstärkt in den Vordergrund zu rücken ohne dabei die Basis zu vernachlässigen. Die Stärken werden also nicht vernachlässigt, sondern es wird versucht, diese mit dem Slot-Fußball zu vereinen.
Dieser Prozess ist aber noch nicht abgeschlossen. Zudem ist es ein Risiko, ganz ohne Neuzugänge in die neue Saison zu gehen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass sich noch etwas tut, aber aktuell eher unwahrscheinlich. Die Mannschaft ist gut genug, um die Top-4 zu erreichen, ohne dabei permanent am Limit spielen zu müssen. Ob es für mehr reicht, wird vor allem von der Umsetzung der slotschen Ideen und dem Faktor Glück abhängig sein, denn viel Verletzungspech kann nicht kompensiert werden.
Text von Manuel Behlert
(Photo by Barrington Coombs/Getty Images)