„Bezüglich ten Hag habe ich massive Zweifel“: Das Experten-Panel zur Premier League 2024/25
16. August 2024 | Spotlight | BY Michael Bojkov
Die Premier League ist zurück! Am Freitagabend (21 Uhr) machen ManUnited und Fulham den Startschuss in die Saison 2024/25. Dabei wird United-Coach Erik ten Hag direkt unter Zugzwang stehen. Trotz auf dem Papier starker Transfers sind sich unsere Experten einig, dass es um den Niederländer und die Red Devils eher schlecht als recht steht. Im Panel zur neuen Spielzeit diskutieren wir außerdem über eine mögliche Wachablösung ManCitys, das Chelsea-Chaos und das große Erbe für Arne Slot in Anfield. Dazu gibt es jede Menge Prognosen – und auch den einen oder anderen Hot Take.
Vor dem Saisonstart haben wir uns mit dem englischen Sportjournalisten Will Lancaster (schreibt u. a. für Daily Express und Manchester Evening News) und Uli Hebel unterhalten, der Spiele für Sky und DAZN kommentiert und dazu den Premier-League-Podcast „Klick & Rush“ hostet. Aus der 90PLUS-Redaktion antwortete England-Experte Chris McCarthy.
Previews, Storys und mehr: Alles, was ihr zum Saisonstart der Premier League wissen müsst
Kann Arsenal endlich die Skyblues stürzen?
90PLUS: ManCity hat 2023 das Triple gewonnen, in der abgelaufenen Saison mit der vierten Meisterschaft in Folge eine neue Bestmarke erreicht. Auch aufgrund der ungewissen Zukunft Guardiolas: Siehst du bei City die Gefahr, dass die Spieler ihren Ehrgeiz verlieren? Wird die himmelblaue Dynastie zu bröckeln beginnen?
Will Lancaster: Ich glaube nicht, dass City in dieser Saison allzu sehr in Gefahr ist. Arsenal wird immer eine große Herausforderung für sie sein, und man weiß nie, ob es nicht doch noch einen weiteren Titelanwärter gibt. Aber die Konkurrenten haben sich jetzt auch nicht unbedingt so signifikant verstärkt, dass City unmittelbar Gefahr läuft, die Titelserie zu verlieren. Ich sehe sie trotz der ungewissen Zukunft von Pep Guardiola nicht schwächer, und das wird auch so bleiben, bis er geht.
Uli Hebel: Wenn alles ideal läuft, entscheiden sie das nicht alleine. Wenigstens nicht ganz alleine. Ich glaube nicht, dass es am Ehrgeiz liegen wird. In Guardiolas möglicherweise letzter Saison wird keiner wissentlich einen Schritt weniger machen. Teile des Teams sind alterstechnisch am Zenit und zum Zeitpunkt ist der Kader etwas zu klein. Klingt negativ – da wir aber über City sprechen, ist die Antwort: Nein. Erstmal bröckelt gar nichts. Die Antwort ist natürlich vorbehaltlich der laufenden Untersuchungen.
Chris McCarthy: Pep Guardiola ist besessen vom Erfolg und findet immer wieder neue Wege, seine Spieler zu motivieren. Wenn nach dem Triple keine Sättigung einkehrt, dann nie. Das heißt nicht, dass es nicht Risse in der Dynastie gibt. Angesichts der 115 Anklagepunkte gegen den Klub scheint es etwas Unruhe zu geben – was Pep in typischer Pep-Manier wiederum auch als Motivation nutzen könnte. Dazu gibt es die Gerüchte um seinen Abgang. Der Kader ist – Stand heute – eher schwächer geworden als besser und im Fall einiger Leistungsträger ein Jahr älter. Eine kleine Regression würde mich nicht schocken.
Slot und Liverpool – passt das?
Die Ära Klopp ist Geschichte in Liverpool. Mit Arne Slot übernimmt ein Trainer, dessen Spielidee der Klopps in ihren Grundzügen zwar ähnelt, aber mehr Ballbesitz-Elemente beinhaltet. Wie viel Anpassungszeit werden die „neuen“ Reds brauchen? Siehst du die Post-Klopp-Ära als eine Art Chance, vielleicht um frische Kräfte freizusetzen?
WL: Ich denke, die Mannschaft wird Zeit brauchen, um sich anzupassen, und es könnte mehr als eine Saison dauern. Klopps Fußball war Rock’n’Roll und Spieler wie Mohamed Salah, Trent Alexander-Arnold und Andy Robertson haben sich daran gewöhnt. Einige Spieler sind vielleicht nicht für den ballbesitzorientierteren Fußball geeignet, den Slot gerne spielen lassen würde. Neue Kräfte können zweifelsohne freigesetzt werden, aber das wird mindestens einige Monate brauchen.
UH: Ja natürlich ist das eine Chance. Es ist ja nicht nur der Trainer neu – insofern mag das ein ganz guter Zeitpunkt sein. Der Kader ist gut, das Mittelfeld schneller neustrukturiert als gedacht. Da Slot meiner Einschätzung nach aber Fundamentales ändern will, denke ich, dass Liverpool etwas deutlicher hinter den ersten Zweien stehen wird. Gleicher Platz wie in der Vorsaison (Platz 3, Anm. d. Red.) nur mit mehr Abstand.
CM: Es wäre naiv zu denken, dass der Abschied von Jürgen Klopp kein Rückschlag für den Verein wäre. Fachlich wie menschlich – das gilt es zu verarbeiten. Frischen Wind hat es meiner Meinung nach ebenfalls nicht gebraucht, denn wenn überhaupt, dann haben die Reds letztes Jahr unter Klopp sogar überberformt.
Was Slot angeht: Die Vorbereitungsspiele geben Grund zum Optimismus, dass die Transition in die neue Ära schneller und besser gelingen könnte als befürchtet. Das Konzept ist deutlich, der Ball rollt mit Überzeugung über den Platz. Ob die Leistungen aber bereits im ersten Jahr konstant auf einem hohen Niveau gehalten werden können, bleibt abzuwarten. Ebenso der Umgang mit Rückschlägen. Ein ernsthafter Titelkandidat sind die Reds meiner Meinung nach nicht, dafür wird es neben Zeit auch noch ein bis zwei Transferfenster brauchen. Dafür habe ich aber deutlich weniger Bedenken, dass die Verpflichtung nach hinten losgeht. Die Top-Four sollten kein Problem sein.
Die kriselnden Riesen: Wohin es für ManUnited und Chelsea gehen könnte
ManUnited hat einige kluge Investitionen auf dem Transfermarkt getätigt, Baustellen wurden (teilweise) geschlossen, der Kader wirkt nun sinnvoller und mit mehr Weitsicht zusammengestellt. Wie viel wird Erik ten Hag in seiner dritten Saison aus der Mannschaft herausholen können? Reicht es wieder für die Top vier?
WL: United hatte ein gutes Transferfenster, aber man kann nicht leugnen, dass es immer noch Baustellen im Kader gibt, die nicht geschlossen wurden. Es werden weitere Spieler für die Schaltzentrale gebraucht und ich sehe einfach nicht, dass sie einen allzu großen Fortschritt gegenüber der letzten Saison machen. Vor allem, weil Yoro für einige Zeit ausfällt und Zirkzee in der Hackordnung wahrscheinlich hinter Höjlund beginnen wird. Ich sehe United nicht unter den ersten Vieren.
UH: Mit der These gehe ich nicht mit. Der Kader hat zwei große Talente, die erstmal (verletzungsbedingt) aufgrund des Alters nicht sofort helfen werden. Die Ajax-Connection stellt aus meiner Sicht nicht automatisch ein Upgrade dar. Ich bin sogar eher skeptisch. Außerdem ist die Situation um ten Hag trotz Vertragsverlängerung nicht entschärft. INEOS wollte ihn da weghaben. Bei Spielen am Stück ohne Sieg wird es wieder laut. Er hat insgesamt klar an Standing verloren. Eine Tatsache, die nie gut war bei United-Managern.
CM: Bezüglich ten Hag habe ich massive Zweifel. Weil er bislang auch nur den Ansatz einer klaren Idee vermissen lässt. Weil er bereits über eine halbe Milliarde dafür investiert hat und bei einigen suspekten Verpflichtungen treibende Kraft war (Antony z. B.). Und weil seine Außenkommunikation suspekt ist. Mir fehlt hier die klare Vision und vor allem Eigenverantwortung. Nach den deutlich besseren Investitionen und in Jahr drei hat Ten Hag nun keine Ausreden mehr. ManUtd muss spielerisch einen gewaltigen Schritt machen, die Top-Four erreichen. Der Auftritt im Community Shield war zumindest ordentlich.
Nach schier unendlichen Kaderfluktuationen und sportlichem Misserfolg soll Enzo Maresca den FC Chelsea wieder in ruhigere Fahrtwasser führen. Wird es dem neuen Trainer gelingen, aus einem überaus talentierten, aber völlig aufgeblähten und unhomogenen Kader eine schlagkräftige Mannschaft zu formen, die wieder die Champions-League-Ränge in Angriff nehmen kann?
WL: Die Ernennung von Maresca ist in meinen Augen wirklich seltsam. Er hat eine Mannschaft aus Leicester, die eigentlich hätte aufsteigen müssen, mit Ach und Krach zurück in die Premier League geführt, und die Tatsache, dass Pochettino die Mannschaft zuletzt eigentlich in den Griff bekommen hat, lässt die Entscheidung der Bosse noch undurchsichtiger erscheinen. Ich bin mir wirklich nicht sicher, wo sich Chelsea verbessert hat – und die Verpflichtung von Pedro Neto ist äußerst merkwürdig. Die Blues werden eine der unterhaltsamsten Mannschaften auf und neben dem Platz sein, das steht fest.
UH: Vermutlich ist die Antwort copy und paste aus der letzten Saison. Chelsea muss die Vereinskultur mal in den Griff bekommen. Alsbald einigermaßen Ruhe einkehrte – auf und neben dem Platz – holten sie Ergebnisse. Und hatten Palmer.
Bei all der Fluktuation, bei all den Deals, bei all den klimatischen Probleme, denke ich, dass eine Wiederholung eines knappen sechsten Platzes das absolute Maximum wäre. Und nicht sehr realistisch.
CM: Seit Todd Boehly das Sagen hat, versinkt Chelsea im Chaos. Mir fehlt die Fantasie, bei all den Verpflichtungen einen Plan zu erkennen: Die Profile der Neuverpflichtungen widersprechen sich immer wieder. Trainer werden entlassen, wenn die die Ergebnisse nicht stimmen, obwohl ein statistischer Trend erkennbar ist, dazu werden Identifikationsfiguren vergrault (Conor Gallagher). Boehly ist gefangen zwischen Zukunft und Gegenwart. Er setzt auf Potential, hat aber nicht die Geduld, ihm die Chance zu geben. Es ist zwar langweilig, aber ich fürchte, auch Maresca wird dem zum Opfer fallen.
Wer wird Meister – und wer das neue Aston Villa? Prognosen und Hot Takes zur Premier League
Wer könnte das Aston Villa der neuen Saison werden? Sie selbst erneut? Oder vielleicht West Ham, das einen Kurswechsel mitsamt Trainerwechsel und einigen spannenden Neuzugängen vollzogen hat?
WL: Ich mag Villa, aber ihre Transfergeschäfte liefen sehr unkonventionell ab. Luiz ist ein großer Verlust, und auch wenn Diaby vielleicht nicht so aufregend war, wie man zunächst dachte, wird ihn Emery dennoch vermissen. Mir gefallen die Verpflichtungen von Onana und Maatsen, aber Villa braucht einen Stürmer, der Watkins herausfordert, einen weiteren Flügelspieler und möglicherweise einen Rechtsverteidiger. Da West Ham ein großartiges Transferfenster hatte und keinen europäischen Fußball spielt, könnten sie das Überraschungsteam der Saison werden. Aber ich denke, dass Newcastle wieder unter die ersten Vier kommen wird – neben City, Arsenal und Tottenham.
UH: Ich erwarte von Newcastle wieder einen Sprung zurück nach oben. Für alle anderen hängt die Champions League zu hoch. Aston Villa hat sich ausgezeichnet verstärkt – genau wie West Ham. Die beiden sinnvollsten Transferfenster. Ich denke aber, West Ham wird in bekannten Regionen bleiben, dabei aber besser aussehen. Je nachdem, was noch passiert, würde ich Crystal Palace Außenseiterchancen auf einen Europa-League-Platz geben.
CM: Meine Dark Horses für die neue Saison sind Fulham und Bournemouth. Beide haben klammheimlich spannende Kader mit hoch veranlagten Spielern zusammengestellt und haben taktisch sehr kompetente Trainer. Sie werden zwar nicht um die Champions League spielen, wahrscheinlich sogar Europa verpassen – zu groß ist die Konkurrenz –, aber ich traue beiden zu, echte positive Überraschungen zu werden. Bei Aston Villa dagegen rieche ich eine Emerysche Regression.
Zum Schluss eine Prognose-Runde: Der englische Meister, die drei Absteiger und dein Hot Take für 2024/25.
WL: Mein Meisterschaftsfavorit ist ManCity – sie haben einfach den nötigen Biss, um das Titelrennen zu gewinnen. Aber ich wäre nicht sonderlich überrascht, wenn Arsenal sie letztendlich verdrängen würde. Meine drei Absteiger sind Leicester, Southampton und die Wolves. Leicester hat noch zu viele Baustellen zu schließen, Southampton könnte von seiner eigentlichen Stärke, dem Ballbesitz-Fußball abrücken und somit das neue Burnley werden und die Wolves haben viele Schlüsselspieler verloren. Mein Hot Take: Brentford wird um die europäischen Plätze kämpfen und in der oberen Tabellenhälfte landen.
UH: Meister wird ManCity. Es ist nie clever, gegen sie zu setzen. Aber Arsenal ist dabei… Absteiger: Ipswich, weil die Qualität am Ende nicht reichen wird für einen echten Aufsteiger. Southampton, die mir etwas zu sehr Burnley-Vibes geben. Nottingham, weil die zu chaotisch sind in ihrer Gesamtherangehensweise. Hot Take: Mats Wieffer ist der Transfer der Saison. Im kommenden Sommer bietet mindestens ein Team 60 Millionen Euro und mehr.
CM: Wenn ich eines in den letzten Jahren gelernt habe, dann, dass man eigentlich nicht gegen ManCity wetten sollte. Sie sind das Maß aller Dinge, bis sie beweisen, es nicht mehr zu sein. Letztes Jahr habe ich aus reiner Lust auf Abwechslung mal auf meinen Bauch gehört und auf Arsenal gesetzt. Auf die Gefahr hin, mich erneut zu verbrennen – dieses Jahr ist auch mein Kopf an Bord: Ich erwarte eine minimale Regression bei City und eine weitere Steigerung bei Arsenal – das könnte nach zwei Punkten Unterschied im Vorjahr reichen. Es wird schnell vergessen, dass die Gunners in der Hinrunde Probleme hatten, Kai Havertz zu integrieren und sich zu finden. Das fällt weg. Nun können sie nahtlos an der herausragenden Rückrunde anknüpfen. Dazu haben sie jetzt mehr Erfahrung, Tiefe und den Hunger, es endlich zu schaffen.
Die Aufsteiger dürften auch in dieser Saison die Favoriten auf den Abstieg sein. Die Kluft wird größer. Aber ich hoffe, dass Ipswich seinem mutigen Ansatz treu bleibt und damit erfolgreicher ist als Luton letztes Jahr. Es würde der Premier League guttun. Erwischen wird es Southampton, Leicester und Nottingham Forest. Aber alles andere als mit Überzeugung. Hot Take: Bei Tottenham wird es ungemütlich. Weil ich fürchte, dass Postecoglous Plan A durchschaut wird und Plan B nur mit mehr Verstärkungen funktioniert. Bonus: ManCity erhält eine Strafe und bekommt mindestens einen Punktabzug.
Fragen von Michel Bojkov
(Photo by JUSTIN TALLIS/AFP via Getty Images)
Michael Bojkov
Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.