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Oh when the Spurs…? Der aktuelle Höhenflug von Tottenham erklärt

27. Oktober 2023 | Spotlight | BY David Schöngarth

Es ist eine der größten Überraschungen der laufenden Spielzeit: Mit einem Sieg am Freitagabend gegen Crystal Palace könnte Tottenham Hotspur den Vorsprung an der Spitze der Premier League vorrübergehend auf fünf Punkte ausbauen. Wir erklären den Höhenflug der Spurs und analysieren, wie es für die Lilywhites weiter gehen könnte.

Tottenham Hotspur: Wie Phönix aus der Asche

Die vergangene Länderspielpause dürfte vor allem Tottenham-Fans furchtbar lang vorgekommen sein. Schließlich standen die Spurs am letzten Spieltag vor der Unterbrechung in der allerersten Partie des Spieltags auf dem Feld und erkämpften sich in Unterzahl mit einem 0:1-Auswärtssieg gegen Luton die Tabellenführung. Im Verlauf des letzten Wochenendes mussten die Lilywhites dann zunächst zusehen, wie die Verfolger Liverpool, Manchester City und Arsenal nach der Tabellenführung griffen, ehe die Spurs am Montagabend in der allerletzten Partie des Spieltags wieder die Chance hatten, den Platz an der Sonne zu erobern – und das mit einem überzeugenden 2:0-Heimsieg gegen Fulham auch taten. Nun hat das Team aus dem Norden Londons, das bereits am Freitagabend beim Auswärtsspiel gegen Crystal Palace erneut gefordert ist, die Chance, den Vorsprung an der Tabellenspitze über Nacht auf fünf Punkte auszubauen – was einer Ausbeute von 26 Punkten bei 10 absolvierten Spielen entspräche.



Solche Aussichten wären vor nicht allzu langer Zeit undenkbar gewesen. Denn schließlich war es beim Heimsieg gegen Fulham auf den Tag genau sechs Monate her, dass eine desolate Spurs-Mannschaft fünf Gegentore binnen 21 Minuten kassierte und mit 6:1 bei Newcastle United gedemütigt wurde. Cristian Stellini, der erst kurz zuvor das Ruder von seinem ehemaligen Chef Antonio Conte übernommen hatte, nachdem dieser Mannschaft und Verein in einer legendären Pressekonferenz den Wölfen zum Fraß vorgewofen hatte, musste nach dieser Blamage ebenfalls sein Amt räumen. Die mitgereisten Auswärtsfans bekamen ihre Reisekosten von der Mannschaft erstattet. Ein absoluter Tiefpunkt für Tottenham, die im Anschluss unter Ryan Mason in die Sommerpause humpelten und eine historisch schlechte Saison außerhalb der europäischen Plätze beendeten.

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Die australische Revolution: „Big Ange“ erweckt die Spurs zum Leben

Tottenham Hotspur war im Frühsommer also ein Scherbenhaufen – ohne Trainer, ohne Sportdirektor (Fabio Paratici war kurze Zeit vorher von der FIFA für die in Italien verbreiteten „Plusvalenze“-Deals für zwei Jahre gesperrt worden), dafür mit einem wechselwilligen Stürmerstar in Harry Kane (30), ohne den die Spurs in der abgelaufenen Saison noch viel schlechter da gestanden hätten. Kein Wunder, dass viele der Trainerkandidaten wie beispielsweise Arne Slot oder Julian Nagelsmann vorsichtig waren und den Spurs einen Korb gaben. Einer, der vor der Herausforderung nicht zurückschreckte, war der Australier Ange Postecoglou, der bis dahin Celtic Glasgow äußerst erfolgreich trainiert hatte, aber noch nie in einer der „großen“ europäischen Ligen tätig gewesen war.

Ange Postecoglou, Tottenhams neuer Trainer.

Der Architekt von Tottenhams Erfolg: Ange Postecoglou. (Photo by GLYN KIRK/AFP via Getty Images)

Und ob es letztendlich tatsächlich der gute Eindruck, den Postecoglou in den ersten Gesprächen hinterlassen haben soll, oder der Mangel an Alternativen war – knapp fünf Monate später stellt sich die Verpflichtung von „Big Ange“, wie der Australier mit griechischen Wurzeln liebevoll genannt wird, als absoluter Glücksgriff heraus. Denn Postecoglou hat es geschafft, den Spurs binnen kürzester Zeit wieder Selbstvertrauen und Spielfreude einzuhauchen und verzaubert dabei mit seiner bodenständigen und charmanten Art nicht nur die Anhänger der Lilywhites. Dabei lief auch für den neuen Trainer der Spurs gleich zu Beginn nicht alles nach Plan. Die fehlende Perspektive auf Silberware und europäischen Fußball bewegte Rekordtorschütze Harry Kane schlussendlich zu einem Wechsel ins Ausland, was zähe Verhandlungen und viel Medienwirbel mit sich brachte. Zwei Tage vor Saisonbeginn stand Postecoglou ohne seinen besten Spieler da.

No Kane? No Problem

Dass an der White Hart Lane inzwischen kaum jemand mehr von Kane spricht, liegt an dem furiosen Saisonstart, den Tottenham seither hingelegt hat. Aus der letzten Saison war man eine statische, verunsicherte Tottenham-Mannschaft gewöhnt, bei der mitunter den eigenen Fans das Zuschauen schwer fiel. Jahrelanger Defensivfußall unter José Mourinho und Antonio Conte, gravierende Lücken im Kader und die Omnipräsenz des brillianten Harry Kane hatten dazu geführt, dass das Offensivspiel der Spurs regelrecht verkümmert war. Postecoglou, der offensiven und attraktiven Fußball zu seinem nicht-verhandelbaren Mantra gemacht hat, schien da auf dem Papier zunächst der genau richtige Mann. Und beim Saisonauftakt der Spurs, einem leistungsgerechten 2:2-Unentschieden bei Brentford, konnte man tatsächlich auch schon viele der Ideen und Konzepte erahnen, die Postecoglou in den letzten zwei Jahren bei Celtic und auch schon davor so erfolgreich gemacht haben. Seitdem zeigt sich in jedem Spiel die Handschrift Postecoglous immer stärker.

Der Australier schickt seine Mannschaft nominell im 4-2-3-1 aufs Feld, im Verlauf des Spiels kann das aber ganz anders aussehen. Im Ballbesitz nehmen die Spurs häufig grob eine 2-3-2-3 Formation an, in der die beiden Außenverteidiger Destiny Udogie (20) und Pedro Porro (24) neben dem Sechser (meist Yves Bissouma (27)) das Mittelfeld verdichten. Mittelfeldmotor Pape Sarr und Kreativspieler James Maddison sind mit vielen Freiheiten ausgestattet, die Flügelspieler Dejan Kulusevski (23) und Richarlison (26) sorgen für Breite und öffnen so Halbräume, in die wiederrum die mit aufrückenden Außenverteidiger einlaufen können. Im Sturmzentrum hat sich inzwischen Tottenhams neuer Kapitän Son Heung-min (31) festgespielt, der in Abwesenheit von Harry Kane seine Qualitäten im Abschluss unter Beweis stellen kann und in neun Spielen bisher sieben Tore erzielte. Postecoglous offensive Philosophie hat, zur Überraschung von Experten und Fans zugleich, sofort Wirkung gezeigt. Vor dem Spiel gegen Fulham hatten die Spurs ligaweit die meisten Schüsse, Torschüsse sowie Schüsse und Ballberührung in des Gegners Strafraum.

Son Heung Min und James Maddison im Trikot von Tottenham.

Das neue Offensivduo der Spurs: Son Heung-Min und James Maddison. (Photo by Ryan Pierse/Getty Images)

Nicht mehr wiederzuerkennen: Die Pressingmaschine der Spurs

Wenn der Gegner den Ball hat, tun die Spurs alles, ihn so schnell wie möglich wieder zurückzuholen. Das Pressing von Tottenham hat sich unter Postecoglou komplett gewandelt. Beim Pressingindikator „Passes per Defensive Action“ (PPDA), der die Anzahl der Pässe misst, die ein Team dem Gegner erlaubt, ehe es zu einer eigenen Defensivaktion kommt, weisen die Spurs nun den ligaweiten Spitzenwert auf. Vor dem Spiel gegen Fulham lag dieser Wert bei 9 Pässen (je niedriger, desto besser) – eine Verbesserung von durchschnittlich 4,7 Pässen im Vergleich zur letzten Saison. Kein Team konnte sich in Sachen Pressing so stark verbessern wie die Spurs. Dass das Pressing von Tottenham dabei durchaus System hat, wurde dann am Montagabend auch direkt unter Beweis gestellt, als das Team von Postecoglou offensichtlich Fulham-Verteidiger Calvin Bassey (23) als Schwachstelle identifiziert hatte, konsequent unter Druck setzte und aus zwei Fehlpässen von Bassey Kapital schlug.

Wenn es dem Gegner gelingt, dass Pressing der Spurs zu überspielen und das Team von Ange Postecoglou den Rückwartsgang einlegen muss, profitieren die Lilywhites von ihrem physich robusten und gleichzeitg extrem schnellen Innenverteidiger Micky van de Ven (22), der im Sommer vom VfL Wolfsburg in den Nordon Londons wechselte und bislang wie die meisten Neuzugänge voll einschlug. Gleichzeitig liegt hier auch die vielleicht größte Schwäche der Spurs, denn so offensivstark und spielfreudig sich die inversen Außenverteidiger Destiny Udogie und Pedro Porro bislang auch präsentieren, so groß sind die Räume, die sie hinter sich offen lassen.

Could we…? Wo die Reise für Tottenham hingehen könnte

Der fulminante Saisonstart von Tottenham hat für Aufsehen gesorgt und bei der Anhängerschaft, die sich nach Jahren des unattraktiven, gescheiterten Ergebnisfußballs in erster Linie nach Spielfreude und einer Verbindung zum Team sehnte, die Erwartungshaltung über den Haufen geworfen. Vor der Saison schätzen viele das Team von Postecoglou angesichts der zahlreichen Unbekannten und der immer stärker werdenden Konkurrenz irgendwo zwischen Rang sechs und neun ein. Inzwischen gelten die Spurs nach einem historisch guten Saisonstart – nur sieben Teams in der Geschichte der Premier League hatten nach 9 Spieltagen mehr als 23 Punkte auf dem Konto, fünf davon wurden letztendlich Meister – als aussichtsreicher Kandidat auf eine Platzierung unter den ersten vier oder fünf Mannschaften, was aller Voraussicht nach für eine Qualifikation für die Champions League reichen würde. Natürlich auch, weil vermeintliche Spitzenteams wie Chelsea oder Manchester United schlecht in die Saison starteten. Auch Champions-League-Neuling Newcastle musste erst auf Betriebstemperatur kommen, und steht angesichts der Sperre von Sandro Tonali (23) vor einem herben Rückschlag.

Die Spieler von Tottenham.

Quo vadis, Tottenham? Können die Spurs wirklich um die Meisterschaft mitspielen? (Photo by Justin Setterfield/Getty Images)

Könnte es für Tottenham also gar noch höher hinaus gehen als die Qualifikation für die Champions League? Hat Postecoglou aus den Spurs binnen kürzester Zeit einen Anwärter auf den Titel geformt? So gut es gerade auch für Tottenham aussieht, ein Titelkampf kommt für das Team von Ange Postecoglou wahrscheinlich noch zu früh. Dafür mangelt es dem noch jungen Spurs-Team an Erfahrung und, allen voran, dem Kader an Breite. Die vielleicht größte Sorge im Norden Londons ist derzeit, wie Tottenham auf einen Ausfall von Schlüsselspielern wie James Maddison (26) oder Cristian Romero (27) reagieren würde. Auf vielen Positionen wird es hinter der ersten Garde dünn bei den Spurs. Im Endspurt der Saison, der übrigens für Tottenham mit Spielen gegen Newcastle, Manchester City, Arsenal und Liverpool hintereinander besonders schwierig wird, kann genau das den Unterschied machen.

Bis dahin ist es aber noch eine ganze Weile hin. Eine Weile, in der Tottenham vergleichsweise wenig Spiele zu absolvieren hat. Durch den Mangel an europäischem Fußball und das frühe Ausscheiden aus dem EFL-Cup ist der Spielplan der Spurs derzeit, anders als bei der Konkurrenz, nur mäßig gefüllt. Statt im Flugzeug auf dem Weg durch Europa verbringt das Team von Postecoglou die Zeit zwischen den Wochenenden auf dem Trainingsplatz, was ein großer Vorteil sein kann. Dass die Spurs vorerst noch etwas weiter an der Tabellenspitze der Premier League gastieren, ist daher keineswegs ausgeschlossen. Ein Ende des Höhenflugs ist noch nicht in Sicht.

(Photo by GLYN KIRK/AFP via Getty Images)

David Schöngarth

Aufgewachsen mit Grafite, Luca Toni und Co. entfachten Gareth Bale und Mauricio Pochettinos Spurs in David eine Leidenschaft für die Premier League. Interessiert sich für alles, was auf der Insel vor sich geht. Seit 2022 bei 90Plus.


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