Spotlight

Thomas Tuchel und Pep Guardiola: Wie Aristoteles und Platon

15. Januar 2022 | Spotlight | BY Florian Weber

Heute ist es wieder so weit: Pep Guardiola trifft auf Thomas Tuchel. Ein Aufeinandertreffen, das ein Versprechen birgt. Denn jedes Mal, wenn die beiden in etwa zwanzig Metern Entfernung furios fuchtelnd an der Seitenlinie desselben Spielfeldes standen, hatte der Fußball etwas, was sich nur selten zeigt, uns aber immer wieder daran erinnert, wie schön, fast kunstvoll das Spiel sein kann. Es strahlt, es funkelt, es berührt.

Die Geschichte dieser beiden Männer, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich zu sein scheinen, ist eine besondere. Und vor allem die von Thomas Tuchel (48) eine, die sich nicht ohne Pep Guardiola (50) erzählen lässt. Dieser Text ist eine Suche nach Parallelen und Einflüssen.

Geprägt von gegenseitiger Bewunderung und Beeinflussung begann ihre gemeinsame Geschichte an einem diesigen Abend des Jahres 2015 in einer Bar am Münchener Odeonsplatz. Tuchel und Guardiola trafen sich im „Schumann’s“ zum Essen. Die beiden wollte sich Kennenlernen. Arrangiert wurde das Treffen von Bayerns damaligen Sportdirektor Michael Reschke. Und jener Michael Reschke war bis auf die Angestellten der Bar der einzige Augenzeuge dieses fußballhistorischen und mittlerweile legendären Aufeinandertreffens. Die Tiefe des Gespräches sei selbst für Fachleute ungewöhnlich gewesen, sagte Reschke. Es sei gewesen, als würde man einem Gespräch zwischen Platon und Aristoteles lauschen.



Die beiden Fußballphilosophen sinnierten über den Nutzen der Verdichtung des Zentrums, das Herauslocken tiefstehender Gegner durch absichtliche Ballverluste in ungefährlichen Zonen und gnadenloses Pressen auf den technisch schwächsten Aufbauspieler. Tuchel erzählte später, er habe Guardiola gefragt, warum er gegen Gladbach mit einer Viererkette aufgebaut hatte und nicht mit einer Dreierkette. „Er hat es mir erklärt, und ich habe das Glas genommen und gesagt: Aber die spielen doch so. Er hat es verschoben und gesagt: Nein, dieser Spieler muss da stehen und dieser auf jeden Fall hier.“

Die Salzstreuer-Legende

Salzstreuer und Gläser wurden zu Spielern und das Gespräch raste von einem taktischhistorischen Detail zum anderen. Reschke erzählte später, die beiden hätten Spiele vom FC Barcelona unter Pep Guardiola aus dem Gedächtnis visualisiert. Sich verbessert und nach Fehlern gesucht. Gerüchten zufolge so leidenschaftlich, dass sich die Kellner über längere Zeit nicht mehr an den Tisch des Trios trauten.

Welche Details dieses legendären Abends Dichtung und welche Wirklichkeit sind, können nur Thomas Tuchel, Pep Guardiola, Michael Reschke und die eingeschüchterten Kellner bezeugen. Doch ist das überhaupt wichtig? Denn sicher ist: Für Tuchel und Guardiola war der Abend ein wegweisender. „Ich habe das alles aufgesogen und gespürt, mit welcher Intensität, Detailverliebtheit und Überzeugung er coacht und welchen Erfahrungsschatz er hat“, sagte Tuchel später.

Doch wie kam es zu dem Treffen der beiden? Denn: Thomas Tuchel war damals ein national zwar geschätzter, international aber weitgehend unbekannter Trainer. Pep Guardiola hingegen der beste und schillerndste Trainer der Welt. Derjenige, der Jahre zuvor mit dem FC Barcelona den Fußball revolutioniert hatte.

Rulebreaker Tuchel

Eine Erklärung liefern die Aufeinandertreffen der beiden in den Jahren zuvor. Zweimal spielte Tuchels Mainz gegen Guardiolas Bayern. Duelle, die beim Blick auf das Ergebnis gewöhnlich Bundesligaspiel zu sein scheinen: Im Oktober 2013 gewann der FC Bayern in der Allianz Arena mit 4:1 gegen Mainz, fünf Monate später mit 2:0. Doch so klar, wie die Ergebnisse vermuten lassen, waren die Spiele nicht. Tuchel beeindruckte Guardiola in dieser Phase nachhaltig. Er sorgte in seinen Mainzer Jahren in der Bundesliga für Furore. Passte seine Mannschaft in jedem Spiel an den Gegner an. Erfand damals das in der Bundesliga zwischenzeitlich zahlreiche kopierte Spiegeln der gegnerischen Aufstellung und tauschte nach Siegen teilweise acht Feldspieler aus. Dinge, die damals noch undenkbarer waren als heute. Tuchel widersetzte sich dem Status quo  – und hatte damit Erfolg.

Zurück zu den beiden direkten Duellen mit seinem Vorbild Guardiola: Im ersten Spiel spiegelte er die Aufstellung des FC Bayern und bereitete dem Rekordmeister damit enorme Probleme. Die Mainzer führten zur Halbzeit durch ein Tor von Shawn Parker sogar mit 1:0. Erst nach mehreren Umstellungen Guardiolas knackte Bayern die Mainzer – er gratulierte Tuchel anschließend öffentlich für seiner Trainerleistung. Das zweite Spiel war für Bayern eine nicht minder schwierige Aufgabe. Erst in der 82. Spielminute brachte Bastian Schweinsteiger die Münchener in Führung. Die Mainzer verteidigten leidenschaftlich wie Löwen. Guardiola war erneut begeistert. Die Grundlage für das legendäre Treffen war geschaffen.

New York State of Mind

Das Treffen in der Münchener Bar fand statt, nachdem Thomas Tuchel Mainz verlassen hatte und ein Sabbatical einlegte. Genau wie Guardiola, der sich nach seiner Zeit in Barcelona ebenfalls eine Auszeit gönnte. Beide verbrachten einige Monate in New York. Für Tuchel war es wohl die Zeit, in der er den Entschluss fasste, mehr zu sein als ein national bekannter Trainer. Auf und neben dem Platz.

Tuchel ließ sich zwischen den New Yorker Häuserfassaden für das ZEIT-Magazin-Mann ablichten. In einem überlangen, taillierten Mantel mit einer knöchellangen Anzughose und Plateausohlen. Er sah aus, wie jemand, der New York ganz tief eingeatmet hat. Aus dem Kleinstadttrainer wurde ein Coverstar – samt Exklusivinterview über sein Leben. Insofern erwähnenswert, das es eine Parallele zu Guardiola darstellt, der dem oft modisch biederen Fußball bereits Jahre zuvor Stil einhauchte. Weniger extravagant als Tuchel, aber immerhin.

Wieder in Deutschland heuerte Thomas Tuchel bei Borussia Dortmund an. Er wurde zum ärgsten Konkurrenten Guardiolas um die Deutsche Meisterschaft. Und gleich das erste Duell, bei dem einer der beiden neue Farben trug, war ein denkwürdiges. Der FC Bayern düpierte Borussia Dortmund, führte die Schwarz-gelben, die an dem Tag wie ein naiver Labrador wirkten, regelrecht vor.

Mit grenzenlosem Idealismus stellte Tuchel den behäbigen Sokratis auf die Rechtsverteidigerposition, rochierte Lukasz Piszczek auf die linke Seite und positionierte Seven Bender ins Abwehrzentrum. In einer Art, die man später nur noch von Brasilien im legendären 1:7 gegen die deutsche Nationalmannschaft sah, jagten die Dortmunder den Ball in den ersten Minuten. Allerdings mit dem viel zu großen Opfer, die Absicherung völlig auf dem Sinn zu verlieren. Jerome Boateng chippte ein ums andere Mal über die naiv stehende Dortmunder Hintermannschaft. Für Tuchel wohl eines der lehrreichsten Fußballspiele seiner Karriere. Es offenbarte: Aristoteles, der Schüler, hatte noch einiges von Platon, dem Lehrer, zu lernen.

Die guardiolasierung Thomas Tuchels

Dieses Spiel ist ein neuralgischer Punkt in Tuchels Karriere. Einer, der dazu beigetragen hat, dass sich ein grenzenloser Idealist zu einem etwas kühleren Perfektionisten entwickelte. Das Pendel des ganzheitlichen Fokus auf das Spiel schlug in der Folge immer weiter in Richtung Defensive aus. Auf der Suche nach Balance, ordnete er die defensive Struktur immer seltener einem offensiven Furor unter. Genau wie Guardiola, der sich von Trainerstation zu Trainerstation mit einem stärkeren Fokus auf die Defensive, auch in Ballbesitzphasen, der Perfektion immer weiter annäherte.

Guardiola und Tuchel

(Photo by TOBIAS SCHWARZ/AFP via Getty Images)

Tuchel sagte vor wenigen Jahren etwa, dass er erst in seinen Dortmunder Jahren wirklich begriff, wie einen effektive Konterabsicherung funktioniere. Auch das einschneidende 5:1 gegen Guardiola hat wohl zu dieser Erkenntnis beigetragen.

Die beiden folgenden Spiele zwischen Dortmund und Bayern verliefen knapper – beide endeten 0:0. 0:0’s, bei denen Fußballkommentatoren ausnahmsweise einmal richtig lagen, wenn sie sagten, dies sei ein Spiel für Taktikliebhaber. Man könnte diese torlosen Duelle als Zufall interpretieren, oder eben als logische Anpassung und den nächsten Schritt in Tuchels Entwicklung zu einem Weltklassetrainer, der nun die Wichtigkeit von defensiver Stabilität nicht nur theoretisch begreift, sondern sie auch praktisch umsetzt. Der Schüler näherte sich seinem Mentor an. Und brach, genau wie sein Lehrer Jahre zuvor, in die weite Welt auf.

Thomas Tuchel wurde Trainer von Paris St.-Germain. Dem Klub einer der schillerndsten Städte der Welt. Angekommen dort, wo sich der Coverstar-Tuchel bereits Jahre zuvor hinsinnte. Aber nicht nur äußerlich präsentierte sich Tuchel weltmännisch. Bei seiner Vorstellung beantworte Tuchel die Fragen der Journalisten auf Französisch. Fans und Presse waren angetan. Genauso, wie es die deutsche Presse und die Bayern-Fans waren, als Guardiola seine Antrittspressekonferenz in München auf Deutsch abgehalten hatte.

Tuchels Paris dominierte die Liga. Der Maßstab, den die Klubverantwortlichen an den Trainer anlegten, war allerdings die Champions League. Ein Titel, dessen Gewinn neben enormer Qualität vor allem eins erfordert – das Glück, in den entscheidenden Spielen dem eigenen Leistungszenit so nahe wir möglich zu kommen, sowie das Glück, über das Tuchel in Interviews immer wieder philosophiert und welches er „Spielglück“ nennt. Also das der Ball, ungeachtet der Umstände oder der eigenen Leistung, über die Torlinie des Gegners rollt. Denn auch Perfektion garantiert nicht für Ergebnisse. Eine bittere Tatsache, die auch Pep Guardiola eine tragische Beziehung mit der Champions League entwickeln ließ.

Als diese Station für Tuchel beendet war, war Guardiola einer der ersten, der sich beim Deutschen meldete. Voll des Lobes und Zuversicht, aber noch im Ungewissen darüber, das die beiden bald wieder Ligakonkurrenten sein würden.

Eine Ergebnismaschine in Blau

Thomas Tuchel übernahm als Trainer beim FC Chelsea. Er folgte auf die Vereinslegende Frank Lampard, der seinem deutschen Kollegen ein vor allem defensiv fragiles Team vermachte. Die Verpflichtung Tuchels für ausgerechnet diese Aufgabe wurde in Frage gestellt. Seine Qualitäten standen außer Frage, allerdings hatte er in den Jahren zuvor Teams aufgebaut, die ihre Identität auf das Spiel mit Ball stützten. Offensiv, manchmal gar naiv spielende Hydren – aber alles andere als defensiv stabile Ergebnismaschinen.

Doch Tuchel war mehr als das. Stärker vom Perfektionismus als vom Idealismus getrieben transformierte er Chelsea zu einem defensiven Bollwerk. Die Londoner blieben in den ersten 21 Pflichtspielen unter Tuchel 16 Mal ohne Gegentor. 2,19 Punkte holt das Tuchel Chelsea pro Spiel. Eine Ergebnismaschine in Blau.

Und diese Neubesinnung brachte Tuchel in zuvor ungekannte Höhen, zum bisher größte Triumph seiner Karriere. Am 29. Mai, an einem Sommerabend in Porto, im Estádio do Dragão, strahlte der einstige „Rulebreaker“ aus Deutschland. In seinen Händen hielt er einen silberglänzenden Henkelpott. Zuvor hatte er sein Vorbild ausgecoacht. Und auch dieses Spiel lässt sich wieder im Kontrast von Idealismus und Perfektionismus erzählen. Kategorien, die nicht als sich ausschließender Gegensatz, sondern als Pendel einer Waage verstanden werden sollten.

Guardiola hatte ohne Not seinen vorher herausragenden Taktgeber und Stabilisator Rodri auf die Bank verbannt und fünf offensiv ausgerichteten Mittelfeldspielern hinter der falschen Neun Kevin de Bruyne aufgeboten. Riyad Mahrez, Ilkay Gündogan und Bernardo Silva hatten neue Rollen und wirkten in diesen orientierungslos. Und vor allem überfordert, die furiosen Konter von Chelsea einzudämmen. Die vor Idealismus funkelnde Idee, den massiven Chelsea-Block mit ständig rochierenden Edeltechnikern mit einem offensiven Feuerwerk zu durchbrechen scheiterte an einer weniger aufregenden dunkelblauen Abgeklärtheit. Eine Wachablösung auf dem Olymp der Fußballtrainer?

(Photo by SUSANA VERA/POOL/AFP via Getty Images)

Tuchel und Guardiola folgten dem selben Weg. Aus einer Verliebtheit in das Spiel wurde durch unnachahmlicher Akribie Perfektionismus in einem Sport, in dem sich keine Perfektion herstellen lässt. Wer auf diesem Weg weiter fortgeschritten ist? Lange Zeit war es fraglos Guardiola, zu dem Tuchel stets ehrfürchtig aufschaute – und es heute wohl noch immer mit der selben Demut tut. Der Abstand zwischen den beiden ist mittlerweile aber geringer, wenn es überhaupt noch einen gibt. Tuchel ist schon lange kein Schüler mehr, sondern selbst Großmeister. Oder im Bild von Michael Reschke: Aristoteles, der einstige Schüler Platons, war es, der dessen Ideen weiterentwickelte. So ist nun vielleicht ausgerechnet Pep Guardiolas Bewunderer Thomas Tuchel, der die Ideen des einflussreichsten Trainers dieses Jahrtausends weiterentwickelt – und perfektioniert.

(Photo by SUSANA VERA/POOL/AFP via Getty Images)


Ähnliche Artikel