CL | Tottenham vs RB Leipzig – Macht die Erfahrung den Unterschied?

19. Februar 2020 | Champions League | BY Chris McCarthy

Vorschau | Am Mittwoch empfängt Tottenham Hotspur im Achtelfinale der Champions League RB Leipzig. Wir haben uns mit Alasdair Gold (football.london) und Martin Henkel (u.a. rblive.de) die geballte Expertise ins Boot geholt, um auf das Duell vorauszublicken.

Tottenham

Die Tottenham Hotspur konnten sich, trotz ihrer Krise und einer 2:7-Abreibung gegen den FC Bayern, als Tabellenzweiter der Gruppe B für das Achtelfinale der Champions League qualifizieren. Bequeme Siege gegen Olympiakos Piräus (2:2; 4:2) und Roter Stern Belgrad (4:0; 5:0) machten es möglich.

Tottenham und das Ende der Ära Pochettino

Vor genau neun Monaten stand Tottenham überraschend im Finale der Champions League und unterlag dort dem FC Liverpool mit 0:2. Rückblickend war dies der Höhepunkt der Ära Mauricio Pochettino.

Die Warnsignale, dass die Mannschaft ihr Limit erreicht hatte, waren bereits im letzten Jahr zu erkennen. Die hohe Intensität, mit der Pochettino fünf Jahre agieren ließ, sowie die geringe Kaderfluktuation zollten ihren Tribut. Die Spurs wirkten physisch sowie psychisch überspielt. Die Neuzugänge schlugen nicht wie erhofft ein – beispielsweise Rekordmann Tanguy Ndombélé – sodass es immer wieder auf dieselben Leistungsträger ankam.

Nachdem Tottenham 2018/2019 im Schatten des fantastischen Laufs in der Champions League gerade so die Top-Four erreichte, war das Team 2019/2020 endgültig im Niemandsland der Tabelle angekommen. Pochettino musste nach elf Spielen gehen.

(Photo by DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP via Getty Images)

„Der Trainerwechsel war in dieser Saison nicht unvermeidbar“, findet Tottenham-Experte Alasdair Gold, „aber ich denke Pochettino hätte mehr Zeit bekommen, wenn José Mourinho nicht verfügbar geworden wäre.“

Für Gold, der für das Portal football.london tätig ist, war es dennoch nur eine Frage der Zeit, ehe Poechttino abgesägt werden würde: „Vorstand Daniel Levy wollte Mourinho schon länger. Levy stand Pochettino näher als jedem anderen Trainer zuvor, aber eine Trennung schien aufgrund unterschiedlichen Auffassung bezüglich der Richtung des Klubs immer wahrscheinlich. Ein Trainerwechsel war also irgendwie unvermeidbar, aber das Timing war für viele überraschend.“

Tottenham unter Mourinho

Unter Mourinho reißen die Spurs zwar weiterhin spielerisch keine Bäume aus, aber das Team hat sich eindeutig stabilisiert. Gold erklärt: „Die Resultate haben sich eindeutig verbessert. Die Defensive hat sich etwas gefestigt, aber es mangelt im Angriffsspiel noch immer an Struktur.“

Das Resultat: Der Punkteschnitt in der Premier League konnte von zuvor 1,17 Zählern pro Spiel auf 1,86 hochgeschraubt werden. Zuletzt gab es drei Siege in Folge, zwei knappe Erfolge gegen die Aufsteiger Norwich (2:1) und Aston Villa (3:2), aber auch einen 2:0-Triumph über Meister Manchester City. „Der Sieg gegen City war alles andere als überzeugend, aber hat viel Selbstbewusstsein verliehen. Fünf Siege und zwei Unentschieden in den letzten sieben Spielen, sie erledigen derzeit einfach den Job“, bilanziert Gold.

Plötzlich ist Platz vier aufgrund der schwächelnden Konkurrenz nur ein Zähler entfernt. Aktuell wäre Tottenham als Tabellenfünfter aufgrund der Sperre für Manchester City sogar für die Königsklasse qualifiziert.

Bedenken über die bislang fehlenden spielerischen Fortschritte gibt es im Norden Londons nicht. Dazu hatte Mourinho laut Gold in einem vollgepackten Spielplan bislang zu wenig Zeit, um seine Ideen zu entfalten.

(Photo by Michael Regan/Getty Images)

Das Kane-Problem

Die physischen Folgen des feinen aber kleinen Kader der Spurs sind am besten an Harry Kane auszumachen. Wie fast schon jedes Jahr, laboriert der Top-Torjäger Tottenhams an einer langwierigen Verletzung, dieses Mal sind nicht die Bänder, sondern der Oberschenkel in Mitleidenschaft gezogen worden. Seit dem 1. Januar ist Kane zum Zusehen gezwungen, ein Comeback dürfte – wenn überhaupt – erst Ende der Saison realisierbar sein.

Ohne Kane fehlte es Tottenham zuletzt an Torgefahr. Im Gegensatz zu Pochettino hat Mourinho den Sturm nicht mit Heung-Min Son, sondern mit Lucas Moura besetzt. „Son hat vom Flügel aus zwar weiterhin Tore erzielt“, erklärt Gold, „allerdings war er nicht der dominante Faktor wie sonst, wenn Kane fehlt.“

Beim 3:2 über Aston Villa am Sonntag kam auch Mourinho zu dieser Erkenntnis. Der Südkoreaner kehrte in den Sturm zurück und erzielte seine Saisontore acht und neun. Möglich macht das auch die Winterverpflichtung von Steven Bergwijn (PSV Eindhoven), der eine schmerzlich benötigte Alternative auf dem Flügel darstellt.

UPDATE: Am Dienstag wurden sämtliche Pläne über den Haufen geworfen: Tottenham gab bekannt, dass sich Son am Wochenende schwer an der Schulter verletzte und lange ausfallen wird. Nicht auszuschließen, dass die Spurs gegen Leipzig ohne nominelle Spitze spielen.

Schlüsselspieler: Giovani Lo Celso

Golds Schlüsselspieler, Giovani Lo Celso, ist also noch mehr gefordert. Der Argentinier wurde im Sommer in weiser Voraussicht mit Kaufoption von Betis Sevilla ausgeliehen, da Spielmacher Christian Eriksen einen Wechsel erzwingen wollte. Im Winter wurde der Wunsch des Dänen erfüllt – er wechselte zu Inter – und Lo Celso trat in seine Fußstapfen.

Gold ist begeistert: „Er war in den vergangen Monaten ausgezeichnet und hat die Lücke von Eriksen in einer tieferen Rolle kompensiert. Er ist technisch begabt, hat eine gewisse Ruhe, kann gut dribbeln und tödliche Bälle spielen. Die Spurs sind mit ihm viel besser.“

(Photo by ANDREJ ISAKOVIC/AFP via Getty Images)

Tottenham backt kleinere Brötchen

Die Abnutzungserscheinungen, der Trainerwechsel und auch eine Vielzahl an immer wiederkehrenden Verletzungen lassen den Finalteilnehmer des Vorjahrs in dieser Saison kleinere Brötchen backen.

Gold spricht für das Umfeld: „Durch die Probleme in dieser Saison haben die Erwartungen nachgelassen. Aber Tottenham hat Erfahrung im Wettbewerb, darüber hinaus hat ihn Mourinho zwei Mal gewonnen. Man ist sich in London bewusst, dass dies ein schweres Duell gegen einen guten Gegner wird, aber wenn jemand das Team darauf vorbereiten kann, dass Mourinho.“

Gold glaubt an einen knappen Sieg: „Ich denke Tottenham wird sich mit den Fans im Rücken zuhause knapp durchsetzen, aber es wird ein unglaublich schweres Duell.“

RB Leipzig

RB Leipzig qualifizierte sich in der Gruppe G mit Olympique Lyon, Benfica und Zenit St. Petersburg letztendlich mit drei Punkten Vorsprung als Tabellenerster erstmals für das Achtelfinale der Champions League.

Jahr eins unter Nagelsmann: Neuer Ansatz und mehr Flexiblität

Im vierten Bundesliga-Jahr nahm Rasenball Leipzig eine richtungsweisende Veränderung vor. Mit Julian Nagelsmann kam im Sommer einer der talentiertesten Trainer Europas von der TSG Hoffenheim. RB sollte ein Anwärter auf die Meisterschaft werden.

Über Nacht würde das nicht funktionieren, denn der neue Mann an der Seitenlinie hatte einiges an Arbeit vor sich. Er musste die zuvor sehr Konter-orientierte Leipziger Mannschaft an seinen eher Ballbesitz-fokussierten Stil anpassen. Die Ergebnisse können sich sehen lassen. RB steht nur einen Punkt hinter Spitzenreiter Bayern.

„Die Entwicklung ist grundsätzlich zufriedenstellend“, findet RB-Experte Martin Henkel, „Nagelsmann hat den Übergang vom alten Umschalt- zum Ballbesitzfußball weitgehend gemeistert.“

Die größten Fortschritte hat Leipzig seiner Ansicht nach allerdings in Sachen Flexibilität gemacht: „Das Team ist variabler geworden. Unter Vorgänger Ralf Rangnick war der Ansatz einfacher, allerdings auch klarer: Hinten bestenfalls zu Null spielen und durch Pressing und Konter vorne die Spiele gewinnen. Mit Rang drei ist dieser Ansatz erfolgreich gewesen. Das Problem: Immer mehr Mannschaften haben sich auf den typischen RB-Fußball eingestellt, neue Lösungen mussten also her. Und die hat Nagelsmann geliefert, beziehungsweise seinen Spielern an die Hand gegeben.“

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Minikrise bei RB Leipzig

Kurz nach Rückrundenstart drohte die Stimmung in Leipzig allerdings etwas zu kippen. RB verlor 0:2 bei Eintracht Frankfurt, woraufhin Nagelsmann an seine Mannschaft appellierte: „Es ist die Frage: Wollen wir das Gipfelkreuz erreichen oder bleiben wir kurz darunter stehen und genießen die schöne Aussicht. Es ist nicht so einfach auf dem Platz, wenn man im Training nicht an die Grenze geht.“

Es folgten zwei weitere sieglose Spiele, allerdings zwei Unentschieden gegen Kaliber wie Borussia Mönchengladbach und den FC Bayern, sowie die nächste Niederlage gegen Frankfurt, dieses Mal im Pokal. Auch Martin Henkel teilte die Meinung des Trainers, erkannte Defizite in Sachen Einstellung: „Die Herbstmeisterschaft hat den Köpfen offenkundig nicht gutgetan, wie Stürmer Timo Werner nach dem Remis in München auch andeutete.“ Zu Erinnerung: Werner sagte nach dem 0:0 ganz ehrlich: „Nach der Winterpause hatten wir als Tabellenführer zu viele Dinge im Kopf, solche wie man feiert, wenn man Meister wird.“

Die Mini-Krise hatte allerdings auch rein sportliche Gründe. Henkel erklärt: „Eine Nuance hat auch fehlendes Abschlussglück beigetragen, was vor allem die zwei Spiele gegen Frankfurt massiv beeinflusst hat.“ Darüber hinaus musste Nagelsmann notgedrungen umdenken. Mit den verletzten Verteidigern Willi Orban und Ibraima Konaté fehlen seit Oktober/November wichtige Stützen. Im Hinspiel gegen Tottenham kommt eine Sorgenfalte dazu: Dayot Upamecano fehlt zu allem Überfluss mit einer Gelb-Sperre. Womöglich rückt der junge Ethan Ampadu nach. Damit nicht genug: „Zudem fehlen mit Kampl (verletzt) und Demme (Abgang nach Neapel) zwei Spieler, die das Spiel von hinten heraus gestalten können bzw. konnten. Das fehlt im Spielaufbau“, stellt Henkel fest.

Rechtzeitig zum Achtelfinale der Champions League kehrte RB Leipzig am vergangenen Spieltag, beim 3:0 gegen Weder Bremen, auf die Siegerstraße zurück.

(Photo by Christian Kaspar-Bartke/Bongarts/Getty Images)

Fehlende Erfahrung als Nachteil

Defizite hat der Bundesligist vor dem ersten Champions-League-Achtelfinale der jungen Vereinsgeschichte dennoch. Und diese sind nicht über Nacht zu beheben. Anders als Tottenham, das in den letzten Jahren ein Dauergast in der Königsklasse war, vergangene Saison bis ins Finale marschierte und einen zweifachen Champions-League-Sieger als Trainer hat, ist RB Leipzig speziell in der K.O.-Phase dieses Wettbewerbs ein Neuling.

Das spricht auch für Henkel gegen RB: „Das ist Tottenhams großer Vorteil. Das gilt auch für Julian Nagelsmann, der erst einmal Champions League gespielt und mit Hoffenheim in der Gruppenphase gescheitert ist.“

Der Kader der Spurs kann in der Königsklasse auf die Erfahrung von insgesamt 38.493 Einsatzminuten zurückgreifen. RB Leipzig bringt es hierbei lediglich auf 12.942 Minuten, während es kein Spieler auf mehr als 1.806 Einsatzminuten bringt (Kevin Kampl). Das toppen bei Londonern insgesamt acht Akteure.

Schlüsselspieler: Timo Werner

Damit RB Leipzig die Runde dennoch übersteht, bedarf es für Henkel mehr als nur einen Schlüsselspieler: „Wie gut presst das Team im Verbund? Wer gestaltet das Spiel nach vorn?“ und natürlich: „Wie gut ist Timo Werner drauf“?

Es liegt auf der Hand, dass der 23-Jährige ein Spiel alleine entscheiden kann. Doch trotz seiner unglaublichen 25 Pflichtspieltore in der laufenden Saison durchläuft Werner – zumindest für seine Verhältnisse – eine kleine Torflaute.

Der Angreifer hat seit fünf Pflichtspielen nicht getroffen, hatte beim FC Bayern das Siegtor auf dem Fuß. Um gegen die Spurs weiterzukommen, bedarf es seiner Kaltschnäuzigkeit.

(Photo by Maja Hitij/Bongarts/Getty Images)

Bescheidene Erwartungen in Leipzig

Trotz der rasanten und polarisierenden Entwicklung des Vereins, sind die Erwartungen bezüglich der Champions League in Leipzig offenbar eher bescheiden. „Man kann gegen Tottenham auch ausscheiden, das ist der Tenor“, betont Henkel und ergänzt: „Alles, was jetzt in der Champions League kommt, wird als Geschenk betrachtet.“

Zu einem Geschenk wird es seiner Ansicht nach allerdings nicht kommen: „Ich denke RB ist in der aktuellen Verfassung kein Kandidat für das Viertelfinale.“

Prognose

Spielerisch muss sich RB Leipzig keinesfalls vor Tottenham verstecken, im Gegenteil. Beide Teams müssen auf wichtige Schlüsselspieler verzichten, sodass tatsächlich Nuancen den Unterschied machen könnte. Das führt uns wieder zur Erfahrung. Tritt der Bundesligist in der neuen Tottenham-Arena mit zu viel Respekt und Unsicherheit an, könnten die routinierten Spurs bereits im Hinspiel den Grundstein für das Weiterkommen legen. Tottenham hat leichte Vorteile.

Mögliche Aufstellungen

Tottenham: Lloris – Aurier, Sánchez, Alderweireld, Tanganga – Winks, Dier (Lamela), Lo Celso – Bergwijn, Alli – Lucas

Es fehlen: Harry Kane (Oberschenkel), Moussa Sissoko (Knie), Heung-Min Son (Schulter)

Fraglich: Erik Lamela (Leiste), Ben Davies (Knöchel)

RB Leipzig: Gulácsi – Mukiele, Klostermann, Halstenberg, Ampadu (Haidara, ZM), Angeliño – Laimer, Sabitzer – Olmo (Forsberg) – Werner, Schick (Nkunku)

Es fehlen: Ibrahima Konaté (Oberschenkel), Willi Orban (Knie), Kevin Kampl (Knöchel), Tyler Adams (Wade), Dayot Upamecano (Gelb-Sperre)

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Chris McCarthy

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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