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„Beim BVB ist Land unter, wenn auch noch das Derby nicht gewonnen wird“

25. Oktober 2019 | Spotlight | BY Piet Bosse

Spotlight | Das Revierderby elektrisiert die Fußballfans nicht nur in Gelsenkirchen und in Dortmund. Ganz Fußballdeutschland blickt mindestens mit einem Auge auf dieses Duell, das zumindest was die bisherige Punktausbeute angeht, einigermaßen auf Augenhöhe stattfindet.

Vor dem Spiel am Samstagnachmittag sprachen wir mit den Reportern Sebastian Weßling und Andreas Ernst (beide FunkeSport) über die wichtigsten Themen, auch 90PLUS-Redakteur Manuel Behlert gibt seine Einschätzungen zu diesem Duell ab.

90PLUS: Die Saison 2019/20 ist acht Spieltage alt und schon steht das erste Revierderby auf dem Programm.Während der FC Schalke 04 gut aus den Startlöchern kam, gibt es rund um den BVB vermehrt kritische Stimmen zu hören. Hättet ihr die Positiventwicklung der „Königsblauen“in dieser Art erwartet und überraschen euch die Probleme der Dortmunder?

Sebastian Weßling: Bei Schalke war aufgrund der Qualität, die im Kader ja grundsätzlich vorhanden ist, auf jeden Fall zu erwarten, dass es besser läuft als in der Vorsaison und dass man mit dem Abstieg nichts zu tun bekommt. Dass es trotz eines schwierigen Auftaktprogramms so gut läuft bislang, hat mich schon ein wenig überrascht. Das ist sicher Ergebnis der Aufbruchsstimmung, die der neue Trainer David Wagner erzeugt hat. Aber man muss abwarten, auf welchem Niveau sich das letztlich einpendelt.
Beim BVB ist es einerseits schon überraschend, wie schleppend die Saison anläuft, weil man sich ja im Sommer exzellent verstärkt hat. Allerdings waren viele der Probleme, die man jetzt hat, schon in der vergangenen Rückrunde zu sehen, als Dortmund sieben Punkte Vorsprung auf die Bayern verspielt hat: die anfällige Defensive, das manchmal zu statische Offensivspiel und vor allem die Flatterhaftigkeit, wenn Widrigkeiten auftreten – etwa durch einen unangenehmen, körperlich robust auftretenden Gegner oder ein unglückliches Gegentor. Von daher gibt es hier als Antwort ein entschiedenes Jein.

Andreas Ernst: Dass es auf Schalke besser läuft als in der vergangenen Saison, überrascht mich nicht. Dass es bisher aber so glatt läuft, finde ich erstaunlich. In der Amtsführung David Wagners kann ich bisher wenig Fehler feststellen. Die Gefahr, dass der BVB weniger gut startet, bestand schon, wie ich finde. Dafür lief die Endphase der vergangenen Saison zu holprig. Während Wagner also komplett unbelastet starten konnte, lastete auf Favre ein nicht unerheblicher Druck – noch gesteigert durch die zahlreichen hochkarätigen Zugänge.

Manuel Behlert: Nach der letzten Saison, die für Schalke 04 durchaus ziemlich enttäuschend verlief, bin ich schon positiv überrascht, wie schnell eine Handschrift von David Wagner sichtbar wurde. Natürlich läuft noch nicht alles nach Plan, aber Schalke ist bisher im Soll, hätte sogar den ein oder anderen Punkt mehr auf dem Konto haben können. Die Probleme des BVB überraschen mich in der Art und Weise schon, ich hatte dem Team nach den klugen Ergänzungen im Sommer eine Serie zu Beginn zugetraut. Lucien Favre schafft es gegenwärtig aber nicht, die Mannschaft entsprechend der neuen Impulse so weiterzuentwickeln, wie es nötig wäre.

Alex Grimm/Bongarts/Getty Images

90PLUS: Die Ergebnisse am letzten Wochenende waren mit einem Dortmunder Sieg und einer Schalker Niederlage konträr zu der Entwicklung der vergangenen Wochen. Verändert sich dadurch die Ausgangslage für das direkte Duell und welche Mannschaft ist für euch kurz vor dem Spiel der Favorit?

S.W.: Für mich wäre Dortmund aufgrund der höheren Qualität der Einzelspieler ohnehin der Favorit gewesen. Aber wir haben in den vergangenen Jahren schon oft erlebt, dass das im Derby eine begrenzte Aussagekraft hat, dass Faktoren wie Wille, Mentalität – auch wenn man dieses Wort beim BVB nicht gerne hört – und Einsatzbereitschaft eine deutlich größere Rolle spielen. Und vor allem haben die zurückliegenden Duelle der beiden Mannschaften gezeigt, dass die Tabellenkonstellation oder die vorangegangenen Ergebnisse überhaupt keinen Einfluss auf diese Partie haben. Von daher haben die Ergebnisse vom Wochenende in meinen Augen keine Auswirkung.

A.E.: Ich glaube die Schalker sind komplett entspannt und sehen sich nicht als Favorit, allerdings machen sich die Fans zurecht Hoffnungen, da sie den BVB zum exakt richtigen Zeitpunkt empfangen. Die Mannschaft wackelt, der Trainer ist umstritten, es wird schon über Nachfolger diskutiert – und durch die Englische Woche ist der BVB auch physisch nicht voll auf Höhe. Perfekte Bedingungen für S04.

M.B.: Die Ausgangslage ist völlig offen, einen Favoriten gibt es für mich derzeit nicht. Das positive Spiel der Dortmunder gegen Gladbach kann man durch das 0:2 bei Inter Mailand bereits wieder ad acta legen. In der Offensive fehlte in vielen Phasen das Tempo, die Anfälligkeit bei Kontern war sukzessive zu hoch. Dortmund muss sich gewiss steigern, um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden – und hat noch den ein oder anderen Spieler, der vielleicht auch in Sachen Fitness nicht bei 100 % ist.

90PLUS: Auf Schalke ist es gegenwärtig – und das muss man deutlich positiv hervorheben – sehr ruhig. Hat Schalke vielleicht mental einen Vorteil, weil die Erwartungshaltung im Verein momentan insgesamt geringer ist und, zumindest in der Öffentlichkeit, weniger diskutiert wird als in Dortmund?

A.E.: Klar. Niemand reißt den Spielern den Kopf ab, wenn das Derby verloren geht – solange die Einstellung stimmt jedenfalls. Beim BVB ist Land unter, wenn auch noch das Derby nicht gewonnen wird.

M.B.: Inwieweit die Ruhe auf Schalke tatsächlich ein Vorteil ist, lässt sich nur schwer abschätzen. Klar ist jedoch, dass der BVB vor diesem Spiel deutlich mehr im medialen Fokus steht. Nach der Niederlage in der Champions League und unter Berücksichtigung der bisherigen Ergebnisse in der Bundesliga steht Dortmund unter Zugzwang, Schalke hat weniger Druck – und vor allem keine Nebenkriegsschauplätze. Ein Nachteil ist das zumindest nicht.

S.W.: Dortmund hat in diesem Spiel mehr zu verlieren als Schalke, weil ein Punktverlust ein weiterer Rückschlag im Kampf um den Titel wäre. In den vergangenen Wochen hat man der BVB-Mannschaft die Angst vorm Verlieren zu oft angemerkt, das hat in manchen Partien regelrecht gelähmt. Das darf gegen Schalke nicht passieren.

Photo by Lars Baron/Bongarts/Getty Images

David Wagner hat dem FC Schalke 04 eine neue Philosophie mit auf den Weg gegeben. Schalke spielt strukturierter und ist gut ausbalanciert. Die Mittel, um den BVB vor Probleme zu stellen, sollten vorhanden sein. Worauf wird es ankommen? Was sind die Schlüsselduelle auf dem Platz?

S.W.: Für Schalke wird es darauf ankommen, das Dortmunder Tempo in der Offensive auszubremsen und zu verhindern, dass der BVB sein Kurzpassspiel rund um den Schalker Strafraum aufziehen kann. Dazu darf man sich nicht hinten hereinstellen, sondern muss Dortmund früh unter Druck setzen. Mats Hummels und Axel Witsel dürfen keine Gelegenheit bekommen, das Spiel in Ruhe aufzubauen. Vor allem Jadon Sancho und Marco Reus, aber auch die anderen schnellen Außenspieler müssen bereits bei der Ballannahme so gestört werden, dass sie nicht mit Tempo auf das Tor zulaufen können. Und bei Balleroberungen gilt es, schnell und direkt nach vorne zu spielen. Schlüsselduelle, die ich erwarte, sind Sancho gegen Bastian Oczipka und Thomas Delaney gegen Amine Harit.

M.B.: Schalke ist definitiv deutlich gefestigter als in der Vorsaison. Die Mannschaft weiß, was sie kann – und was nicht. Das ist ein wichtiger Punkt, um im Derby zu bestehen. Natürlich wird es für Schalke auf die Grundtugenden ankommen, das heißt, dass die entscheidenden Zweikämpfe gewonnen werden müssen, zudem sollte eine entsprechende Kompaktheit herrschen, damit Dortmund keine Räume bekommt. Für den BVB wird es wichtig sein, dass Marco Reus wieder zur Verfügung steht, damit die Offensive eine Extraportion Wucht erhält, denn die fehlte zuletzt völlig. Ein Schlüsselduell wird definitiv im Mittelfeldzentrum stattfinden, aber entscheidend dürfte auch sein, wie Schalke 04 Amine Harit einbindet und ob es den Dortmundern gelingt mit Sancho & co für Tempo zu sorgen. Außerdem spannend: Standardsituationen!

A.E.: Schalke hat in Hoffenheim, wie ich finde, sehr ansehnlich gespielt. Zwei Dinge fehlten aber, die gegen den BVB unbedingt vorhanden sein sollten, um einen Punkt zu holen – oder gar drei. Die Dynamik im Mittelfeld ist eine ganz andere, wenn Suat Serdar und Weston McKennie spielen. Beide fehlten in Hoffenheim, und das war zu spüren. Noch ist nicht klar, ob sie in die erste Elf zurückkehren. Und ganz wichtig: Schalke muss die Chancen ausnutzen. Guido Burgstaller ist noch ohne Tor – aber das Derby wäre ein guter Zeitpunkt, um diese Torlos-Serie zu beenden.

Dortmund hat nach wie vor große Probleme gegen tiefstehende Teams die Balance aus dem offensiven Druck und der defensiven Stabilität aufrecht zu erhalten. Spielt das gegen Schalke eine Rolle? Und welche Maßnahmen könnte Lucien Favre ergreifen, um dem vorzubeugen?

M.B.: Natürlich spielt das eine Rolle. Vor allem wenn bei Schalke 04 alle Spieler fit sind und das Mittelfeldzentrum ideal besetzt ist wird David Wagner seiner Mannschaft mit auf den Weg geben, dass man Dortmund auch mit einer entsprechenden Kompaktheit enorm fordert. Dass Schalke gleichzeitig Nadelstiche setzen muss und dabei präzise vorgehen muss, gehört dazu. Für Lucien Favre könnte es sinnvoll sein, wenn er Hakimi wieder in die Defensive beordert, um das nötige Tempo zu generieren. Seinen Platz in der Offensive könnte Reus einnehmen, auch Guerreiro – möglicherweise anstelle von Weigl oder Delaney – könnte für mehr Schwung im Kombinationsspiel sorgen.

S.W.: Da kompaktes Verteidigen nicht zu den großen Stärken von Borussia Dortmund zählt, muss auch gegen Schalke die abgenudelte Phrase gelten: Angriff ist die beste Verteidigung. In den zurückliegenden Spielen hat sich die Mannschaft nach einer Führung zu oft zu weit zurückgezogen, zu passiv agiert, nicht konsequent auf ein weiteres Tor gespielt – und sich so ihrer Stärken beraubt, die eher im Offensiv- als im Defensivspiel liegen. Außerdem müssen die Offensivspieler konsequent mit nach hinten arbeiten, wie es gegen starke Gegner wie Leverkusen und auch den FC Barcelona super funktioniert hat – gegen kleine Mannschaften wie Union Berlin aber überhaupt nicht. Auf all dies muss Lucien Favre hinweisen. Umsetzen aber müssen es letztendlich die Spieler, bei denen die richtige Einstellung gefragt ist. Defensivtaktisch muss Favre vor allem dafür sorgen, dass Harit nicht ins Spiel kommt. Das dürfte die Aufgabe für den zweikampfstarken Sechser Delaney werden, der schon beim 4:0-Sieg gegen Bayer Leverkusen Kai Havertz zur Randfigur degradierte.

Photo by Sebastian Widmann/Getty Images

Schalke wurde zuletzt in Hoffenheim zweimal ausgekontert trotz eines insgesamt ordentlichen Spiels, Dortmund kann mit seinen Offensivkräften gerade dieser Konterangriffe in das Repertoire  aufnehmen. Ist also für den BVB nicht nur der eigene Ballbesitz, sondern auch das schnelle Umschalten gegen Schalke von großer Bedeutung?

S.W.: Natürlich. Favre betont seit Beginn seiner Amtszeit in Dortmund immer wieder, wie wichtig das Konterspiel ist. Gegen Mannschaften, die auf kompaktes Verteidigen aus sind – und das dürfte Schalke in diesem Derby erst einmal sein –, ist es unheimlich wichtig, diese Umschaltsituationen zu nutzen, wenn beim Gegner noch Unruhe ist. Wenn sich die Defensive erst einmal sortiert hat, tut sich Dortmund in dieser Saison oft schwer, hochkarätige Chancen herauszuspielen.

A.E.: Schnelles Umschalten des Gegners – das war in Hoffenheim definitiv Schalkes Schwäche.

M.B.: Umschaltmomente sind auf jeden Fall wichtig. Vor allem, weil das Ballbesitzspiel bei Borussia Dortmund in den letzten Spielen in vielen Phasen viel zu behäbig und statisch war. Das war gegen Inter häufig zu sehen. Die Raumaufteilung – auch bedingt durch den derzeit nicht existenten Mittelstürmer – war häufig ausbaufähig. Wenn das Zentrum in der Offensive nur spärlich besetzt ist, dann muss das Tempo durch schnelle Kombinationen und überraschende Läufe generiert werden. Beides war zuletzt nicht zu sehen, sodass sich definitiv auch etwas im Spiel generell ändern.

Abschließend, kurz und knackig, eure Prognose: Was erwartet ihr vom Spiel? Wie geht es aus?

M.B.: Schalke 04 spielt zuhause und ist generell näher am zu erwartenden Optimum als Borussia Dortmund. Dennoch ist ein solches Spiel auch eine Qualitäts- und Nervenfrage. Ich rechne mit einem Remis mit Toren – 1:1.

S.W.: Ich erwarte, dass sich dieses Mal die größere individuelle Qualität auf Seiten der Dortmunder durchsetzt und der BVB 2:0 gewinnt.

A.E.: Ich tippe 2:1 für Schalke.

Headphoto by Ronny Hartmann / AFP

Piet Bosse

Fasziniert von diesem einen langen Pass in die Spitze. Hat eine Schwäche für deutschen und französischen Fußball. Seit 2019 bei 90PLUS.


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