Cunha und Hertha BSC – Man war nicht bereit füreinander
26. August 2021 | Trending | BY Marc Schwitzky
Spotlight | Nach eineinhalb Jahren gehen Hertha BSC und Matheus Cunha wieder getrennte Wege. Der 22-jährige Brasilianer hat sich Atletico Madrid angeschlossen, strebt nun nach höherem. Cunhas Zeit in Berlin ist von unerfüllbaren Erwartungshaltungen geprägt gewesen.
Cunha: Wechselverkündung beinahe wie Erlösung für Hertha
Am Ende wirkte die offizielle Verkündung fast schon wie eine Erlösung: Matheus Cunha (22) verlässt Hertha BSC und schließt sich Atletico Madrid an. Wochenlang gab es beinahe täglich neue Wasserstandsmeldungen zur Zukunft des brasilianischen Angreifers. Viele Namen flogen durch die Gerüchteküche: Atalanta, Inter, Leeds United und Zenit St. Petersburg sollen an Cunha gebaggert haben. Immer mit der Frage verbunden, ob der 22-Jährige nicht doch ein weiteres Jahr in Berlin bleiben würde. Schließlich hatte Cunha seinen Vertrag bei Hertha erst vor wenigen Monaten langfristig bis 2025 verlängert, sein Gehalt dabei üppig aufgestockt.
Doch Cunha war letztendlich nicht zu halten. Mit Atletico Madrid trat ein Verein auf den Plan, den eine besondere Aura umgibt. Die Aura eines Weltklassevereins. Atletico gehört seit Jahren zur Weltspitze des Fußballs, in den letzten neun Jahren gehörte man nur einmal nicht zur Top-Drei der spanischen Liga. In der vergangenen Saison wurden die „Colchoneros“ spanischer Meister, in der entscheidenden Phase der Champions League sind sie mittlerweile fast immer vertreten. Kurzum: viel größer geht es kaum noch. Solch einem Angebot musste Cunha zustimmen. Und auch Hertha musste das angesichts der Ablösesumme. Laut Bild kassieren die Berliner 32 Millionen Euro, zudem sichert man sich eine Weiterverkaufsbeteiligung.
Immer wieder betonte Geschäftsführer Sport Fredi Bobic (49), dass man Cunha nur abgäbe, wenn die gebotene Summe den eigenen Vorstellungen entspricht. Bobic weiß um das immense Potenzial Cunhas, der seinen Marktwert in den kommenden Jahren noch viel weiter in die Höhe schrauben könnte. Bobic weiß auch um die Marktsituation Herthas. Die Blau-Weißen haben in den letzten Jahren bemerkenswert viel Geld für neue Spieler ausgeben, kaum Geld eingenommen. Die Umstände, dass Corona die Kriegskasse hat schrumpfen lassen und Hertha den Kader noch gravierend umbauen will, machten eine marktwertgerechten Kauf unumgänglich.
Cunha spielte sich in Berlin schnell ins Rampenlicht
Cunhas Zeit in Berlin, sie war kurz wie ereignisreich. Im Januar 2020 wechselte der Brasilianer im Rahmen des Berliner Rekordwinters für 18 Millionen Euro zu Hertha. Bei der „alten Dame“ herrschte Goldgräberstimmung. Die Hinrunde unter Ante Covic (45) war zwar enttäuschend verlaufen, doch mit Nachfolger Jürgen Klinsmann (57) sollte alles größer, besser, schneller werden. Klinsmann versprach im Zusammenspiel mit Investor Lars Windhorst (44) die großen Dinge. Seine Erfolgsfantasien wurden mit 74 Millionen Euro, die Hertha im damaligen Winter für Cunha, Piatek, Tousart und Ascacibar ausgab, unterstrichen. Doch so schnell Klinsmann Berlin für sich gewann, so schnell ging er auch wieder.
Cunha erlebte das Klinsmann-Drama gar nicht persönlich. Er kam aufgrund der Olympia-Qualifikation erst verspätet nach Berlin, sehr kurzfristig wurde er für das Spiel gegen den SC Paderborn in den Kader und dann auch in die Startelf genommen. In jenem Spiel bewies der junge Offensivkünstler sogleich, welch Potenzial in ihm schlummert. Cunha war überall zu finden, er jagte den Bällen hinterher, holte sich in der eigenen Verteidigung ab, um sie dann nach vorne zu tragen. Cunha lief, dribbelte, schoss, fiel – es war sein Spiel, seine Show. Schon lange hatte man in Berlin solch einen Fußballer nicht mehr gesehen. Die Vergleiche zu Spielern wie Marcelinho oder Alex Alves waren so plakativ wie treffend. Hertha gewann das Spiel in Paderborn übrigens mit 2:1 – Cunha traf spektakulär per Hacke, natürlich.
Und so ging es die darauffolgenden Spiele weiter. Hertha steckte tief im Abstiegskampf, Klinsmann-Erbe Alexander Nouri (42) war mit seiner Aufgabe offensichtlich überfordert. Die Mannschaft ließ keinerlei System erkennen. Es gab keine Grundlagen, keine Spielzüge, Abläufe, nichts. Aber es gab ja Cunha, dem es sichtlich gut tat, sich keinerlei Marschrouten des Trainers halten zu müssen. In diesen Wochen sicherte der noch so junge Angreifer beinahe im Alleingang. Vom 24. bis einschließlich 27. Spieltag der Saison 2019/20 traf Cunha in vier aufeinanderfolgenden Spielen. Während viele Hertha-Spieler höchst verunsichert wirkten, strahlte Cunha nur reine Spielfreude und ansteckendes Selbstbewusstsein aus. Nouri-Nachfolger Bruno Labbadia (55), der zum 26. Spieltag einstieg, wusste um die Stärken Cunhas und ließ ihn einfach machen.
Unter Labbadia kamen die ersten Probleme
In seinen ersten elf Spielen für Hertha bis Saisonende erzielte Cunha sechs Tore (offiziell nur fünf, da sein Hackentor als Eigentor eines den Ball abfälschenden Paderborners gewertet wurde). Mit seinem Tempo, den unwiderstehlichen Dribblings, den so vielen wichtigen Einzelaktionen trug er Hertha zum Klassenerhalt. Wie sollte das erst werden, wenn Labbadia einen ganzen Sommer zur Vorbereitung bekommt und eine echte Mannschaft mit festen Abläufen entstehen kann? Die Antwort auf diese Frage sollte die Anfangseuphorie um Cunha etwas ersticken.
Denn: Cunha in ein System einzubinden, sollte eine Aufgabe sein, an der zuerst Labbadia und später Pal Dardai (45) scheiterte. Erstmals wurde ersichtlich, warum RB Leipzig bereit war, solch einen vielversprechenden Spieler lange vor Vertragsende an einen Bundesliga-Konkurrenten abzugeben. Schon Julian Nagelsmann tat sich immens schwer, Cunha taktische Disziplin aufzuzwingen. Blickt man auf die Zahlen, war aber auch die Hinrunde der Saison 2020/21 einmal von einem phänomenalen Cunha geprägt. In den ersten zehn Saisonspielen schoss der 22-Jährige sechs Tore, dazu legte er drei weitere auf. Mit seiner individuellen Klasse schwebte Cunha weiterhin über der kriselnden Hertha-Mannschaft, die sich in der letzten Spielzeit so schwer tat.
Hertha fand kein System für Cunha
Neben seinen Torbeteiligungen und vielen spektakulären Szenen zeigte Cunha aber auch erstmals sein anderes Gesicht. Zwischen Trainer Labbadia und ihm stimmte es nicht, zumindest sportlich. Labbadia ist ein Trainer, der für klares Positionsspiel und viel taktische Disziplin steht. In seinem 4-3-3 wissen alle Spieler ganz genau, was sie zu tun haben. Cunha als Halbstürmer, der überall auf dem Feld auftauchen will, passte in dieses System nicht hinein. Meist wurde er als Linksaußen eingesetzt, doch nie hielt Cunha die gewünschte Breite, ständig zog der Freigeist in die Spielmitte, um dort mehr spielerische Optionen zu haben. Was für ihn persönlich als logische Spielweise galt, machte aber den gesamteinheitlichen Plan des Trainers kaputt.
Hinzu kommt, dass Cunha ein sehr sensibler und emotionaler Spieler ist. Wenn es nicht läuft, lamentiert er auffällig viel, kommentiert die Aktionen seiner Mitspieler und diskutiert mit dem Schiedsrichter. In solchen Phasen schlägt all die Wucht, die Cunha im positiven erzeugen kann, ins negative um. „Er zieht sich selbst runter, bringt seine Leistung nicht, zieht die Mannschaft runter. Es ist sehr selten, dass ich so was mache, aber ich sage es ganz ehrlich: Ich bin total verärgert“, platzte Labbadia nach einer Niederlage in Freiburg der Kragen. „Er ist noch ein junger Mensch mit 21, aber er muss es schleunigst verändern.“
Auch Dardai bekam Cunha nicht in den Griff
Labbadia verzweifelte an Cunha. Man fand nicht zueinander. Und auch Cunha selbst schien erstmals an Selbstverständnis in seinem Spiel einzubüßen. Während die sportliche Talfahrt Herthas zuvor an ihm abperlte, wurde Cunha allmählich vom Negativstrudel mitgerissen. Auch wegen mehrerer kleinerer Verletzungen kam er nicht mehr in den Tritt. Nach dem zehnten Spieltag war Cunha in 17 Partien bis zum Saisonende nur noch an zwei Toren direkt beteiligt. Immer öfter mussten seine Einzelaktionen als „brotlose Kunst“ abgestempelt werden. Immer öfter verfingen sich seine Dribblings in den gegnerischen Defensivreihen, immer weniger Schüsse und Pässe fanden ihr Ziel. Cunha wollte es immer noch allen beweisen, geriet dabei aber in einen Modus, in dem er nur mit dem Kopf durch die Wand wollte.
Womöglich lud sich Cunha auch zu viel Verantwortung auf seine Schultern. Ähnliches berichtete Sportdirektor Arne Friedrich (42) immer wieder. Cunha sah, dass seine Teamkollegen an vielem scheiterten und so wollte er es halt alleine machen, sowie in seiner ersten Saison in blau-weiß. Der Teamgedanke wurde in dieser Phase hinten angestellt. Es gibt zahlreiche exemplarische Szenen, in denen Cunha nur den besser postierten Mitspieler hätte anspielen müssen, aber selber abschloss oder nochmal ins Dribbling ging – und scheiterte.
Und so trug Cunha seine Mannschaft nicht mehr, er wurde ein zusätzliches Gewicht für sie. All die Klasse, die er zweifellos hat, wurde in den letzten Monaten zur Bürde. Immer war der Scheinwerfer auf ihn gerichtet, zu viel Druck lastete auf ihm. Weil Cunha aber auch nicht bereit war, sich für das System zurückzunehmen, konnte er sich von eben jenem nicht auffangen lassen. Cunha ist eben kein Spieler für die einfachen Dinge, er kann sich nicht zurücknehmen.
Cunha war der Marcelinho, doch Hertha noch nicht so weit
Für die kürzlich begonnene Saison waren die Hoffnungen für Cunha dieselben wie ein Jahr zuvor. Erneut erhoffte man sich, dass Trainer und Spieler zusammenfinden, für Cunha endlich ein passendes System gefunden wird. Schnell wurde jedoch ersichtlich: Hertha ist noch nicht bereit für einen Fußballer wie Cunha bzw. Cunha nicht bereit, einen Schritt auf die Mannschaft zuzugehen. Oberstes Gebot in dieser Saison sind, das haben Bobic und Dardai gebetsmühlenartig betont, mannschaftliche Geschlossenheit, großer Wille und taktische Disziplin. Man will eine eingeschworene Einheit schmieden, in der sich niemand über den anderen stellt.
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Dies ist ein Prozess, den Cunha nicht mittragen kann und will. Er ist dem Team individuell zu schnell entwachsen, stets steht er im Rampenlicht, der Geschlossenheitsgedanke geht dabei verloren. Gleichzeitig bräuchte bei seinem aktuellen Entwicklungsstand ein Team, das seine Launen und Formkurven auch einmal auffangen kann, seine taktischen Defizite auffängt. Marcelinho war einst der große Star Berlins, doch wird dabei schnell vergessen, dass dieser Spieler wie Pal Dardai, Arne Friedrich, Niko Kovac oder Josip Simunic um sich herum hatte. Spieler, die ein absolut gefestigtes Gebilde darstellten und für Marcelinho mitarbeiten konnten. Hertha im Jahr 2021 ist aber weit weg von dieser Stabilität – sie soll aktuell erst gebaut werden. Und so passten Cunha und Hertha einfach nicht mehr zusammen.
Hertha will diese Saison die Grundlagen schaffen, um darauf aufbauend guten Fußball spielen zu lassen – Cunha steht bereits für Schritt zwei. „Es gibt Szenen, die sind überhaupt nicht Ordnung. Als Stürmer einfach vorn zu bleiben, zurück zu spazieren – da verstehe ich die Welt nicht mehr“, regte sich Dardai nach der Köln-Niederlage über die mangelnde taktische Disziplin Cunhas auf. Im darauffolgenden Spiel gegen den VfL Wolfsburg wurde Cunha aus dem Kader verbannt.
Cunhas Zeit in Berlin bleibt eine unvollständige
Unterm Strich waren Cunhas eineinhalb Jahre in Berlin eine positive Zeit. Der Brasilianer war in 40 Pflichtspielen an 23 Toren direkt beteiligt, 2019/20 hatte er einen unschätzbar hohen Anteil am Klassenerhalt der „alten Dame“. Nach seiner durchwachsenen Zeit in Leipzig war Cunha absoluter Stammspieler und Leistungsträger, sodass er viel Eigenwerbung für sich betreiben konnte. Seine Leistungen im blau-weißen Trikot brachten ihm die Olympia-Nominierung und die erste Berufung für A-Nationalmannschaft ein. Das sind alles Bühnen, die ihn näher an den Atletico-Wechsel gebracht haben.
Cunhas Zeit in Berlin fühlt sich gleichzeitig aber auch unvollständig an. Nie waren er und Hertha wirklich auf einem gemeinsamen Level, nie konnte man beide Parteien zusammen in voller Blüte betrachten. In seinen eineinhalb Jahren spielte Cunha auch nur einziges Mal vor einem gut gefüllten Olympiastadion, am 7. März vor 58.000 Fans gegen Werder Bremen. Man hätte wohl gerne mehr voneinander gehabt.
Nun wartet aber die nächste Herausforderung auf den noch jungen Profi. Es wird spannend zu sehen sein, wie sich Cunha bei Atletico schlagen wird. Schließlich wird die Mannschaft von Diego Simeone (51) trainiert. Kaum ein Trainer steht so sehr für taktische Disziplin wie der Argentinier, welcher Fußballer wie Fernando Torres noch zu absoluten Arbeitern und Mentalitätsmonstern machte. Technik, Torgefahr, Tempo, Spielwitz – Cunha bringt als Instinktfußballer absolut alles mit. Nun muss er erwachsen werden, dann kann er zur Weltklasse aufsteigen. Andernfalls droht der erste richtig harte Aufprall seiner Karriere.
(Foto: IMAGO)
Marc Schwitzky
Erst entfachte Marcelinho die Liebe zum Spiel, dann lieferte Jürgen Klopp die taktische Offenbarung nach. Freund des intensiven schnellen Spiels und der Talentförderung. Bundesliga-Experte und Wortspielakrobat. Seit 2020 im 90PLUS-Team.