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Die „Causa Kimmich“: Wenn Flexibilität zur Streitfrage wird

1. Oktober 2019 | Spotlight | BY 90PLUS Redaktion

Spotlight | Sechser, Rechtsverteidiger – ja was denn nun? Was von außen womöglich wie eine Scheindebatte wirkt, sorgt bei manch eingeschweißtem Bayern-Fan wöchentlich für Unmut. Und wirklich verstehen werden es vermutlich auch nur die wenigsten, so gilt ein flexibel einsetzbarer Spieler wie Joshua Kimmich doch als Segen für jeden Fußballverein dieser Welt. In der Tat ist der 24-jährige auch ein echter Glücksfall für den FC Bayern und die Fußballnation Deutschland. Ausgerechnet sein Talent, mehrere Positionen bekleiden zu können und zu wollen, sorgt inzwischen jedoch für Gesprächsstoff. 

Von Pep Guardiola inspiriert

Dass Kimmich im zentralen defensiven Mittelfeld aufgewachsen ist, geht inzwischen etwas unter ob der Tatsache, dass er heute einer der besten – vielleicht sogar der beste – Rechtsverteidiger der Welt ist. Zu verdanken ist das vor allem Pep Guardiola. Ihren Ursprung findet die Geschichte der Kimmich-Transformation bei der U19-Europameisterschaft 2014. Guardiola sieht sich die künftigen Größen des Fußballsports an, beobachtet einen überzeugenden 19-jährigen Joshua Kimmich auf der Sechser-Position der Deutschen Juniorenauswahlmannschaft.

(Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Ein Jahr später lotst er ihn zum großen FC Bayern. Zunächst bekommt Kimmich Einsatzminuten auf der gewohnten Sechs im Mittelfeld, nach einem notgedrungenen Schnupperkurs in der Innenverteidigung dann auf der Position des Rechtsverteidigers. Seine Auftritte dort sind so überzeugend, dass er sich bei der Europameisterschaft 2016 zum Stamm-Rechtsverteidiger der A-Nationalmannschaft spielt. Das Jahr darauf beerbt er gar Philipp Lahm bei den Bayern und entwickelt sich zu einem der Besten seines Faches.

Rückkehr auf die Sechs – aber warum?

Die Weltmeisterschaft 2018 in Russland war eine Blamage für die Fußballnation Deutschland. Die Zeit nach dem Vorrunden-Aus war auch die Phase, in der sich jeder deutsche Fußball-Fan seinen persönlichen „Fehler im System“ zurechtschneiderte. Viel wurde über fehlende Mentalität, die Daseinsberechtigung Löws und Mesut Özil gesprochen. Auch Joshua Kimmich kam nicht ungeschoren davon. Schwächen in der Rückwärtsbewegung und zu viele Räume für den Gegner wurden bemängelt. Im Zuge des auserkorenen Neustarts wurde Kimmich in der Nationalmannschaft auf seine alte Sechser-Position beordert. Bayern-Trainer Niko Kovac hingegen setzte vorerst weiterhin auf Kimmich als Rechtsverteidiger, nur sporadisch startete er auch bei den Münchnern im Mittelfeld. 

Seine Leistungen im Zentrum ließen allerdings mitunter zu wünschen übrig. Gerade auf der Doppelsechs neben Thiago wusste Kimmich nicht zu überzeugen, profilierte sich weder als ausgewiesener Ballverteiler noch als Stabilisator vor der Abwehrkette. Die Kritik vonseiten der Fans wurde deutlich: Warum setzt man einen Weltklasse-Rechtsverteidiger ohne jede Zwänge zurück ins Mittelfeldzentrum? Ist es nur dem Spieler zuliebe? Denn tatsächlich ist es schon lange kein Geheimnis mehr, dass sich Kimmich auf der Sechs als Strippenzieher, der häufig eingebunden ist, am Wohlsten fühlt, wenngleich er selbst zuletzt im „Aktuellen Sportstudio“ mitteilte, dass er auch von der Position des Außenverteidigers eine Führungsrolle übernehmen könne.

(Photo by Martin Rose/Bongarts/Getty Images)

Mannschaftstaktisch hat die Umstellung jedoch kaum einen Sinn ergeben, schon allein aufgrund der Tatsache, dass man ein Überangebot an Spielern im Mittelfeldzentrum hatte. Thiago, Martínez, Goretzka, Tolisso, Sanches, James und Müller – sieben Spieler für drei Positionen. Mit Kimmich waren es prompt derer acht. Die Personalkonstellation ein halbes Jahr später ist, mit geringfügigen Ausnahmen, die gleiche, Kimmich inzwischen jedoch deutlich häufiger als Sechser unterwegs. Derzeit scheint es in der Mannschaft zu stimmen, auch weil Goretzka fehlt und Cuisance langsam aufgebaut wird, gleichermaßen ist nicht gesichert, dass das im Laufe einer langen Saison auch so bleibt. In dieser Hinsicht ist es nicht gerade von Nutzen, einen perfekt funktionierenden Rechtsverteidiger ins „überfüllte“ Mittelfeldzentrum zu verladen. Man schafft sich ein potenzielles Problem praktisch selbst herbei. 

Kimmichs Offensivqualitäten als Rechtsverteidiger sind essenziell

Die Konsequenz aus Kimmichs Rückbeorderung auf die Sechs ist auch jene, dass Neuzugang Benjamin Pavard von nun an die Position des Rechtsverteidigers bekleidet. Seine Sache macht er dabei keinesfalls schlecht, ganz im Gegenteil: Kamen angesichts einer schwachen letzten Saison Zweifel in Bayern-Fankreisen auf, gibt sich Pavard als ein wichtiger Stabilitätsfaktor in der Münchner Abwehrkette, gewinnt bislang starke 68% seiner Zweikämpfe in der Bundesliga. Allerdings mangelt es an Offensiv-Qualitäten beim jungen Franzosen. So steht Pavard auch im eigenen Ballbesitz oftmals in der letzten Kette, schaltet sich nur sporadisch in Angriffe ein. Es geht eine Qualität verloren, die zu Kimmichs Kernspezialitäten gehört und für den FC Bayern in den vergangenen Jahren immer eine Waffe war. 

Der 24-Jährige ist bekannt dafür, sich stets in die eigenen Angriffe mit einzuschalten, Überzahlsituationen zu kreieren, die Abwehrkette des Gegners zu hinterlaufen und mit gut getimten Hereingaben die Mitspieler im Zentrum in Szene zu setzen. So brachte er es letzte Bundesliga-Saison auf ganze 13 Torvorlagen – Bestwert für einen Verteidiger. Zwar entstehen dadurch bisher noch keine eklatanten Probleme, ein gewisses Vakuum ist aber erkennbar. Während dies gegen einen durchschnittlichen Bundesligagegner nicht allzu problematisch ist, könnte es allerdings schwer werden, wenn es im Frühjahr gegen die Großen geht. Gegen ein Manchester City, Liverpool oder Juventus Turin könnte Kimmichs Präsenz in der Offensive von elementarer Wichtigkeit sein. 

(Photo by Sebastian Widmann/Bongarts/Getty Images)

Auch stellt sich die Frage, ob die Qualität eines Pavards für solche Spiele wirklich ausreichend ist. Bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr hat er das als Stammspieler des späteren Weltmeisters mehrfach bravourös unter Beweis stellen können, im Anschluss jedoch eine schwache Saison gespielt. Es ist also auch eine Frage der Konstanz, die beim Ex-Stuttgarter erst im Laufe der Zeit beantwortet werden kann. Gleiches lässt sich auf die deutsche Nationalmannschaft projizieren. Hier hat sich Lukas Klostermann auf der Rechtsverteidiger-Position festgesetzt, der zwar durchaus Offensiv-Qualitäten mitbringt, gleichzeitig jedoch kaum Erfahrung auf höchstem internationalen Level vorweisen kann.

Dissonanz zwischen Kimmich und Thiago?

Ein weiteres Problem scheint sich auf der neu formierten Doppelsechs mit Kimmich und Thiago aufzutun. Was auf dem Papier schön aussieht, erweist sich bisher nicht als die ausgemachte Stärke der Bayern. Bilden die beiden die Doppelsechs, blüht zumeist nur einer auf. In der Rückrunde der vergangenen Saison war es Kimmich, der in den wenigen Spielen als Partner Thiagos etwas abfiel. An der Seite des spielintelligenten Spaniers hatte der 24-jährige Probleme, seine Rolle als Sechser zu erfüllen. Diese Saison ist es fast andersherum. Während Kimmich zuletzt starke Spiele auf der Sechs ablieferte, im letzten Spiel gegen Paderborn unter anderem das Tor zum 2:0 herausragend einleitete, kamen Thiagos sonst so wichtigen Qualitäten in letzter Zeit nicht mehr so stark zur Geltung, was seinen Grund auch darin haben könnte, dass Kimmich enorm viele Bälle fordert und diese auch bekommt. 

(Photo by Lars Baron/Bongarts/Getty Images)

Das ist im Grunde kein Problem, nur kann es dafür sorgen, dass die Kernkompetenzen Thiagos, als Bindeglied zwischen den Ketten das Spiel zu lenken und die Mitspieler in Szene zu setzen, nicht mehr vollends zur Geltung und dem Spiel der Bayern somit eine unverzichtbare Qualität in Teilen abhanden kommt. So hatte Thiago in der Champions League gegen Crvena Cvezda mindestens einen sehr ordentlichen Auftritt an der Seite von Corentin Tolisso, während er in Leipzig und Paderborn als Nebenmann Kimmichs deutlich Luft nach oben hatte. Um das Zusammenspiel zwischen letztgenannten jedoch als einen wunden Punkt im Spiel der Bayern zu manifestieren, bedarf es noch an Beobachtungszeit. 

Letztendlich stellt sich jedenfalls noch immer die Frage, warum einer der besten Rechtsverteidiger der Welt auf eine andere Position „zurückgeschult“ wird. Weder beim FC Bayern noch in der deutschen Nationalmannschaft gab es in irgendeiner Hinsicht die Notwendigkeit dazu und bislang gibt es auch keinerlei Baustellen, die durch den Positionswechsel behoben wurden. Im Gegenteil: Man schafft sich selbst welche, indem man die überragenden und zuweilen unverzichtbaren Offensiv-Qualitäten Kimmichs misst, die numerischen Verhältnismäßigkeiten zwei verschiedener Mannschaftsteile in ein Ungleichgewicht bringt und gleichzeitig einen etwaigen Qualitätsverlust im Mittelfeldzentrum hervorruft. Vielleicht sollten Niko Kovac und Jogi Löw die Positionsfrage um Kimmich noch einmal gründlich überdenken.

 (Photo by Simon Hofmann/Bongarts/Getty Images)

Michael Bojkov


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