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Nachspielzeit: Jürgen Klopp und die gefährliche Euphoriewelle

2. März 2017 | Spotlight | BY Chris McCarthy

56 Premier League-Spiele hat Jürgen Klopp als Trainer des FC Liverpool nun hinter sich. Im Umfeld und bezüglich der Wahrnehmung des Vereins hat sich in diesen 17 Monaten einiges geändert, aber sportlich? Da tritt man weiterhin auf der Stelle, auch wenn man sich zu Saisonstart wieder von einer Euphoriewelle mitreißen ließ. Klopp muss handeln, sonst fordert diese Welle ihr nächstes Opfer…

 

Gefährliche Euphoriewelle

Nach einem starken Saisonauftakt trauten einige dem FC Liverpool in der ersten vollen Saison unter Jürgen Klopp (49) sogar die Meisterschaft zu. Sicherlich etwas voreilig, trotzdem schwamm der ganze Verein mal wieder auf einer Euphoriewelle.

Am 07. November 2016, die Reds hatten gerade den Tabellenachten aus Watford mit 6:1 deklassiert und die Tabellenführung erobert, mahnten wir zur Vorsicht:

Allem Hype zum Trotz, es fehlt der Mannschaft von „Kloppo“ insgesamt sichtlich an defensiver Struktur und defensiver, individueller Klasse. Man schwimmt wie 2013/2014 [„Die Suarez Offensive“] aktuell auf einer Euphoriewelle und kaschiert durch eine vor Selbstbewusstsein strotzenden Offensive die Mängel einer (für den Titel) noch inkompletten Mannschaft. Unserer Meinung nach wird es daher letztendlich nicht zur Meisterschaft langen, sondern am Ende eher zu einem Champions League Platz und das wäre in Anbetracht aller Umstände eine durchaus gute Saison und ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

Vier Monate später: Die Mannschaft hat durch das 1:3 bei Leicester City seine sechste Niederlage in den letzten zehn Spielen einstecken müssen. Den Tabellenfünften der Premier League trennt ein Zähler von der Champions League-Qualifikation und 13 Punkte von Tabellenführer Chelsea. Auch wenn es nicht so aussieht, da man in Liverpool immer „absolut ekstatisch oder lebensmüde“ ist:

Es ist die Chance, elementaren Probleme, die dem Verein auf dem Weg zur Spitze schon länger im Weg stehen, klar zu erkennen und endgültig zu beseitigen.

Diese elementare Probleme müssen an der Wurzel angepackt werden und dürfen nicht wieder von einer mitreißenden Euphoriewelle überschwemmt und temporär kaschiert werden. Es ist nämlich genau diese gemeingefährliche Euphoriewelle, welche die so erfolgshungrigen Liverpool-Fans nach nur elf Spieltagen vom Titel träumen ließ, obwohl die Schwächen erkennbar waren. Die Euphoriewelle, die 2014 einen gesamten Verein irrtümlicherweise im Glauben ließ, auf dem richtigen Weg zu sein. Dieselbe Euphoriewelle, die Brendan Rodgers nach dem verpassten Titel letztendlich den Job kostete. Eine Euphoriewelle, die auch Jürgen Klopp zum Verhängnis werden könnte, wenn er diese Probleme nicht behebt…

(Photo PAUL ELLIS/AFP/Getty Images)

Problem 1: Vernachlässigte Defensive

Gegen den abstiegsbedrohten Meister aus Leicester wurden die großen Probleme im Defensiv-Verbund, insbesondere in der Innenverteidigung, mal wieder evident. Lucas Leiva (30), der einem in der ungewohnten Innenverteidigerposition fast schon leid tun kann, war gegen den schnellen Jamie Vardy (30) ebenso hoffnungslos überfordert wie Joel Matip (25). Generell herrschte in der gesamten Viererkette absolutes Chaos.

Das Problem bestand allerdings schon bei Klopps Vorgänger, Brendand Rodgers (44).

Spätestens seit Sommer 2013 ist die Defensive beim englischen Traditionsverein grob vernachlässigt worden. Vereinslegende Jamie Carragher (39) beendete seine Karriere. Glen Johnson (32), Daniel Agger (32) oder Martin Skrtel (31) befanden sich alle auf dem absteigenden Ast. Der Verlust der einst so elementaren Eckpfeiler der Abwehr wurde in den folgenden Jahren nie kompensiert. Hier nahm das Übel seinen Lauf…

(Photo by Alex Livesey/Getty Images)

 

Vernachlässigte Defensive unter Rodgers

Bei der sensationellen Vizemeisterschaft 2013/2014 konnte der FC Liverpool die große Problemzone noch mit Hilfe eines Luis Suarez in Weltklasseform und unglaublichen 101 Ligatoren weitestgehend egalisieren. Jedoch nicht ganz, denn trotz Rekordoffensive waren 51 Gegentore einfach zu viel, um den greifbaren Titel für sich zu entscheiden.

Anstatt die Mannschaft, nach den teuren Abgänge von Suarez und Raheem Sterling, sinnvoll und nachhaltig in allen Bereichen zu verbessern, verprasste der Klub in den kommenden drei Transferfenstern ganze 275 Millionen Euro. Zum Großteil für überbewertete und überteuerte Spieler, die zudem nicht ins System passten (Markovic, Balotelli oder Benteke). Die Defensive wurde vernachlässigt:

 

Defensiv-Verpflichtungen nach 2013/2014:

Dejan Lovren (25,3 Millionen Euro), Alberto Moreno (18 Millionen Euro), Nathaniel Clyne (17,7 Millionen Euro) und Joe Gomez (4,9 Millionen Euro)

Im Sommer 2014 erkannte man, dass die hohe Anzahl an Gegentoren nicht tragbar war. Die Transfers von Lovren (27) und Moreno (24) waren aber unüberlegt, zu teuer und überstürzt. Ein Jahr später folgten, trotz bestehender Gegentor-Flut, einzig Rechtsverteidiger Clyne (24) und Abwehrtalent Gomez (19). Zu wenig, um die eklatante Schwäche zu beheben.

Geblendet von dem „offensivlastigen“ Erfolg der Saison 2013/2014 investierte man von 275 Millionen Euro lediglich 65,9 Millionen Euro in die eigentliche Problemzone = 24%

Die Folge: Die Torausbeute halbierte sich (!) – die hohe Anzahl an Gegentoren blieb bestehen. Im Oktober 2015 zeigte Liverpool immer noch keinerlei Fortschritte. Der erneut defensiv- und neuerdings auch offensivschwache Siebtplatzierte trennte sich von Rendan Rodgers…

[vtftable ]
{f1}Saison;;;{f1}Tore pro Spiel;;;{f1}Gegentore pro Spiel;nn;
2013/2014;;;2,7;;;1,3;nn;
2014/2015;;;1,4;;;1,3;nn;
2015/2016 (bis Oktober);;;1,0;;;1,3;nn;
[/vtftable]

 

Unter Rodgers versuchten die Reds, die Offensive auf ein Weltklasse-Level zu bringen. Gleichzeitig wurde die kränkelnde Abwehr nur oberflächlich zusammengeflickt. Diese lückenhafte Strategie ist vor allem der berühmt berüchtigten Euphoriewelle von 2014 zu verdanken. Man hoffte mit dem übertriebenen Fokus auf den Angriff, ein Erfolgsrezept gefunden zu haben…Die eigentlichen Probleme wurden ignoriert, kamen jedoch immer wieder zum Vorschein und das kostete den Trainer schließlich den Job.

(Photo by Scott Barbour/Getty Images)

 

Halbherzige Korrekturversuche unter Klopp

Seit dem Amtsantritt von Jürgen Klopp hat sich beim 18-fachen Meister hinsichtlich der Defensive wenig bis gar nichts verändert.

In den 17 Monaten unter der Leitung des Ex-Dortmunders verließen gleich mehrere Verteidiger, ob brauchbar oder nicht, den Verein. Trotzdem unternahmen die Verantwortlichen keine ernsten Versuche, den ohnehin schon schwachen Abwehrbereich aufzuwerten. Auch Klopp hatte mittlerweile – wie sein Vorgänger – drei Transferfenster Zeit, die Schwächen in der Hintermannschaft endlich zu korrigieren.

 

Defensiv-Verpflichtungen der Klopp-Ära: 

Steven Caulker (Leihe), Joel Matip (ablösefrei) und Ragnar Klavan (5 Millionen Euro).

Die Leihe von Caulker (Rückrunde 2015/2016) war ein Flop. Matip, zuvor Schalke, ist durchaus ein Upgrade für die Reds. Für eine Top-6 Mannschaft ist er im Idealfall aber eher als „zweiter IV“ einzustufen. Der Ex-Augsburger Klavan dagegen, muss sich derzeit sogar hinter dem in der Abwehrzentrale hoffnungslos überforderten Lucas Leiva (30) anstellen. Dies spricht Bände über die Wertschätzung des Esten. Lucas, ein gelernter Mittelfeldspieler, ist nämlich sehr langsam und verfügt über kaum eine Eigenschaft, die ihn zu einem brauchbaren Innenverteidiger auf internationalen Top-Level macht.

Bei Gesamtausgaben von 93 Millionen Euro investierte man unter Klopp nur 5 Millionen Euro in die Problemzone= 5%

Die Folge: Nach der Verpflichtung von Sadio Mané (24) für über 40 Millionen Euro, stellt Liverpool nach 26 Spieltagen den erfolgreichsten Angriff der Premier League. Die kränkelte Offensive hat der neue Coach also reparieren können. Die Probleme im Abwehrbereich dagegen, wurden weiterhin ignoriert und in Kauf genommen.

[vtftable cols=“{1}0-2:ffffff;{/}{2}0-2:ffffff;{/}{3}0-2:ffffff;{/}“]
{f1}Saison;;;{f1}Tore pro Spiel;;;{f1}Gegentore pro Spiel;nn;
2013/2014;;;2,7;;;1,3;nn;
2014/2015;;;1,4;;;1,3;nn;
2015/2016 bis Oktober;;;1,0;;;1,3;nn;
2015/2016 ab Oktober;;;1,7;;;1,3;nn;
2016/2017;;;2,1;;;1,3;nn;
[/vtftable]

 

Übrigens: Insgesamt schickte Klopp in seinen 17 Monaten, ganze 20 verschiedene IV-Paarungen ins Rennen.

 

Dass die Anzahl der Gegentore nicht abnimmt, ist bei der fehlenden Qualität, der mangelnden Konstanz und den inkonsequenten Optimierungsversuchen nun wahrlich keine Überraschung. Beste Offensive hin oder her: Das ist der Hauptgrund, warum der FC Liverpool auch unter Klopp immer noch ein gutes Stück vom Liga-Primus entfernt ist.

(Photo by Laurence Griffiths/Getty Images)

 

Problem 2: Taktische Defizite

Beispiel Leicester

Dass die Defensive das Problemkind des FC Liverpool darstellt, ist also nach wie vor kein Geheimnis. Genauso wenig wie die Tatsache, dass Leicester in der vergangenen Saison immer nach dem selben Muster Erfolge einfahren konnte: Tief stehen, wenig Ballbesitz, aggressiv in die Zweikämpfe gehen und die schnellen Jamie Vardy und Riyad Mahrez (26) durch schnelles Umschaltspiel in Szene setzen. Es war klar, dass die Mannschaft im ersten Spiel nach der Trainerentlassung mit viel Energie auflaufen und Interimstrainer Craig Shakespeare zu den altbewährten Mitteln greifen würde.

Laut eigenen Aussagen warnte Jürgen Klopp seine Mannschaft vor dem Spiel noch vor dieser bevorstehenden Ausrichtung und der zu erwartenden Intensität.

Auf dem Spielfeld war davon seitens der Gäste allerdings nichts zu spüren. Die Reds versuchten zwanghaft ihr typisches Spiel durchzusetzen, standen wie gewohnt extrem hoch und spielten dem plötzlich wiedererstarktem Meister somit komplett in die Karten. Wie Klub-Legende Jamie Carragher (39) nach dem Spiel bei Sky Sports UK anmerkte: Der Mannschaft fehlt ein Plan B!

(Photo by Julian Finney/Getty Images)

Anstatt sich auf den Gegner und die Spielsituation einzustellen, lief das Team unzählige Male ins offene Messer und leitetet durch vermeidbare Ballverluste in der Vorwärtsbewegung gefährliche Gegenangriffe ein. Die Routine und taktische Reife eines Jordan Henderson (26), der verletzt ausfiel, wurde schmerzlich vermisst. Emre Can (23) gelang es nicht mal ansatzweise das Spiel zu beruhigen und das Tempo zu diktieren.  Die fehlende Ballsicherheit und Struktur im zentralen Mittelfeld, gepaart mit einer extrem hoch stehenden Verteidigung waren taktischer Selbstmord. 

Durch eine geordnetere, tiefere Grundausrichtung und einem passiveren Auftreten hätte man unnötige Ballverluste in der Vorwärtsbewegung kompensieren und dazu die Schnelligkeit von Vardy neutralisieren können. Darüber hinaus hätte man Leicester zum ungeliebten Aufbauspiel gezwungen.

Letztendlich ist es ein Rätsel, warum Klopp gegen die Foxes, welche im Vorjahr das Gegenmittel zu einer hoch stehenden Verteidigung perfektionierten, nicht zu anderen Mitteln oder gar Spielern griff. 

 

 

Fazit

Auch wenn die Partie gegen Leicester nur ein Spiel war, in diesen 90 Minuten waren die zwei soeben geschilderten, massiven Probleme so deutlich zu erkennen, wie lange nicht. Nun liegt es an „Kloppo“ sie zu beheben, ehe sie wieder von einer Euphoriewelle überschwemmt werden.

1) Vernachlässigte Defensive

Im Gegensatz zu Brendan Rodgers soll sein Nachfolger bei den Transferbemühungen weitestgehend freie Hand haben. Umso bedenklicher, dass er die eklatanten Schwächen bisher mit insgesamt 5 Millionen Euro beheben wollte. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Klopp dies ohnehin 2017 vorhatte und das Problem daher lediglich hinten anstellte. So oder so, er muss die schwache Abwehr in seinem vierten Transferfenster konsequent adressieren. Es muss das Ziel sein, eine stabile Defensiv-Achse zu etablieren und aus einer sicheren Grundordnung heraus anzugreifen.

 

2) Taktische Defizite 

Da Klopp im eben erwähnten Fallbeispiel das Auftreten Leicesters korrekt vorhersagte, liegt die Vermutung nahe, dass die Spieler die Vorgaben nicht richtig umsetzten oder umsetzen konnten. Was auch immer der Grund war, die taktische Darbietung des FC Liverpool war nicht zum ersten Mal maßgeblich für eine Niederlage verantwortlich. Der Coach muss im kommenden Sommer einen Weg finden, sein Team auf verschiedenen taktische Gegebenheiten vorzubereiten, aber auch hinsichtlich der eigenen Stärken korrekt einzustellen.

(Photo by Julian Finney/Getty Images)

 

Nach der Niederlage gegen Leicester sagte ein ernüchterter Jürgen Klopp:

„Wir spielen hier alle um unsere Zukunft, dazu gehöre auch ich.“ [Sky]

Das klingt etwas dramatisch und auch wenn es eine unbeliebte Meinung ist: Ganz unrecht hat der Publikumsliebling nicht.

Die Vereinsführung traut dem deutschen Coach jedenfalls und stattete ihn kürzlich sogar mit einem Vertrag bis 2022 aus. Allerdings müssen nun langsam signifikante Fortschritte folgen.

Jürgen Klopp hat im Sommer nun die Möglichkeit, die Probleme anzupacken. Angefangen bei der personellen Besetzung der Defensive, bis hin zur taktischen Flexibilität seiner Mannschaft. Bleibt zu hoffen, dass er im Sommer standhaft bleibt und sich nicht von zwischenzeitlichen Erfolgsserien beirren lässt. Die nächste Euphoriewelle kommt bestimmt…

Chris McCarthy

Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.


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