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„Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – Conte nutzt das Chaos zum Selbstzweck

21. März 2023 | Trending | BY David Schöngarth

Kommentar | In seiner Pressekonferenz nach dem 3:3 von Tottenham gegen Tabellenschlusslicht Southampton holte Trainer Antonio Conte zum Rundumschlag gegen seine Spieler und den Verein aus. Auch wenn der Italiener mit seinen harten Worten nicht ganz Unrecht hatte, kann er sich nicht so einfach aus der Verantwortung ziehen.

Temperamentvoller Antonio Conte geht auf seine Spieler los

Um kurz nach 19 Uhr betrat Antonio Conte am Samstagabend den kleinen Pressebereich des St. Mary’s Stadiums an der englischen Südküste. Seine Mannschaft hatte kurz zuvor eine 3:1 Führung binnen 18 Minuten verspielt und gegen Ligaschlusslicht Southampton zwei wertvolle Punkte im Kampf um die Champions-League-Qualifikation liegen gelassen. Weil der zuletzt stark in die Kritik geratene Cheftrainer von Tottenham spät vor den versammelten Journalisten erschien, hegte manch einer bereits der Verdacht, der Verein hatten unmittelbar nach dem Schlusspfiff die Reißleine gezogen und Conte entlassen. Dem war nicht so.



Wie er den strittigen Elfmeter in der Nachspielzeit bewerte, der den Spurs den Sieg gekostet hatte, wurde Antonio Conte zum Einstieg gefragt. Doch davon wollte der Italiener nichts wissen. Es folgte eine zehnminütige Wutrede, die so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird und auf die Contes Landsmann Giovanni Trapattoni stolz wäre. Schnell wurde klar, dass Conte ohne Hemmungen alles herausließ, was sich über die letzten Wochen und Monaten in ihm angestaut hatte.

„Ich habe bis jetzt versucht, die Situation zu verbergen“, so Conte. „Aber das geht nicht mehr, nach dem was ich heute gesehen habe. Auch aus Respekt vor den Fans“. Im Fokus von Contes Kritik: seine eigenen Spieler. „Es stehen elf Spieler auf dem Feld. Ich sehe nur egoistische Spieler. Ich sehe Spieler, die sich nicht gegenseitig helfen wollen und die nicht mit vollem Herzen dabei sind“, so Conte. „Ich sehe elf Spieler, die nur für sich selbst spielen“. Auch an der mentalen Resilienz seiner Spieler ließ Antonio Conte kein gutes Haar: „Die Spieler sind es gewohnt hier. Sie sind es gewohnt, um nichts Wichtiges zu spielen. Sie wollen nicht unter Druck spielen, sie wollen nicht unter Stress spielen. So ist es einfacher für sie.“

Doch damit nicht genug: Zwar galt Contes Kritik hauptsächlich den Spielern, die Vereinsführung der Spurs um Chairman Daniel Levy bekam indirekt jedoch auch ihr Fett weg, als Conte auf die magere Trophäenausbeute von einem League Cup seit der Übernahme durch das britische Investmentunternehmen ENIC vor zwanzig Jahren anspielte und dem Verein ein strukturelles Problem vorwarf. „Das ist Tottenhams Geschichte. Die Besitzer sind seit zwanzig Jahren hier und sie haben nichts gewonnen. Warum? Liegt es nur am Verein oder am Trainer? […] Die Spieler müssen Verantwortung übernehmen, wenn Tottenham die Situation verbessern will. Wenn sie so weiter machen wollen, können sie den Trainer wechseln so oft sie wollen, aber es wird sich nichts ändern. Glauben Sie mir.“

Liegt Antonio Conte richtig?

Mit den Worten „Thank you very much“ ließ der sichtlich aufgebrachte Conte die verdutzten Pressevertreter nach gut zehn Minuten zurück, es dauerte nicht lange bis die ersten Zitate dieser legendären Pressekonferenz in den sozialen Netzwerken zirkulierten. Die ohnehin bereits angespannte Stimmung um die Spurs wurde dadurch zusätzlich aufgeheizt, eine überwältigende Mehrheit der Fans forderte die sofortige Entlassung des Trainers. Gleichzeitig mischten sich nachdenkliche Gedanken mit in die Debatte. Hatte Antonio Conte mit seinen Aussagen, so temperamentvoll und impulsiv sie auch gewesen sein mochten, nicht auch ein Stück weit Recht?

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Zwar konnten sich die Spurs, die in den 90er-Jahren noch Stammgast im Tabellenmittelfeld des englischen Oberhauses waren, unter der Eigentümerschaft von ENIC und Daniel Levy, die seit 2001 die Geschicke des Vereins leiten, als Stammgast im internationalen Fußball und Teil der sog. „Big Six“ etablieren, nennenswerte Trophäen blieben in dieser Zeit jedoch aus. Der letzte Titelgewinn der Spurs, die 1961 zuletzt englischer Meister wurden und 1984 die Europa League gewannen, ist datiert auf den 24. Februar 2008, als Dimitar Berbatov und Jonathan Woodgate den Spurs zu einem 2:1 Triumph über Chelsea im League Cup verhalfen. Es ist auf den ersten Blick also durchaus berechtigt, mit Blick auf alle Etagen des Vereins die Mentalitätsfrage zu stellen.

Und trotzdem macht Antonio Conte es sich mit seinen Aussagen zu leicht und die Pressekonferenz wirkt mehr wie ein Versuch, seine Spieler (und den gesamten Verein) vor den Bus zu werfen, anstatt eigene Verantwortung anzuerkennen. Im vergangenen Herbst gelang es den Spurs trotz einer Serie von Rückständen in beeindruckender Regelmäßigkeit, sich nicht einschüchtern zu lassen und Spiele in der zweiten Halbzeit noch zu drehen. Nicht wenige, mich eingeschlossen, dachten damals, dass Tottenham unter Conte auf dem besten Weg sei, dass undankbare Attribut „spursy“ endlich abzulegen. Wenige Monate später attestiert Conte seiner Mannschaft plötzlich eine generelle Charakterschwäche. Und auch sonst passen die Aussagen des Italieners nicht ins Bild, so lobte er seine Mannschaft im Frühjahr 2022 noch als „eine der besten Gruppen, mit der er je gearbeitet hatte“.

Die gesamte Conte-Pressekonferenz zum Nachlesen

Selbst wenn man den Aussagen Contes Glauben schenken will, so lässt der Italiener einen essenziellen Aspekt aus: Es ist als Cheftrainer seine Aufgabe, an der Einstellung der Mannschaft zu arbeiten und die Spieler zu motivieren. Dafür wird er von den Spurs mit 15 Millionen Euro jährlich fürstlich entlohnt. In Contes Augen, so suggerieren es zumindest seine Aussagen auf der Pressekonferenz, sind die Spieler aber offensichtlich untrainierbar. Das ist aus mehreren Gründen schlicht unglaubhaft und mutet als Versuch an, jegliche Verantwortung von sich zu weisen und die Spurs als unlösbaren Kryptonit eines jeden Trainers darzustellen. Am Ende des Tages war es Antonio Contes freie Entscheidung, zu den Spurs zu kommen. Mentalität und Siegeswillen sind Fußballspielern nicht angeboren, sondern können trainiert werden. Und zwischenzeitlich schienen die Spurs unter Conte wie gesagt zu einer Einheit zusammengewachsen zu sein. Es spricht Bände, dass sich Conte nun in der tiefsten Krise seiner bisherigen Amtszeit gegen die Spieler stellt.

Auch der von Conte bemühte Verweis auf das Scheitern seiner Vorgänger ist nur bedingt tragbar. Denn nicht nur hat Conte einen großen Teil des aktuellen Spurs-Kaders selbst verlesen (u.a. Dejan Kulusevski, Richarlison, Yves Bissouma, Ivan Perisic oder Pedro Porro), unter seinen Vorgängern waren die Spurs auch näher an der Silberware und spielten dabei, während der Pochettino-Ära, zumeist ansehnlichen Offensiv-Fußball. Conte schied binnen eines Jahres zwei Mal gegen Mannschaften aus der zweiten englischen Liga im FA-Cup aus, im League Cup scheiterten die Spurs an Nottingham Forest. Seine Vorgänger können eine bessere Bilanz aufweisen.

Pochettino Tottenham

Gilt als Kandidat für die Nachfolge von Antonio Conte: Mauricio Pochettino, der die Spurs zwischen 2014 und 2019 trainierte. (Photo by BEN STANSALL/AFP via Getty Images)

Genauer betrachtet ist die Amtszeit von Mauricio Pochettino die Antithese zu Antonio Contes Behauptungen. Denn wenngleich Pochettino in Contes Augen „gescheitert“ sein mag und mit den Spurs keinen Titel gewonnen konnte, hat er es geschafft, mit weitaus geringeren Mitteln als Conte eine Mannschaft zu formen, die mehrere Jahre lang um die höchsten Ehrungen im europäischen Fußball mitspielte. Pochettino zeichnete sich dabei durch Offensivfußball, taktische Flexibilität, eine enge Verbindung zu Mannschaft und Fans sowie die Fähigkeit, (junge) Spieler besser zu machen, aus. Attribute, die Antonio Conte zuletzt vermissen ließ.

Tottenham und Antonio Conte: Trennung unausweichlich

Seiner beeindruckenden Vita zum Trotz hat Antonio Conte während seiner Amtszeit bei den Spurs Fehler begangen. Umso fragwürdiger seine eigennützige Wutrede während der Pressekonferenz. Unter Conte spielen die Spurs in einem 3-4-3, Plan B: Fehlanzeige. Was passiert, wenn Contes Philosophie aufgeht, zeigte sich im Endspurt der vergangenen Spielzeit. Defensiv waren die Spurs ein Bollwerk, überließen dem Gegner zwar zumeist die Kugel, waren dafür aber eiskalt in Umschaltsituationen. Mit neun Siegen aus den letzten dreizehn Ligaspielen – darunter gegen den direkten Konkurrenten Arsenal – sicherten sich die Spurs die Qualifikation für die Champions League. Im darauffolgenden Transferfenster investierte der Verein beinahe 180 Millionen Euro in neues Personal für den notorisch anspruchsvollen Conte.

Die Spieler sind es gewohnt hier. Sie sind es gewohnt, um nichts Wichtiges zu spielen. Sie wollen nicht unter Druck spielen, sie wollen nicht unter Stress spielen. So ist es einfacher für sie.

Doch mittlerweile hat sich herumgesprochen, wie Tottenham spielt. In der laufenden Saison stagnierte man zunächst spielerisch, zum Schluss blieben dann auch die Ergebnisse aus. Ein defensiv ausgerichteter Trainer wie Antonio Conte, mit dem in kürzester Zeit der größtmögliche Erfolg erreicht werden soll, ist nur tragbar, wenn man auch Erfolg hat. Damit rechtfertigt ein Pragmatiker wie Conte seinen Spielstil. Doch der Erfolg ist bei Tottenham in dieser Saison ausgeblieben. Für Kopfschütteln sorgte auch das beinah zwanghafte Festhalten an der ersten Elf, obwohl der Torschützenkönig der vergangenen Saison, Son Heung-Min (30), in der laufenden Spielzeit ein Schatten seiner Selbst ist. Namhafte Neuzugänge wie Richarlison oder Yves Bissouma schmorten lange auf der Bank, junger Spieler wie Djed Spence (22), der kürzlich bei Rennes 2:0 Sieg gegen PSG zum Man of the Match gewählt wurde, bekamen erst gar keine Chance. Zu guter Letzt machte Antonio Conte zuletzt keine Anstalten, seinen im Sommer auslaufenden Vertrag zu verlängern. Es ist nicht verwunderlich, dass eine „lame duck“ wie Conte die Spieler dann auch nicht mehr mental erreicht.

Als wären das nicht schon genug Argumente, ist eine Trennung von Antonio Conte und Tottenham spätestens nach der Pressekonferenz von Samstag unausweichlich. Das Verhältnis zwischen Trainer und Mannschaft scheint irreparabel beschädigt zu sein. Es ist davon auszugehen, dass Antonio Conte das auch bewusst war und er mit seinen Aussagen den Verein vermutlich sogar zum Handeln zwingen wollte. Bei einer Entlassung erhält Conte gemäß dem Arbeitsrecht eine Abfindung. Das ändert nichts daran, dass der Verein sich solche Aussagen schlichtweg nicht gefallen lassen sollte und dass aller Voraussicht nach auch nicht tun wird. Medienberichte deuten auf eine Entlassung in den nächsten Tagen hin.

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Gleichzeitig sollte die Führungsetage bei den Spurs Antonio Contes Aussagen nicht ignorieren. Der Kader der Spurs hat Lücken und gerade in der Innenverteidigung sind es seit mehreren Jahren dieselben Spieler, die für Instabilität sorgen. Das Versäumnis, die Spieler dort nicht mehr in die Verantwortung zu nehmen und die Lücken zu schließen, ist eines Champions-League-Teilnehmers nicht würdig. Und auch bei der Suche nach einem neuen Trainer gilt es, keine Fehler zu machen. Denn nach drei gescheiterten Anläufen mit José Mourinho, Nuno Espirito Santo und Antonio Conte, könnten die Spurs eine langfristige Vision und etwas mehr Stabilität auf der Trainerbank gut vertragen. Daniel Levy, dessen Ruf als Chairman unter den Fehlentscheidungen der letzten Jahre gelitten hat, steht unter besonderer Beobachtung. Auch die Zukunft von Harry Kane (29) ist noch ungeklärt und könnte durch die Wahl des neuen Trainers beeinflusst werden.

Wer auch immer als nächstes auf der Trainerbank der Spurs sitzen wird: Es ist davon auszugehen, dass er im Gegensatz zu Antonio Conte in der Lage sein wird, den Kader mit einem Marktwert von insgesamt 680 Millionen Euro, zu trainieren.

(Photo by ADRIAN DENNIS/AFP via Getty Images)

David Schöngarth

Aufgewachsen mit Grafite, Luca Toni und Co. entfachten Gareth Bale und Mauricio Pochettinos Spurs in David eine Leidenschaft für die Premier League. Interessiert sich für alles, was auf der Insel vor sich geht. Seit 2022 bei 90Plus.


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