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„Endlose Lobhudeleien wirken unecht“ – Ein fiktives Interview mit Sir Alex Ferguson

31. Dezember 2021 | Trending | BY Florian Weber

Über 27 Jahre hinweg stand Sir Alex Ferguson über 1500 Mal für Manchester United an der Seitenlinie. Eine im Weltfußball wohl unvergleichlicher Karriere. Wie wurde der junge aus dem Arbeiterviertel Govan zu einem der besten Fußballtrainer Welt? Was sind seine Geheimnisse? Welche Ratschläge würde er geben? Davon hat er seit seinem Rücktritt 2013 viel preisgegeben. Der Versuch, Sir Alex Ferguson in einem fiktiven Interview begreifbarer zu machen.

Alles, was Ferguson in diesem fiktiven Interview sagt, hat er in aufgezeichneten Gesprächen oder Schriften, vor allem in seinen beiden Büchern „Meine Autobiografie“ und „Leading“, wörtlich so geäußert. Mitunter in anderen Zusammenhängen, das Interview folgt allerdings dem Ziel, den Kontext von Fergusons Aussagen zu treffen – sofern dies möglich ist.

90Plus: Herr Ferguson, Sie standen über 1500 Mal für Manchester United an der Seitenlinie. 27 Jahre war der Verein Ihr Leben. Was dachten Sie, als am 19. Mai 2013 ein letztes Mal aus dem Mannschaftsbus stiegen?

Sir Alex Ferguson: Als ich auf dem Gelände von West Brom aus dem Teambus stieg, wollte ich jeden Augenblick bewusst genießen. Das Loslassen fiel mir nicht schwer, weil ich wusste, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war.



90Plus: Sie haben 895-mal mit Manchester United gewonnen, 338-al unentschieden gespielt und 267-mal verloren. Aus welchem dieser Spiele haben Sie am meisten gelernt?

Sir Alex Ferguson: Aus Niederlagen. Manchmal sind Niederlagen das Beste, was einem passieren kann.

90Plus: Leicht zu sagen, wenn man so wenig verloren hat wie Sie. Was meinen Sie genau?

Sir Alex Ferguson: Auf Widrigkeiten reagieren zu können, ist eine Gabe. Damit zeigt man selbst in den schlimmsten Phasen Stärke. Bei uns gab es einen großartigen Spruch: Es ist nur ein Tag in der Geschichte von Manchester United. Mit anderen Worten: Wieder zurückkommen ist ein Teil unserer Identität.

90Plus: Haben Sie da direkt ein konkretes Spiel im Kopf?

Sir Alex Ferguson: Als wir 1995 im FA-Cup-Finale gegen Everton eine Niederlage einstecken mussten, sagte ich mir: ‚Das war‘s, jetzt werde ich hier einiges verändern.‘ Und das geschah dann auch. Wir stellten junge Spieler des sogenannten Jahrgangs ’92 auf. Wir konnten sie nicht länger zurückhalten. Es handelte sich um eine ganz besondere Gruppe von Spielern.

90Plus: David Beckham, Paul Scholes, Ryan Giggs, Nicky Butt, Gary und Phil Neville – die legendäre Class of 92. Kaum etwas steht symbolischer für Ihre Gabe, talentierten Fußballern in Weltklassefußballer zu entwickeln. Was ist Ihr Geheimnis?

Sir Alex Ferguson: Wenn man es mit jungen Leuten zu tun hat, muss man versuchen, ihnen Gefühl für Verantwortung zu vermitteln. Falls es ihnen gelingt, ihrer Energie und Begabung noch Charakterstärke hinzuzufügen, kann das der Anfang einer großartigen Karriere sein.

Paul Scholes und Ryan Giggs im August 1999.(Credit: Phil Cole /Allsport)

Paul Scholes und Ryan Giggs im August 1999. (Credit: Phil Cole /Allsport)

90Plus: Ryan Giggs und Paul Scholes spielte bis zu Ihrem Rücktritt bei Manchester United. Ihre Karriere ist für immer mit der Class of 92 verknüpft. Behandelten Sie die sechs Burschen aus der Akademie anderes, als Spieler, die Sie von anderen Vereinen verpflichteten?

Sir Alex Ferguson: Ich kritisierte sie schärfer als andere, weil sie für mich eher Verwandte als Angestellte waren.

90Plus: Verwandte? Das passt nicht zu ihren oft als knorrig beschriebenen Wesen.

Sir Alex Ferguson: Alle Eltern kennen den Moment, in dem ein 21-Jähriger hereinkommt und ihnen mitteilt, dass er sich einen eigene Wohnung nimmt, mit seiner Freundin zusammenzieht oder eine Arbeit in einer anderen Stadt annimmt. Sie gehen fort. So war es für mich im Fußball. Ich hing sehr an den jungen Männern, die seit ihrer frühen Jugend bei mir waren, der sogenannten Klasse von 1992. Ich hatte sie vom 13. Lebensjahr an heranwachsen sehen.

90Plus: Wie hat die Class of 92 Sie und den Klub geprägt?

Sir Alex Ferguson: Sie waren für unseren Trainerstab ein großartiges Beispiel dafür, was sich durch intensive Jugendarbeit alles erreichen lässt, und für den Nachwuchs waren sie ein Vorbild. Ihre Anwesenheit zeigte den Nachrückern auf dem Weg nach oben: Es ist zu schaffen. Hier aus unserer Akademie, aus unserem Trainingszentrum kann der nächste Cantona hervorgehen.


„Ich hing sehr an den jungen Männern, die seit ihrer frühen Jugend bei mir waren, der sogenannten Klasse von 1992.“


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90Plus: In Ihren Memoiren schreiben Sie: „Es ist eine Tugend, aufrichtig über sich selbst du reden.“ Was würden Sie, dieser Tugend folgend, als Ihre größte Stärke bezeichnen?

Sir Alex Ferguson: Beobachtungsgabe. Manche Menschen betreten einen Raum und bemerken absolut nichts. Aber man muss einfach nur genau hinschauen, denn alles ist zu sehen. Ich habe diese Gabe und nutze sie, um die Trainingsgewohnheiten, Stimmungen und Verhaltensmuster der Spieler einzuschätzen.

90Plus: Hatten Sie diese Gabe schon immer?

Sir Alex Ferguson: Pubs spielten in meinen jungen Jahren eine wesentliche Rolle. Meine erste Geschäftsidee bestand darin, mein sehr bescheidenes Einkommen dafür zu nutzen, mir als Absicherung für die Zukunft eine Konzession für ein Pub zu beschaffen. Mein erstes Lokal befand sich an der Kreuzung Govan Road und Paisley Road West und wurde meist von Hafenarbeitern besucht. In den Pubs lernte ich sehr viel über Menschen, ihre Träume, ihre Wünsche und ihre Frustration, und das half mir später, die Welt des Fußballs besser zu verstehen, auch wenn ich das damals noch nicht wissen konnte.

90Plus: Jeder Trainer sollte also mal eine Kneipe geleitet haben?

Sir Alex Ferguson: Vieles von dem, was ich am Ende meiner Laufbahn wusste, habe ich in jener Anfangszeit gelernt, manchmal ohne es zu merken. Lange bevor in mich in Richtung Süden zu United aufmachte, hatte ich bereits viel über Menschen gelernt.

90Plus: Der Grundstein für Ihren Erfolg als Trainer liegt also in Govan, einem armen Industrieviertel in Glasgow, wo Sie aufgewachsen sind?

Sir Alex Ferguson: Weil ich im Werftenviertel von Glasgow aufgewachsen bin, habe ich im Fußball so viel erreicht. Die Herkunft sollte niemals ein Hindernis für den Erfolg sein. Ein bescheidener Start ins Leben kann sogar eher eine Hilfe sein als ein Hemmnis.

90Plus: Mochten Sie es, im Pub zu arbeiten?

Sir Alex Ferguson: Ja, auch wenn ich hin und wieder ich mit einer Beule am Kopf oder einem blauen Auge nach Hause kam. So war das Kneipenleben nun mal. Wenn es zu wild wurde und es zu Handgreiflichkeiten kam, musste man dazwischen gehen und für Ordnung sorgen.

90Plus: Ihr Pub führten Sie gemeinsam mit ihrem Vater. War er ein Vorbild für Sie?

Sir Alex Ferguson: Mein Vater war ein einfacher Arbeiter, sehr intelligent, aber bei weitem keine Führungspersönlichkeit, deshalb kopierte ich auch nicht etwa ein elterliches Vorbild.

90Plus: Woher kommt Ihr Drang, Verantwortung zu übernehmen, sonst?

Sir Alex Ferguson: Ich hatte nie Angst davor, Entscheidungen zu treffen, selbst als ich als Schuljunge eine Mannschaft aufstellen sollte. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber Tatsache ist, dass ich schon als junge Organisator, Ausbilder und Mannschaftsaufsteller war.

90Plus: Neben Ihrem Talent als Organisator, Ausbilder und Mannschaftsaufsteller gelten Sie als einer der psychologisch versiertesten Trainer aller Zeiten. Wie sollte ein Trainer mit seinen Spielern umgehen?

Sir Alex Ferguson: Man muss den Spielern immer reinen Wein einschenken. Es ist überhaupt nichts Verkehrtes daran, einem Spieler, der seine Form verloren hat, mit den harten Tatsachen zu konfrontieren. Endlose Lobhudeleien wirken unecht. Das durchschauen die Spieler recht schnell. Ein zentraler Punkt der Beziehung zwischen dem Trainer und den Spielern besteht darin, dass man sie Verantwortung übernehmen lassen muss – für ihr eigenes Handeln, für ihre eigenen Fehler, für ihr Leistungsniveau und schließlich für das Ergebnis.

90Plus: Dabei kommt es auf durchaus auf die Art und Weise an, wie man Dinge vermitteln. Ihnen sagt man den Hang zu verbalen Entgleisungen nach. Sind das wirklich Entgleisungen oder steckt dahinter Kalkül?

Sir Alex Ferguson: Eine Kultur des Erfolgs lässt sich nur dann aufrechterhalten, wenn ich einem Spieler in einem Klima der Ehrlichkeit unmissverständlich sage, was ich von seiner Leistung halte. Und ja. manchmal bin ich auch energisch und aggressiv. Ich mache einem Spieler dann durchaus deutlich, was der Club von ihm erwartet.

90Plus: Also, Kalkül oder Entgleisung?

Sir Alex Ferguson: Meine Hitzköpfigkeit war häufig ein recht nützliches Instrument. Sie sorgte dafür, dass ich respektiert wurde und half mir, meine Autorität durchzusetzen. Sie machte den Spielern, aber auch dem Trainerstab klar, dass ich mich nicht an der Nase herumführen lasse.


„Endlose Lobhudeleien wirken unecht. Das durchschauen die Spieler recht schnell.“


90Plus: Medial versuchten Sie immer wieder, Ihre Gegner mit Psychotricks zu beeinflussen. Beispielsweise wiederholten Sie gebetsmühlenartig, dass Ihre Mannschaft im Laufe der Saison immer besser werde. Und tatsächlich, es wirkte. Oft spielten sich Ihr Team erst durch eine starke Rückrunde zum Titel. Hatten Sie weitere solcher Taschenspielertricks?

Sir Alex Ferguson: Auf meine Uhr zu tippen war eine weitere Psychomasche. Es ging um die Wirkung, die das auf das andere Team, nicht auf unser eigenes, hatte. Wenn die Gegner sahen, wie ich auf meine Uhr tippte und gestikulierte, wurden sie kribbelig. Sofort dachten sie, das Spiel würde noch um zehn Minuten verlängert werden…

90Plus: …die sogenannte „Fergie Time“…

Sir Alex Ferguson: … Jeder wusste, dass United über die Gabe verfügte, späte Tore zu machen. Wenn unsere Gegner sahen, wie ich auf meine Uhr zeigte, stellte sich bei ihnen das Gefühl ein, dass sie sich gegen uns über einen Zeitraum verteidigen müssten, der wie eine Ewigkeit erschien.

Fergie Time: Sir Alex Ferguson und sein gefürchteter Blick auf die Uhr. (Photo by Clive Brunskill/Getty Images)

Fergie Time: Sir Alex Ferguson und sein gefürchteter Blick auf die Uhr. (Photo by Clive Brunskill/Getty Images)

Der Tag, an dem Sir Alex Ferguson bei Manchester United vor dem Aus stand

90Plus: Zurück zum Umgang mit Ihren Spielern: Wie haben Sie es trotz des enormen Altersunterschiedes geschafft, stets zu verstehen, was Ihren Spielern hilft?

Sir Alex Ferguson: Es hilft, wenn man die Dinge für einen kurzen Moment aus den Augen des Spielers sieht. Da man ja selbst einmal jung war, sollte man sich kurz in ihre Lage versetzen. Um den größtmöglichen Eindruck zu machen, sollte man sich die Frage stellen: Was hätte mich also in diesem Alter am stärksten beeindruckt?

90Plus: Also Empathie aufbringen. Vielleicht ein Grund, wieso Sie ein solch grandioser Spielerentwickler sind. Spieler besser zu machen ist ein sehr individueller Prozess. Gibt es eine Sache, die Sie all Ihren Spielern versucht haben beizubringen?

Sir Alex Ferguson: Ich erinnere mich an mein erstes Auswärtsspiel als Manager, 1974 (mit East Stirlingshire, Anm. d. Red.). Wir wurden von den Albion Rovers (6:2, Anm. d. Red.) geschlagen. Als ich an diesem Abend nach Hause ging, sagte ich mir: ‚Wenn ich meinen Spielern keine mentale Stärke beibringe, werde ich es nie als Trainer schaffen.‘ Das war einer der wichtigsten Aspekte bei all meinen Managementmethoden – ich wollte sicherstellen, dass die Spieler mit den Belastungen und Herausforderungen eines Spitzenfußballers zurechtkommen. Ich habe immer versucht, ihnen zu vermitteln, psychisch stark zu sein.

90Plus: Können Sie einen Spieler herausheben?

Sir Alex Ferguson: Ich hatte großes Glück. Aberdeen hatte einige psychisch starke Spieler. Bei United waren die besten Spieler alle mental sehr stark. Ronaldo ist zäh wie ein alter Stiefel, ehrlich. Er ist ein großer Spieler, weil er es da oben hat (Ferguson tippte sich an den Kopf).

Sir Alex Ferguson und Cristiano Ronaldo am 21. Mai 2008 in Moskau, wenige Minuten nachdem Manchester United im Champions-League-Finale gegen den Chelsea gewonnen hat. (Photo by Alex Livesey/Getty Images)

Sir Alex Ferguson und Cristiano Ronaldo am 21. Mai 2008 in Moskau, wenige Minuten nachdem Manchester United im Champions-League-Finale gegen den Chelsea gewonnen hat. (Photo by Alex Livesey/Getty Images)

90Plus: Ihre Beziehung zu Cristiano Ronaldo wurde schon oft beschrieben. Ist er der beste Spieler, den Sie je trainiert haben?

Sir Alex Ferguson: Cristiano Ronaldo war der begabteste Spieler, den ich in meiner gesamten Laufbahn trainiert habe. Er übertraf alle anderen. Und ich hatte viele großartige Spieler bei United. Die Einzigen, die ich vielleicht in einem Atemzug mit ihm nennen würde, sind Paul Scholes und Ryan Giggs.

Dieses Gespräch fand so nie statt. Es handelt sich um ein fiktives Interview. Die Antworten stammen aber im Wortlaut von Sir Alex Ferguson.

(Photo by Richard Heathcote/Getty Images)


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