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Premier League | Warum bei Tottenham wieder frischer Wind weht

16. September 2023 | Spotlight | BY David Schöngarth

Nach jahrelangem Defensiv- und Ergebnisfußball macht Tottenham dem neutralen Zuschauer gerade wieder richtig Spaß. Ein Blick hinter die Kulissen des vielversprechenden Saisonstarts der Spurs.

Tottenham Hotspur: Alles neu mit Ange Postecoglou

Bei Tottenham Hotspur musste im Sommer nach einer in jeder Hinsicht verkorksten Saison alles auf Anfang gestellt werden. Der Verein war in vielerlei Hinsicht an einem Tiefpunkt angelangt: Die schlechteste Ligaplatzierung seit Jahrzehnten, kein europäischer Fußball, ein fragmentierter Kader mit einem wechselwilligen Stürmerstar und jede Menge heiße Luft bei den Fans. Darüber hinaus stand die Vereinsführung um Daniel Levy wieder einmal vor einer Trainersuche. Vier Saisons in Folge entließen die Spurs einen Trainer im Laufe der Spielzeit. Im vergangenen Jahr gar zwei Mal, als selbst der Interimstrainer Cristian Stellini nach dem desolaten 5:1 gegen Newcastle kurz vor Saisonende seinen Posten räumen musste.



Kurzum: Anfang des Sommers war es durchaus berechtigt, bei den Spurs von einem Scherbenhaufen zu sprechen. Die Trainersuche ergab zunächst dann auch mehr Rückschläge als Erfolge: Wunschlösung Nagelsmann stieg früh aus dem Rennen aus, auch Arne Slot gab Tottenham einen Korb. So wurde es schließlich der Australier Ange Postecoglou, der zuletzt bei Celtic das Ruder in der Hand hielt. Eine Verpflichtung, die nicht jedem Fan auf Anhieb gefiel. Zu unerfahren und wenig bekannt war der Australier in den Augen vieler. Celtic-Fans und all jene, die sich mit dem schottischen Fußball auseinandergesetzt hatten, waren sich jedoch einig: Das könnte funktionieren. Denn Postecoglous Vita ist beeindruckend. Zwar fehlte dem Australier die Erfahrung auf der ganz großen Bühne, auf seinen bisherigen Stationen in Australien, Japan und Schottland holte er jedoch Titel en masse und begeisterte die Fans mit kompromisslosen Offensivfußball.

Der neue Mann an Tottenhams Seitenlinie: Ange Postecoglou.

Der neue Mann bei Tottenham: Ange Postecoglou. (Photo by TREVOR COLLENS/AFP via Getty Images)

Und auch bei den Spurs dauerte es nicht lange, bis sich die Stimmung wandelte. Die ersten Testspiele deuteten bereits an, dass die Tage des Mauerfußballs von José Mourinho und Antonio Conte an der White Hart Lane gezählt waren. So unausgereift die Spurs bei der 3:2-Testspielniederlage gegen West Ham im Juli zwar wirkten, die Ansätze waren da. Von Antonio Conte ins Exil oder auf die Bank verbannte Spieler wie Yves Bissouma oder Giovani Lo Celso (beide 27) sprühten plötzlich voll Spielfreude. Und auch die Fans zog Postecoglou schnell auf seine Seite. Wie? Mit einer direkt, nahbaren Rhetorik, Respekt vor dem Verein und seiner Geschichte sowie dem attraktiven Fußball auf dem Feld. Eigenschaften, die seine Vorgänger vermissen ließen.

Der Rückschlag vor Saisonstart: Harry Kane

Trotz der positiven Entwicklung, die Tottenham schon in den ersten Wochen unter dem neuen Trainer gab, schwebten weiterhin auch dunkle Wochen über dem Hotspur Way. Die Vorbereitungstour in Asien leidete nicht nur unter schlechten Wetterbedingungen, sondern wurde vor allem von einem Thema überschattet: Harry Kane (30). Der Stürmerstar der Spurs, der seit Anfang Juli mit einem Wechsel zum FC Bayern München in Verbindung gebracht wurde, reiste mit der Mannschaft zur Vorbereitung. Im Hintergrund verhandelte Daniel Levy mit einer Delegation aus München, Fortschritte gab es jedoch nur in homöopathischen Dosen.

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So wusste Postecoglou, der schnell zugab, von der Thematik genervt zu sein, lange nicht, ob er zum Saisonstart denn überhaupt auf seinen besten Spieler und Torgarant Harry Kane zurückgreifen könnte. Zwei Tage vor dem Saisonauftakt der Spurs gegen Brentford war es dann doch soweit – Kane verabschiedete sich für eine dreistellige Millionensumme gen München, und Tottenham stand 48 Stunden vor dem ersten Spieltag ohne „one of their own“ da.

Ein herber Rückschlag in dem ansonsten positiven Transfersommer der Spurs, die sich die Dienste von James Maddison (26), Guglielmo Vicario (26), Brennan Johnson (22), Manor Solomon (23), Micky van de Ven (22), Ashley Philips (18) und Alejo Veliz (19) sicherten. Dazu kehrte noch Destiny Udogie (20), der schon im letzten Sommer verpflichtet wurde, von seiner Leihe in Italien zurück. Die bisherigen Leihen von Dejan Kulusevski (23) und Pedro Porro (24) wurden in permanente Transfers umgewandelt. Und wie Fabrizio Romano kürzlich berichtete, sind sich die Spurs mit Innenverteidiger-Juwel Luka Vuskovic (16) einig, der zum Verein stoßen soll, wenn er 18 Jahre alt ist.

Kane Bayern

Harry Kane verließ Tottenham im Sommer in Richtung München. (Photo by CHRISTOF STACHE/AFP via Getty Images)

Alles nach vorne – Die Philosophie von Ange Postecoglou

So ging man mit gemischten Gefühlen in die neue Saison bei Tottenham. Am ersten Spieltag trennten sich die Spurs in einem leistungsgerechten Unentschieden 2:2 mit Brentford. Die Ansätze von „Postecoglou-Ball“ oder „Ange-Ball“, wie die Fans das System ihres neuen Trainers nennen, waren klar erkennbar. Der Australier stellt seine Mannschaft in einem klassischen 4-3-3 auf, hat aber ähnlich wie Pep Guardiola oder Mikel Arteta einige taktische Kniffe auf Lager, um seinen kompromisslosen Offensiv- und Ballbesitzfußball umzusetzen.

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So ist in der Grundformation der Spurs im Ballbesitz klar erkennbar, wie die beiden Außenverteidiger in Destiny Udogie und Pedro Porro einklappen und im Mittelfeld das Zentrum verdichten, um Überzahl zu kreiieren und Anspieloptionen darzustellen. Mit einem technisch so gesegneten Spieler wie Yves Bissouma als Sechser lösen sich die Spurs von gegnerischem Druck, Kreativspieler James Maddison ist weiter vorne auf dem Platz damit beauftragt, die Offensivreihe zu bedienen. Der dritte Mittelfeldspieler, in der Regel Pape Matar Sarr (21), Oliver Skipp (23) oder Pierre-Emile Hojbjerg (28), agiert als klassicher Box-to-box Spieler.

Dass die Spurs im eigenen Ballbesitz so hoch stehen können, liegt an der Athletik ihrer Innenverteidigung. Vor allem Sommer-Neuzugang Micky Van de Ven vom VfL Wolfsburg gilt als einer der schnellsten Verteidiger der Liga und nahm es kürzlich sogar erfolgreich im Laufduell mit Adama Traore auf. Im Tor zeigte Neuzugang und Lloris-Nachfolger Guglielmo Vicario bislang einige starke Paraden – in seinem Heimatland Italien fordern die Fans, dass Vicario Nationaltorwart Donnarumma ersetzen soll.

Die offensive Philosophie ist für Spurs-Trainer Ange Postecoglou nicht verhandelbar. In einem Podcast verriet der Australier einst, dass seine Teams stets Fußball spielen sollen, der seinem inzwischen verstorbenen Vater gefallen würde: offensiv und aufregend. „So viele Tore wie möglich erzielen“ – das ist Postecoglous Devise.

Die Spurs reißen die Liga mit – aber die echten Tests kommen noch

Zuletzt nahm sich sein Team das zu Herzen. Vor der Länderspielpause besiegte Tottenham Burnley mit 5:2. Ohnehin sind die Spurs noch ungeschlagen in der Premier League und stehen mit 10 Punkten aus vier Spielen auf Rang Zwei hinter Manchester City. Heute Nachmittag empfangen die Spurs Sheffield United – ein auf dem Papier zwar leichter, aber in der Realität durchaus unangenehmer Gegner, der höchstwahrscheinlich mit einer Fünferkette die inversen Außenverteidiger der Spurs kalt stellen wird.

Die wirklich großen Aufgaben warten allerdings danach auf Postecoglous Team. Eine Woche später reist Tottenham nämlich zum North London Derby zu Arsenal, direkt danach geht es gegen Liverpool. Zwei der schwierigsten Spiele im Saisonkalender direkt nacheinander. Dort wird vor allem die Defensive der Spurs auf einem anderen Niveau getestet werden als bislang.

(Photo by Gareth Copley/Getty Images)

David Schöngarth

Aufgewachsen mit Grafite, Luca Toni und Co. entfachten Gareth Bale und Mauricio Pochettinos Spurs in David eine Leidenschaft für die Premier League. Interessiert sich für alles, was auf der Insel vor sich geht. Seit 2022 bei 90Plus.


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