EM 2021 | England vs Deutschland: Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
29. Juni 2021 | Vorschau | BY Chris McCarthy
Vorschau | Im Achtelfinale der Europameisterschaft kommt es in einem fast vollen Wembley Stadium zu einem Klassiker: England gegen Deutschland. Beide Teams blieben den Erwartungen bislang zurück.
Anpfiff der Partie ist am Dienstag, 18:00 Uhr, live im ARD.
- England: Stabil aber ungefährlich
- Deutschland: Goretzka als Hoffnungsträger?
- Erinnerungen an frühere Duelle
England: Schlechte Erinnerungen an Deutschland
Als feststand, dass England im Achtelfinale der EM auf Deutschland treffen würde, waren die Reaktionen auf der Insel breit gefächert. „Oh nein, es sind die Deutschen“, titulierte die Daily Mail. „Her mit den Deutschen!“, schrieb der Telegraph. Logisch, kaum einen Gegner verbinden die Three Lions so sehr mit den letzten 55 „years of hurt“ wie Deutschland. 1966 gewann England durch das Wembley-Tor die WM. Seitdem gab es bei großen Turnieren nichts zu holen, vier Mal war in den K.O.-Spielen gegen Deutschland Endstation – zweimal im Elfmeterschießen. Es ist das dominierende Thema in der britischen Medienlandschaft, doch eigentlich wäre man gut beraten, mehr auf sich selbst zu schauen.
Sicher, der heutige, historisch gefürchtete Gegner stolperte gerade so aus der Gruppenphase. Und rein personell hatte England selten so eine gute Ausgangslage wie in diesem Jahr. Und dennoch gibt es auf der Insel große Zweifel. Denn Trainer Gareth Southgate (50), die tragische Figur im Halbfinale 1996, schaffte es bislang nicht, die zweifelsohne vorhandenen PS auf die Straße zu bekommen.
Zu vorsichtig und eintönig
Das schier endlose Aufgebot an individueller Qualität im offensiven Mittelfeld – Jadon Sancho (21), Phil Foden (21), Mason Mount (22), Jack Grealish (25), Raheem Sterling (26) und Bukayo Saka (19) – sucht im Turnier seinesgleichen. Davor will mit Harry Kane (27) einer der besten Stürmer der Welt bedient werden, doch dieser hing komplett in der Luft und blieb torlos. Denn Southgates Fußball war – wie von vielen Kritikern befürchtet – trotz hoher Ballbesitzwerte zu kontrolliert, eintönig, und vorsichtig. Die Abwehr wurde somit entlastet, Jordan Pickford (27) musste als einziger Torhüter des Turniers noch kein Mal hinter sich greifen. Doch die Offensive brachte kaum Überraschungsmomente und somit nur zwei mickrige Tore zustande (Sterling). Sinnbildlich dafür hat Sancho, eben aufgrund seiner Risikobereitschaft und Dynamik einer der gefährlichsten Spieler Europas, erst sechs Turnierminuten absolviert.
Im letzten Gruppenspiel gegen Tschechien (1:0) sah es eine Halbzeit deutlich besser aus. Das lag vor allem an Jack Grealish und Bukayo Saka. Insbesondere Letzterer belebte mit seiner Direktheit und Kombination aus Ballsicherheit und Spielwitz bei seinem ersten EM-Einsatz die Offensive. Medienberichten zufolge hat sich der Youngster festgespielt. Trotz Systemwechsel. Offenbar möchte Southgate nämlich auf Dreierkette umstellen, um das deutsche Flügelspiel zu bremsen. Grealish muss weichen, Foden bleibt nach Schonung (zwei Gelbe Karten) nur die Bank. Kyle Walker (31) sollte in die Zentrale ziehen und Kieran Trippier (30) den Wingback geben.
Doch Personal und Taktik sind beinahe zweitrangig. Gegen eine deutsche Hintermannschaft, die bislang alles andere als sattelfest wirkte, bedarf es mehr Mut, Risikobereitschaft und Angriffslust. Southgate betonte am Montag, er wolle „mehr Chancen“ kreieren und, dass die Erinnerungen an Deutschland „irrelevant“ seien. Es scheint, als habe der 50-Jährige den Telegraph gelesen und nicht die Daily Mail.
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Deutschland: Fokus auf das Hier und Jetzt
So frustrierend die Erinnerungen auf der einen, so positiv sind sie auf der anderen Seite. Insbesondere die Spielstätte Wembley, die mit 60.000 Fans fast voll sein wird, ist für Deutschland ein gutes Pflaster. Hier wurde Deutschland das letzte Mal Europameister (1996), hier schalteten sie England im Halbfinale auf heimischen Rasen im Elfmeterschießen aus. „Grundsätzlich versuchen wir uns im Fußball an Dinge festzuklammern, die mal passiert sind. Auch ich habe hier sehr gute Erfahrungen gemacht“, sagte Thomas Müller (31), der in Wembley erstmals die Champions League gewann (2013). Das habe allerdings nichts mit Dienstag zu tun.
Dabei lohnt es sich auf die Stärke der DFB-Elf 1996 zurückzublicken: Zusammenhalt und Teamgeist kaschierten damals qualitative Defizite. 25 Jahre später gehört der deutsche Kader individuell zu den besten des Turniers. Und auch die Stimmung scheint im deutschen Lager zu passen. Gitarrenspiel und Gesang in der Gruppe, positive Berichte von Spielern und Trainern. Auf dem Platz dagegen wirkten die Spieler von Jogi Löw (61) in der Gruppenphase zuweilen so, als ob sie sich kaum kennen würden.
Goretzka als Hoffnungsträger
Sowohl gegen Frankreich (0:1) als auch im entscheidenden Spiel gegen Ungarn (2:2) agierte die DFB-Elf offensiv lethargisch und ideenlos. Es gab kaum Tempowechsel, Überraschungsmomente und somit Torchancen. Einzig gegen Portugal klappte es im Angriff. Das lang allerdings vor allem daran, dass der amtierende Europameister der einzige Gegner war, der die offensiven Außenverteidiger/Wingbacks Robin Gosens und Joshua Kimmich (beide 26) quasi nach Belieben gewähren ließ. Sind die Außen zu, herrscht in Ballbesitz Ratlosigkeit. Gegen Ungarn verhinderten einzig die Unbekümmertheit eines 18-Jährigen (Jamal Musiala) und die Dynamik von Leon Goretzka (26) ein Desaster.
Und gegen England? Goretzka ist mittlerweile wieder fit und sollte für den schwächelnden und angeschlagenen Ilkay Gündogan (30, Schädelprellung) beginnen. Das alleine könnte zu mehr Vorstößen in die Box und damit mehr Schwung führen. Der wiedergenesene Müller, der den formschwachen Leroy Sané (25) ersetzen dürfte, sollte davon profitieren und in aussichtsreichere Räume dringen können.
Doch Löw droht auch Umstellungen treffen zu müssen, auf die er gerne verzichten würde. Der erfrischend direkte Gosens und Antonio Rüdiger (28) leiden laut dem Bundestrainer an kleinen Infekten. Bei beiden werde man „abwarten müssen“. Der Ausfall des Chelsea-Verteidigers wäre nicht weniger bedeutsam, zeigte sich die Defensive insbesondere beim Umschaltspiel nicht von ihrer aufmerksamsten Seite. Lukas Klostermann (Muskelverletzung im Oberschenkel) muss passen.
Sollte Deutschland am Dienstag im Wembley ausscheiden, wäre es der Schlusspunkt von Löws 15-jährigen Amtszeit. „Insgesamt habe ich heute zwei Sekunden daran gedacht“, gestand der 61-Jährige auf der Pressekonferenz. Auch in Deutschland ist also die Vergangenheit durchaus ein Thema. Aber nur kurz. „Für solche Spieler ist man Trainer. Das ist meine Leidenschaft. Das war in der Vergangenheit so. Das ist auch morgen Abend so. Meine Konzentration gilt voll und ganz dem Spiel“, fügte Löw an.
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Prognose
Mit England und Deutschland treffen zwei große Namen aufeinander, die bislang beide zu wenig aus ihren personellen Mitteln machten. England macht den stabileren Eindruck. Gelingt es Southgate zudem die Außen zu kontrollieren und die Handbremse zu lösen, sind die Three Lions der Favorit. Insgesamt bahnt sich jedoch ein knappes Spiel an, das womöglich erst in der Verlängerung oder gar im Elfmeterschießen entschieden wird. Ist das der Fall, dann könnten der Kopf und die Erinnerungen eine größere Rolle spielen, als beide Mannschaften, vor allem aber den 60.000 Anhängern in Wembley, lieb ist.
Mögliche Aufstellungen:
England: Pickford – Walker, Stones, Maguire – Trippier, Rice, Phillips, Shaw – Saka (Foden), Sterling – Kane
Deutschland: Neuer – Ginter, Hummels, Rüdiger – Kimmich, Kroos, Goretzka, Gosens – Havertz, Müller – Gnabry
Bildquelle: imago
Chris McCarthy
Gründer und der Mann für die Insel. Bei Chris dreht sich alles um die Premier League. Wengerball im Herzen, Kick and Rush in den Genen.