Quo vadis, BVB? Mit Nuri Sahin von Meinerzhagen zum Borsigplatz?
21. August 2024 | Spotlight | BY Steven Busch
Wenn Borussia Dortmund am Samstag, dem 24. August (18:30 Uhr), mit einem Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt in die Bundesliga-Saison 2024/25 startet, wird es für Nuri Sahin ohne Zweifel ein besonderer Abend. Der gebürtige Lüdenscheider erfüllt sich in der Rolle des neuen Cheftrainers der Westfalen einen Kindheitstraum. Beim Champions-League-Finalisten sind mit der Personalie des Eigengewächses viele Hoffnungen konnotiert. Können es die Schwarz-Gelben schaffen, die Inkonstanz respektive Diskrepanz der vergangenen Spielzeit abzulegen? Quo vadis, BVB?
BVB – Diskrepanz zwischen nationalen und internationalen Auftritten 2023/24
Im ausverkauften Londoner Wembley Stadium – durchflutet mit schwarz-gelber Anhängerschaft – setzt sich eine aufopferungsvoll kämpfende Mannschaft von Borussia Dortmund am 1. Juni 2024 beinahe auf den europäischen Fußballthron. Letztendlich sind es Nuancen, insbesondere die Chancenverwertung in Hälfte eins, und ein abgezockter wie effizienter königlicher Gegner, Real Madrid, die eine finale Krönung in einer der Kathedralen des Ballsports verhindern.
Trotz der Trauer ob des mit 0:2 verlorenen Endspiels steht vielen Akteuren auf dem grünen Rasen der Stolz angesichts einer grandiosen „Road to Wembley“ in der UEFA Champions League ins Gesicht geschrieben. An dieser Stelle dreht sich das Scheinwerferlicht. Wenige Wochen vor diesem magischen Abend verliert ein indisponierter BVB am 33. Spieltag der Bundesliga mit 0:3 beim Abstiegskandidaten 1. FSV Mainz 05. Im Anschluss an den blutleeren Akt wird quer durch die Republik gar von Wettbewerbsverzerrung gesprochen. Aus Sicht der Westfalen herrscht nach dieser Nicht-Leistung allerdings auch sportliche Gewissheit: Platz fünf im Abschlussranking der Beletage des deutschen Fußballs 2023/24 – gemessen an den eigenen Ansprüchen ein fatales Zeugnis.
Dass der BVB aufgrund einer Modifizierung des Wettbewerbs auch 2024/25 in der lukrativen Königsklasse starten darf, übertüncht nicht die fatale Diskrepanz zwischen den nationalen – auch im DFB-Pokal erfolgte das frühe Aus im Achtelfinale beim VfB Stuttgart (0:2) – und internationalen Auftritten 2023/24. Taktische Grundsätze, Spielphilosophie? Bis auf wenige Ausnahmen Fehlanzeige! Borussia Dortmund, einst für offensive Vollgasveranstaltungen weit über die Grenzen des Ruhrgebiets gefeiert, lief Gefahr die eigene Identität zu verlieren respektive einen ungewollten Status quo zu verkörpern: Beliebigkeit! Im Rahmen der traditionellen „Elefantenrunde“ nach Abschluss der Saison gab der ausgelaugte Trainer Edin Terzic seinen Rücktritt bekannt. Ein überraschender, menschlich reifer, wenngleich notwendiger Schritt des bekennenden BVB-Sympathisanten mit Südtribünen-Vergangenheit.
Neue Hierarchie und Leistungskultur unter BVB-Eigengewächs Nuri Sahin
Auf den gebürtigen Mendener folgt mit Nuri Sahin ein weiteres BVB-Eigengewächs. Bereits Anfang des Jahres 2024 war der ehemalige Mittelfeldstratege – wettbewerbsübergreifend 274 Pflichtspiele für Borussia Dortmund – gemeinsam mit Sven Bender in den Trainerstab des Vereins zurückgekehrt. Hintergrund: Beide Ex-Profis sollten Terzic in der täglichen Arbeit unterstützen. Bereits nach kurzer Zeit bemerkten die Kiebitze am Trainingsgelände in Dortmund-Brackel die lautstarken Kommandos sowie die Detailversessenheit des neuen Mannes an alter Wirkungsstätte.
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Nach der Trennung von Terzic darf sich der 35-Jährige nunmehr in erster Reihe beim Herzensklub beweisen. Die Trainerkarriere begann Sahin schon während der aktiven Zeit als Fußballprofi beim früheren Jugendverein RSV Meinerzhagen – größter Erfolg: Aufstieg in die Oberliga. Es folgten mit etwas Abstand zu diesem Kapitel die Stationen beim türkischen Erstligisten Antalyaspor und ab sofort Borussia Dortmund. An eine grundlegend andere Herangehensweise auf der großen Bühne BVB verschwendet der vertraglich bis 2027 gebundene Chefcoach keine Gedanken: „Ich werde sie [die Rolle als BVB-Trainer, Anm. d. Red.] nicht anders ausfüllen als bei Meinerzhagen oder bei Antalyaspor.“
In den ersten Wochen bestätigte sich der Eindruck aus dem vergangenen Halbjahr: Sahin ist laut, kommunikativ (fast ausschließlich in englischer Sprache) und fordernd. Mehr Zentrumsorientierung, mehr Dominanz, mehr Ballbesitz! Generell will der in Lüdenscheid geborene Coach dem BVB eine frische Leistungskultur implementieren. Stammplatz nur gegen Performance. Systematisch favorisiert Sahin ein 4-2-3-1, allerdings soll die Mannschaft, auch innerhalb einzelner Partien, flexibel (4-3-3 oder 3-5-2) bleiben.
BVB-Transferpolitik – Baustellen erkannt, jedoch fehlende Kreativität?
Durch die Abgänge der arrivierten wie meinungsstarken Routiniers Mats Hummels und Marco Reus (jeweils Vertragsende) bedarf es einer neuen Führungsstruktur beim BVB. Emre Can erhielt die Bestätigung im Kapitänsamt, allerdings soll die Verantwortung fortan auf mehrere Schultern (Brandt, Schlotterbeck, Sabitzer) verteilt werden. In puncto Neuzugängen haben die Verantwortlichen bei Borussia Dortmund, um Geschäftsführer Sport Lars Ricken sowie Sportdirektor Sebastian Kehl, die offenen Baustellen überwiegend erkannt und den Kader mit viel (Bundesliga-)Erfahrung respektive Qualität verstärkt.
Mit Waldemar Anton (22,5 Millionen Euro vom VfB Stuttgart) und dem brasilianischen Rechtsverteidiger Yan Couto (Leihe mit Kaufpflicht von Manchester City) soll sich die Defensive sattelfester präsentieren. Interessanter Fakt: Der BVB hatte in der abgelaufenen Spielzeit einen Expected-Goals-against-Wert (xGA) von +12,27 (Ligahöchstwert!). Somit hätte der achtfache Deutsche Meister statistisch betrachtet, eigentlich 12,27 Gegentreffer mehr – statt offiziell 43 – kassieren müssen. Eine Melange aus Fortune und formidabler Paraden der beiden Schlussmänner Gregor Kobel beziehungsweise Alexander Meyer.
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Der 33-jährige Pascal Groß (sieben Millionen Euro von Brighton & Hove Albion) erhöht als kompetitiver, taktgebender Sechser oder Achter die Variabilität durch einen neuen spielerischen Impuls und verfügt zudem über die Erfahrung von 228 Premier-League-Begegnungen (75 Torbeteiligungen). Mit Serhou Guirassy (18 Millionen Euro vom VfB Stuttgart) und Sahins absolutem Wunschspieler Maximilian Beier (28,5 Millionen Euro von der TSG Hoffenheim) hat die Borussia 44 Bundesliga-Treffer 2023/24 eingekauft, bringt neue Optionen ins Angriffsspiel (beispielsweise Zwei-Mann-Sturm) respektive ersetzt den bisherigen Ladenhüter in vorderster Front, Niclas Füllkrug (zu West Ham United), qualitativ hochwertig wie talentiert.
Die teilweise bemängelte Kreativität der schwarz-gelben Transferpolitik lässt sich erst auf den zweiten Blick widerlegen. Auf den Abgang von Linksverteidiger Tom Rothe (zum 1. FC Union Berlin) reagierte der Verein überzeugt mit der Berufung des deutschen U17-Welt- und Europameisters Almugera Kabar in den Profikader. Überdies wurde mit der Verpflichtung des erst 16-jährigen Ecuadorianers Justin Lerma – wechselt zur Saison 2026/27 nach Dortmund – bereits ein Vorgriff auf die Zukunft getätigt. Ergänzend erhoffen sich die BVB-Kaderplaner interne „Neuzugänge“. Exemplarisch sollen insbesondere der verletzungsgeplagte belgische Flügelflitzer Julian Duranville, aber auch Ramy Bensebaini oder Niklas Süle durchstarten. Ein Virtuose wie Jamie Gittens muss zudem den nächsten Entwicklungsschritt gehen.
BVB – Lange Saison 2024/25 aufgrund der FIFA-Klub-Weltmeisterschaft
Bis zum Ende der Transferperiode könnten den Champions-League-Sieger von 1997 noch einige Profis verlassen. Potenzielle Streichkandidaten – Moukoko, Coulibaly, Özcan, Reyna, Haller – zögern jedoch aus unterschiedlichen Gründen (Gehalt, Ablöse oder fehlende Angebote) mit einem Abschied. Spannend bleibt die Personalie Donyell Malen: Dortmunds Bundesliga-Top-Torschütze der vergangenen Saison (13 Treffer) liebäugelt mit einem Wechsel nach England, doch aufgrund der bereits erwähnten Ursachen ist auch ein weiteres Jahr im schwarz-gelben Dress nicht ausgeschlossen.
Generell wird es eine lange Saison für Borussia Dortmund. Im Sommer 2025 wird der BVB als zweiter deutscher Vertreter neben dem FC Bayern München an der Premiere der FIFA-Klub-Weltmeisterschaft in den USA teilnehmen. Dementsprechend bedarf es einer enormen Kaderbreite wie -tiefe, um die kräftezehrenden Strapazen erfolgreich zu absolvieren.
Subsumiert verfügt das Sahin-Team über ausreichend Potenzial und Klasse, um den Tanz auf unterschiedlichen nationalen wie internationalen Hochzeiten zu bestehen. Allerdings muss die ausgerufene neue Leistungskultur konsequent durchgezogen respektive eine klare Spielphilosophie erkennbar sein, damit die bedingungslose Anhängerschaft eine erfolgreiche To(rt)ur 2024/25 womöglich am Borsigplatz feiern kann. Wenn es die Borussia schafft, ihre, ohne jeden Zweifel erhabene Befähigung zu mitreißenden Darbietungen nicht nur an den Fußball-Hochfesten zu offenbaren, sondern, ohne despektierlich zu klingen, an einem kalten, regnerischen Abend in Augsburg, ist diesem Ensemble alles zuzutrauen.
(Photo by Carsten Harz/Getty Images)
Steven Busch
Die Außenristpässe eines Tomás Rosicky entfachten seinen Enthusiasmus für den Fußball und die Affinität zu den schwarzgelben Borussen aus dem Ruhrgebiet. WM-Held Mario Götze brach ihm mit dem Wechsel in den Süden der Republik einst sein Fanherz und der Glaube an die Fußballromantik schwand.