Der HSV und Tim Walter: Warum eine Trennung besser gewesen wäre
27. Dezember 2023 | News | BY Yannick Lassmann
Seit 2018 steckt der Hamburger SV in der 2. Bundesliga fest. Auch der sechste Aufstiegsversuch verläuft schleppend. Der Verein hält aber am umstrittenen Trainer Tim Walter fest, obwohl die Entwicklung gegen ihn spricht.
HSV: Mit Walter zum Aufstieg?
„Selbstverständlich“, so lautete die knappe aber vielsagende Antwort von Jonas Boldt (41) auf die Frage, ob der Hamburger SV trotz der recht chancenlos abgeschlossenen Relegation gegen den VfB Stuttgart (0:3/1:3) auch den nächsten Aufstiegsversuch mit Tim Walter (48) unternehmen wird. Nun wissen wir heute, dass Niederlagen gegen die Schwaben für einen Zweitligisten wahrlich keine Schande sind. Der auf nicht allzu vielen Positionen veränderte VfB grüßt bekanntermaßen in der Bundesliga von Rang drei.
Zurück zum HSV: Dieser verpasste zum fünften Mal hintereinander den Aufstieg, während der SV Darmstadt 98 und der in allerletzter Sekunde noch vorbeiziehende 1. FC Heidenheim die Reise ins Oberhaus antreten durften. Klar, hätte es gereicht, wenn am letzten Spieltag das Gastspiel der Heidenheimer in Regensburg (3:2) von einem souveränen Schiedsrichter geleitet worden wäre. Doch letztlich darf dies nur ein Randthema sein, denn die Hanseaten schafften es erneut nicht, trotz wesentlich besserer finanzieller Möglichkeiten sich von Klubs wie Darmstadt oder Heidenheim zu distanzieren.
So investierte der Hamburger SV laut DFL-Kennzahlen etwa 39 Millionen Euro in sein Personal, während die beiden Aufsteiger 18 respektive 15 Millionen Euro. Dementsprechend hätten sich die Verantwortlichen schon im Sommer intensiver mit der Frage beschäftigen sollen, was sportlich eigentlich schiefgelaufen ist. Die Tendenz war nach ordentlicher Hinrunde – der einzigen Halbserie, wo unter Walter der für den direkten Aufstieg benötigte Schnitt von zwei Punkten pro Spiel erreicht wurde – nämlich schon in der abgelaufenen Rückserie eher negativ. Nur wenige Siege fielen überzeugend aus, in den Duellen mit den Spitzenklubs stellte der HSV nie die stärkere Mannschaft, dazu gab es teils üble Pleiten wie in Karlsruhe, Kaiserslautern oder Magdeburg.
Die klar verlorene Relegation gegen Stuttgart kam daher wenig überraschend. Auch, weil Walter – wie schon häufiger in Duellen mit Bundesligisten – darauf verzichtete, seinen offensiven, auf einer fußballerischen Überlegenheit basierenden Spielstil – an einen stärkeren Gegner anzupassen. Selbiger Ansatz schadete dem HSV auch schon im DFB-Pokal-Halbfinale 2022 gegen den SC Freiburg (1:3), als die Walter-Auswahl um jeden Preis auf Kurzpässe in der Spieleröffnung baute, was die individuell wesentlich besser besetzten und gut eingestellten Gäste eiskalt ausnutzten und schon nach 40 Minuten mit 3:0 führten. Es gab also schon schon im Sommer klare Hinweise dafür, dass Tim Walter persönlich während seiner zwei Jahre im Volkspark keine Entwicklung genommen hat.
Dennoch wurde bekanntermaßen der bereits dritte Anlauf mit Walter gestartet. Der Kader wurde zudem auf den nötigen Positionen nochmals verstärkt. Mit Immanuel Pherai (22) oder Ignace van der Brempt (21) kamen hochveranlagte Profis für die 2. Bundesliga. Zudem stießen gleich drei Innenverteidiger zum Kader, nachdem der Verlust von Mario Vuskovic (22) aufgrund einer Dopingsperre im vorherigen Halbjahr nicht aufgefangen werden konnte.
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Der Saisonstart verlief trotz des vermeintlich komplizierten Programms ergebnistechnisch herausragend. 13 Punkte sprangen aus den ersten fünf Spielen heraus, ebenso gelang im DFB-Pokal das Weiterkommen. Mancher Beobachter wähnte den HSV bereits wieder auf Aufstiegskurs, wurde aber noch im September wieder eingenordet. Bei den Aufsteigern SV Elversberg und VfL Osnabrück, der ansonsten keinen weiteren Sieg einfuhr, verloren die Rothosen jeweils verdient mit 1:2. Sie offenbarten dabei altbekannte Mängel. Es fehlte wieder einmal an Lösungen im letzten Drittel gegen tiefstehende Gegner. Ebenso gelang es nicht, sich an das körperliche Spiel der Kontrahenten anzupassen, die Anfälligkeit bei Kontern genauso wie die individuellen Fehler im Defensivbereich zu minimieren.
Die Auswärtspleiten erwiesen sich keineswegs als Ausrutscher. Insgesamt gewann der Hamburger SV nur zwei von neun Auswärtsspielen und konnte sich nur dank der überragenden – man blieb von 23. Oktober 2022 bis 09.Dezember bei Zweitligaspielen im Volksparkstadion ungeschlagen – Heimbilanz im Aufstiegsrennen halten. Das Reißen der Serie bahnte sich jedoch an. Nach teils begeisternden bis hin zu souveränen Auftritten gegen Schalke (5:3), Hertha BSC (3:0), Rostock (2:0) oder Fürth (2:0) quälte sich der HSV gegen mit einer Sieglosserie angereiste Magdeburger (2:0) und die auswärts damals noch punktlose Eintracht aus Braunschweig (2:1) zum Sieg. Das 1:2 trotz früher Führung gegen Paderborn erwies sich schon fast als logische Folge.
Die Kritik an Walter wurde im Anschluss an die Niederlage lauter, da er unter der Woche mit seiner Herangehensweise erheblichen Anteil daran besaß, dass das DFB-Pokal-Achtelfinale bei Hertha BSC dramatisch verloren ging. Der Trainer rotierte übermäßig viel. Sein Plan wäre sogar aufgegangen, wenn er seine Mannschaft in der Schlussphase dazu gebracht hätte, sich mehr auf die Verwaltung des Vorsprungs zu besinnen. Der überragende Fabian Reese (26) wäre dann wohl nicht mehr in der 89./119. Minute in Eins-gegen-Eins-Situationen gekommen, die letztlich zu Gegentoren führten.
Das letzte – öffentlich von verschiedenen Medien zum Finale für Walter ausgerufene – Hinrundenspiel – gewann der HSV zwar mit 2:0 in Nürnberg, doch wieder einmal war die Leistung durchwachsen. Auf eine Konterabsicherung wurde abermals nahezu komplett verzichtet. „Heute konnte ich den Ball häufig ins Mittelfeld geben, wo unsere Mittelfeldspieler viel Platz hatten und den Ball treiben konnten“, so selbst FCN-Keeper Carl Klaus (29) nach Spielende. Der zum Liga-Mittelmaß zählende FCN durfte regelmäßig auf die nicht immer vollständig besetzte Hamburger Viererkette losmarschieren, wusste seine Chancen aber nicht zu nutzen. Wieder einmal stellte letztlich die individuelle Klasse den Unterschied zugunsten der Hanseaten her. Robert Glatzel (29) und Jean-Luc Dompé (28) trafen sehenswert zum Auswärtssieg.
Ohnehin besteht auf die Qualitäten der Offensive Verlass. Glatzel und Lászlo Bénes (26) zählen zu den herausragenden Akteuren der 2. Bundesliga, sammelten bereits 17 respektive 15 Scorerpunkte. Den Flügelspielern Bakery Jatta (25) und Dompé fehlt es an Konstanz in den Leistungen, sind aber an guten Tagen ebenfalls dazu in der Lage, erheblichen Einfluss auf den Spielausgang zu nehmen. Ransford Königsdörffer (22) ist hingegen in der Entwicklung stagniert, während die offensiven Impulse des fast zwei Monate ausfallenden Ludovit Reis (23) schmerzlichst vermisst wurden. Insgesamt gelangen dem HSV, der zur Rückrunde auch wieder auf Reis zurückgreifen kann, 33 Tore im bisherigen Saisonverlauf. Ein ansprechender Wert. Ganz anders schaut die Anzahl der Gegentore aus. Sie liegt bei 22 – und damit klar hinter den Ansprüchen eines Aufstiegsaspiranten.
Fraglich ist, ob es mit Walter gelingt, eine stabilere Defensive herzustellen. In seiner zweieinhalbjährigen Amtszeit wich er nämlich kaum von seiner Spielidee ab. Immer wieder steht Keeper Daniel Heuer Fernandes (31), der nicht vollends an die starken Leistungen aus dem Vorjahr anknüpfen konnte, vor Eins-gegen-Eins-Situationen, da die seit dem Vuskovic-Wegfall nicht mehr mit Spitzengeschwindigkeit ausgestatteten Innenverteidiger ab der Mittellinie in Laufduelle gehen müssen. Hinzu kommt der höchstriskante Spielaufbau, der sich in der Hinserie kaum rentierte. Stattdessen sorgte er für mehrere überflüssige Gegentore. Exemplarisch steht dafür das denkwürdige Fernandes-Eigentor im Hamburger Stadtderby.
Nun muss Walter zugutegehalten werden, dass ihm mit Kapitän Sebastian Schonlau (29), zugleich der Abwehrchef, und Reis zwei absolute Leistungsträger fast durchgängig nicht zur Verfügung standen. Schonlau zeigte in seinen wenigen Einsätzen, wie wichtig seine Präsenz für die HSV-Defensive ist. Reis fehlt nicht nur als Antreiber im Mittelfeld, sondern auch als Balljäger. So unterband er den ein oder anderen Gegenstoß durch seine energische Arbeit gegen den Ball. Ebenso darf Walter sich auf die Fahne schreiben, während seiner zweieinhalbjährigen Tätigkeit in Hamburg einen Stimmungsumschwung geschaffen zu haben. Nach Wegfall der Corona-Beschränkungen erschien zunächst nur rund 25.000 Zuschauende im Stadion. 2023 erfreute sich der HSV zwischenzeitlich zwölfmal hintereinander über einen ausverkauften Volkspark.
Die Geduld ist bei Teilen der Anhänger jedoch allmählich gebraucht. So flogen nach dem – angesichts der noch im Wettbewerb vertretenden Mannschaft besonders überflüssigen – Pokalaus in Berlin erstmals Beschimpfungen in Richtung Mannschaft, die stets zu Walter stand, sich als widerstandsfähig erwies und schon mehrfach eine Aufholjagd nach Zwei- oder Drei-Tore-Rückstand hinlegte. Auf diese Aufholjagden sollte der HSV jedoch in Liga zwei gar nicht mehr angewiesen sein. Letztlich trugen sie jedoch dazu bei, dass zumindest Rang drei zu Buche steht, zwei Punkte hinter dem Stadtrivalen FC St. Pauli und vier Punkte hinter Überraschungsmannschaft Holstein Kiel.
Die Ausgangslage wäre also bei einem Trainerwechsel durchaus ansprechend gewesen. Denn im Anbetracht der bisherigen Spiele wirkt es so, als würde eine einfachere Spielweise, gepaart mit einem höheren Fokus auf die Defensive, dazu ausreichen, mehr Konstanz in die Resultate zu bringen. Der HSV entschied sich allerdings gegen diesen Schritt, verkündete stattdessen kurz vor Weihnachten den Verbleib von Walter, der eine Schicksalsgemeinschaft mit dem seit 2019 verantwortlichen Vorstand Boldt zu bilden scheint.
„Wir sind überzeugt, dass wir so die nächsten Schritte machen werden, um als Team noch stabiler, resilienter und erfolgreicher aufzutreten“, erklärte Direktor Profifußball Claus Costa (39) mit Blick auf die vereinbarten „verschiedene Einzelmaßnahmen und konkreten Veränderungen“. Woher der Glaube nach zweieinhalbjährigen Zusammenarbeit mit Walter stammt, erklärte er jedoch nicht. Gut möglich, dass den Verantwortlichen diese Einschätzung schon frühzeitig um die Ohren fliegen wird.
Der Beginn der Rückrunde hat es mit Gastspielen auf Schalke und bei der zunehmend stärker werdenden Hertha durchaus in sich. Weitere Niederlagen würden den Rückstand auf die Spitze wohl anwachsen, die Tatsache, dass ausgerechnet zwei Nordklubs, darunter der Stadtrivale, vor einem stehen, den Handlungsdruck nochmals erhöhen und einen Trainerwechsel im im Februar zu einer möglichen Option werden lassen. Womöglich ist es dann zu spät. Diese Erkenntnis machten die Hamburger bereits in Zweitliga-Spielzeiten vor Tim Walter. Er ist nun mehr denn je gefordert ist, sinnvolle Korrekturen vorzunehmen, sodass er in Hamburg eines Tages durch den Aufstieg und nicht als einer von vielen (an sich selbst) gescheiterten Trainern in Erinnerung bleiben wird.
(Photo by Cathrin Mueller/Getty Images)
Yannick Lassmann
Rafael van der Vaart begeisterte ihn für den HSV. Durchlebte wenig Höhen sowie zahlreiche Tiefen mit seinem Verein und lernte den internationalen Fußball lieben. Dem VAR steht er mit tiefer Abneigung gegenüber. Seit 2021 bei 90Plus.