Thomas Tuchel | Erst Lichtgestalt, dann Alleingelassener

7. September 2022 | Premier League | BY Florian Weber

Spotlight | Thomas Tuchel wurde vom FC Chelsea entlassen, obwohl er vor etwas mehr als einem Jahr die Champions League gewann und den Klub vor einem Jahr, in die größte Krise der Klubgeschichte, beeindruckend vertrat. Wie konnte es dazu kommen, was sagt das über die Branche und wieso immer wieder Thomas Tuchel?

Thomas Tuchel, der Lichtblick in Chelseas dunkelster Stunde“, titelte The Athletic noch im März. Die britische Regierung hatte vor einigen Tagen aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Sanktionen gegen Oligarchen beschlossen. Auch der damalige Klubeigentümer Roman Abramowitch war von den Sanktionen betroffen. Er durfte kein Geld mehr verdienen – und damit auch nicht der FC Chelsea: Fanshops wurden geschlossen, Vertragsverhandlungen untersagt und sogar Spielerkäufe und -verkäufe verboten. Die Zukunft des Klubs war ungewiss, sogar die Zahlungsunfähigkeit drohte.



Roman Abramowitch äußerte sich öffentlich kaum, die Fragen über die Zukunft des Klubs richteten sich vor allem an Thomas Tuchel. Diesen Fragen begegnete er mit einer Kombination aus „Stoizismus, zielgerichteter Konzentration auf seinen Job und einem ausgeprägten Sinn für Humor, während er sich in den letzten Wochen selbst durch existentielle Ungewissheit bewegte“, adelte ihn The Athletic. Der Mann, der den FC Chelsea im Januar 2021 im Tabellenmittelfeld übernommen hatte, den Verein im Sommer 2021 zum Champions-League-Titel coachte, war im März das Gesicht des Klubs. Er versprach bis ans Ende der Saison beim FC Chelsea zu bleiben, auch wenn der Klub zahlungsunfähig sein sollte. Thomas Tuchel stand in jener Zeit so sehr für den FC Chelsea ein wie niemand anderes – und wurde nun, weniger als ein halbes Jahr später, entlassen. Wie konnte es dazu kommen?

Tuchel wollte ich auf Fußball konzentrieren

Dazu muss man betrachten, wie sich der FC Chelsea nach den Sanktionen gegen Roman Abramowitch entwickelt hat. Der Oligarch entschied sich, den Klub zu verkaufen. Nach einer monatelangen Hängepartie erhielt schon am 7. Mai ein Konsortium unter der Leitung von Todd Boehly, einem US-amerikanischen Unternehmer, der unter anderem Vorsitzender der Holdinggesellschaft Eldridge Industries ist, den Zuschlag. Bis der Verkauf endgültig abgeschlossen wurde, dauerte es aber noch in den Juni – und die Umstrukturierung des Klubs begann.

Die langjährige Sportdirektorin Marina Granovskaia wurde verabschiedet. Zwei Monate vorher hatte Tuchel die neuen Eigentümer öffentlich darum gebeten, weiterhin mit Granovskaia zusammenarbeiten zu dürfen. Boehly hatte allerdings andere Pläne und entschied kurzerhand, dass er selbst den Posten als Interimssportdirektor übernimmt. Diese Entscheidung wurde anfangs so gedeutet, dass nun Tuchel mehr und mehr die Aufgaben des Sportdirektor übernehmen sollte und Boehly nur unterstützend mitarbeitet. Wie CBS-Journalist Ben Jacobs berichtet, war am Anfang genau das der Plan. Die neuen amerikanischen Eigentümer hatten die Absicht, an Tuchel festzuhalten. Tuchel erhielt mehr Verantwortung und Macht innerhalb des Klubs. Und da ein Transfersommer bevorstand, der später als Premier-League-Rekordsommer in die Geschichte eingehen sollte, seien Boehly und Tuchel täglich in Kontakt gewesen, oft stundenlang.

Doch auf dem Transfermarkt lief es nicht wie erhofft. Chelsea kassierte einige Absagen von Tuchels Wunschspielern. Raphinha und Jules Koundé wechselten etwa nach Barcelona, obwohl die Verhandlungen mit Chelsea bereits sehr weit waren. Tuchel wurde, berichtet Jacobs, zunehmende frustrierter und die Kommunikation zwischen Boehly und Tuchel weniger. Tuchel habe zu dieser Zeit den Wunsch geäußert, sich mehr auf den Fußball konzentrieren zu wollen, statt mit potenziellen Neuzugängen zu verhandeln. Boehly sei hingegen der Meinung gewesen, Tuchel hätte bei den Transfers unterstützender sein können.

Nicht das erste Zerwürfnis mit den Entscheidern

Die Kommunikation kriselte Auf der einen Seite standen Boehly und Co-Eigentümer Behdad Eghbali, auf der anderen Seite Tuchel. Tuchel wollte sich auf den Fußball konzentrieren, wurde von den Besitzern aber immer wieder zu pozentiellen Neuzugängen befragt. Wie der Telegraph berichtet, wurde auch Cristiano Ronaldo intern diskutiert. Boehly habe den Portugiesen verpflichten wollen, Tuchel sei dagegen und verärgert gewesen, dass er sein „Nein“ überhaupt begründen musste. Vielleicht zeigt diese Anekdoten sinnbildlich, voran die Zusammenarbeit gescheitert ist. Zwei absolute Sturköpfe mit völlig unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Fußball – wie soll das klappen?

Chelseas Interimssportdirektor Todd Boehly. (Photo by GLYN KIRK/AFP via Getty Images)

Die Entscheidung, Tuchel zu entlassen, sei bereits vor der Niederlage gegen Dinamo Zagreb gefallen. Das wird übereinstimmend berichtet. Boehly und Eghbali planen, berichtet Telegraph, langfristig eine Atmosphäre wie bei den LA Dodgers, dem anderen großen Sportteam von Boehly aufzubauen. Mit deren Manager Dave Roberts arbeitet Boehly über seit über sieben Jahren zusammen. Die Trainerentlassung sei der erste Schritt dazu und der Zeitpunkt der richtige, wie es in der offiziellen Meldung des Klubs heißt.

Interessant ist, dass Tuchel nicht zum ersten Mal aufgrund atmosphärischer Störungen mit den Entscheidern entlassen wurde. Gleiches passierte bei seinen drei vorherigen Trainerstationen. Mainz 05 verließ er, obwohl er noch Vertrag hatte, ohne die Zustimmung von Sportdirektor Christian Heidel. Damals drohte sogar, dass der Tuchel-Abgang vor dem Arbeitsgericht landet. Beim BVB wurde die Zusammenarbeit ebenfalls nach circa zwei Jahren beendet, weil, so sagte es BVB-Chef Hans-Joachim Watzke, es „einfach nicht passte“. Kurz nach der Entlassung schrieb Watzke, es gehe „um Verlässlichkeit und Loyalität.“ Noch ein wenig später sagte er im Podcast bei Maischberger, dass Tuchel ein schwieriger Mensch sei. Auch bei Paris Saint-Germain wurde immer wieder über Differenzen zwischen Tuchel und Sportdirektor Leonardo berichtet.

Wie die Spieler des FC Chelsea auf die Entlassung Tuchels reagiert haben, ist bisher nicht bekannt. Der Telegraph schreibt vage, dass die Beliebtheit des Trainers in der Kabine in den letzten Wochen abgenommen habe und sich Boehly auch deswegen zur Entlassung entschieden habe.

FC Chelsea: Spielern würde Egoismus vorgeworfen werden

Was bleibt, sind 589 Tage von Tuchel als Trainer des FC Chelsea. Er hat aus einer weitegehend dysfunktionalen und uninspiriert spielenden Mannschaft eine Ergebnismaschine gemacht und bewies endgültig, dass er zu den besten Trainern der Welt zählt. Er erreichte vier nationale und internationale Endspiele, mehr als jeder Chelsea-Trainer zuvor, und gewann die Champions League.

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Sportlich ist es schwer vorzustellen, dass der FC Chelsea einen besseren Trainer als Thomas Tuchel finden wird. Und überhaupt zeigt die Entlassung wieder mal, wie schnelllebig das Fußballgeschäft ist und wie wenig die von Watzke eingeforderten Werte Verlässlichkeit und Loyalität für Klubs zählen, wenn die Zusammenarbeit mal hakt. Spielern würde Egoismus vorgeworfen werden, wenn sie so handeln würden. Klubs tun dies immer öfter, wie auch die Entlassung von Domenico Tedesco keine vier Monate nach dem DFB-Pokalsieg zeigt.

(Photo by Jurij Kodrun/Getty Images)


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