BVB und die riesige Hürde Real Madrid: Der Underdog kämpft gegen das „Business as usual“ an
1. Juni 2024 | Spotlight | BY Michael Bojkov
Showtime in Wembley: Am Samstagabend duellieren sich der BVB und Real Madrid um den Henkelpott. Was viele in Schwarz-Gelb als einmalige Chance begreifen, ist für die Madrilenen fast schon so etwas wie das täglich Brot.
Aus London berichtet Michael Bojkov.
BVB: Ein Turnierverlauf, der ihnen recht gibt
„Im Finale spielt man nicht, im Finale gewinnt man.“ Die Worte von Edin Terzic auf der gestrigen Pressekonferenz im Wembley Stadium unterstreichen die Zuversicht, mit der die Borussia und ihre Fans nach London gereist sind. Dass man gegen Real Madrid klarer Außenseiter ist, daraus machen Spieler und Verantwortliche keinen Hehl. Genauso wenig aber auch daraus, dass der BVB für das dritte Champions-League-Finale der Vereinsgeschichte bestens gewappnet ist. „Wir sind bereit, auf dem höchsten Level zu konkurrieren. Wenn du im Finale stehst, ist alles möglich im Fußball. Es ist klar, dass sie die Rolle des Favoriten haben, aber das interessiert uns nicht“, sagte Terzic, dem der Glaube an sich und seine Mannschaft in Mimik und Gestik geschrieben war.
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Hoffnung macht dem BVB nicht nur das von Terzic explizit gelobte Training in den vergangenen beiden spielfreien Wochen, sondern allen voran der Weg, den man nach London genommen hat. Schon der Gruppensieg in der „Todesgruppe“ F mit PSG, Newcastle und der AC Milan kam gewissermaßen überraschend. Nach einem in Summe etwas schmeichelhaften Weiterkommen gegen Eindhoven und einer enttäuschenden Hinspielpleite im Viertelfinale gegen Atlético bewies die Terzic-Elf im Rückspiel gegen die Colchoneros eine atemberaubende Willensleistung, die sie ins Halbfinale brachte. Dort überzeugte der BVB in beiden Spielen gegen Paris mit einer couragierten Defensivleistung und zog am Ende verdient, wenn auch mit Glück, das Ticket für Wembley.
Dortmund und die Schattenseite Bundesliga
Derweil ließen die Dortmunder in der Bundesliga regelmäßig so manches vermissen, legten phasenweise gar eine gewisse Lethargie an den Tag. Ein ernüchternder fünfter Platz – die schlechteste Platzierung seit neun Jahren – waren das Resultat, aufgrund des deutschen Bonusplatzes in der Champions League darf sich der BVB, unabhängig vom Ausgang des Spiels gegen Real, dennoch über Königsklassen-Fußball in der kommenden Saison freuen.
Sky-Reporter Jesco von Eichmann, der mit 90PLUS im Vorfeld der Partie gesprochen hat, tut sich schwer, diesen Leistungskontrast zwischen nationalem und internationalem Wettbewerb zu erklären: „Es wirkt immer so ein bisschen wie Heldenfußball. In den großen Spielen glänzen die Helden, in den anderen sammeln sie dann ihre Kräfte. Insgesamt wird das vom Erfolg in der Champions League und der erneuten Qualifikation zur Königsklasse leicht übertüncht. Da muss aber im Sommer eine ganz rationale Analyse der Bundesliga-Saison folgen und es müssen Schlüsse draus gezogen werden. Denn das Phänomen, dass der BVB nur kann, wenn er muss, ist nicht neu.“ Dass Dortmund im Endspiel der Königsklasse steht, kaschiert also gewissermaßen eine in vielen Punkten unterdurchschnittliche Saison.
Real Madrid: Qualität und Wille als der heilige Grahl
Der BVB ist in der laufenden Saison eine Mannschaft für die großen Spiele, und das Finale in Wembley ist bekanntlich eines. Das haben die Schwarz-Gelben im Mai 2013 bitter zur spüren bekommen, als sie im deutschen Endspiel spät dem FC Bayern mit 1:2 unterlagen. Versuch zwei in London soll sitzen. Genau wie Carlo Ancelotti gebetsmühlenartig vor dem Gegner warnte, versuchte auch Luka Modric, die Favoritenrolle von sich und seinen Mitspielern abzupellen: „Alle sagen, wir seien der Favorit. Aber wir sehen das nicht unbedingt so. Das ist ein 50-50-Spiel. Wir haben großen Respekt vor dem BVB“, so der Mittelfeldstar, der eine Verlängerung seines Ende Juni auslaufenden Vertrages anstrebt. Die Königlichen übten sich in den vergangenen Tagen in Demut und wussten dennoch zu betonen, wo das eigene Leistungsvermögen liegt. „Das Wichtigste ist, das in die Köpfe der Spieler zu kriegen, was sie auf den Platz bringen müssen“, erklärte Ancelotti. „Wir haben über die Saison zwei wichtige Dinge gezeigt: Zum einen Qualität, aber auch Wille. Das werden die beiden Schlüssel für das Finale sein.“
Die Schlüssel zum Erfolg? Schaut man in die jüngere Vergangenheit, so ist diese Frage definitiv zu bejahen. Gerade in den entscheidenden Spielen der Champions League kam Real Madrid wie keine andere Mannschaft über Momente, in denen sie über sich hinauswuchsen. Zuletzt im Halbfinal-Rückspiel gegen den FC Bayern, wo man bis zur 88. Minute noch 0:1 hinten lag. Das Resultat ist bekannt: Mit einem Doppelpack sorgte Joselu dafür, dass die Königlichen nach Wembley reisen und vom 15. Henkelpott ihrer Vereinshistorie träumen dürfen. Wer bei den Blancos Schwächen finden will, muss lange suchen. „Es gibt sie“, verriet Terzic am Freitag, ohne jedoch näher ins Detail gehen zu wollen. Auch BVB-Reporter von Eichmann tat sich bei der Madrider Fehlersuche schwer: „Ich sehe bei Real nur wenige Schwächen, seitdem sie nicht mehr den einen Star haben, sondern viel breiter aufgestellt sind. Für mich wäre Antonio Rüdiger, wenn er spielt, eine. Den etwas reizen, unter Druck setzen – vielleicht lässt er sich zu etwas hinreißen. Ansonsten gilt für den BVB, wie eigentlich gegen alle Topmannschaften: Keine leichten Ballverluste, keine unnötigen Standards zulassen. Und die wenigen Umschaltmomente nutzen.“
Hält das Dortmunder Bollwerk auch die Königlichen stand?
Umschaltmomente sind ein gutes Stichwort, denn genau auf diese Art und Weise strahlten die Schwarz-Gelben in der Champions League zuletzt Gefahr aus. In den beiden erfolgreichen Halbfinalspielen gegen PSG galt der Fokus ganz klar der Defensive, und Terzic betonte, dass diese auch gegen Real Madrid der Schlüssel zum Erfolg sei. In der Champions League agierte Dortmund zuletzt in einem kompakten 4-1-4-1 und machte es dem Gegner so extrem schwer, das letzte Drittel vernünftig zu bespielen. Besonders Mats Hummels und Nico Schlotterbeck wuchsen beim Finaleinzug über sich hinaus. Für Real Madrid wird neben Qualität und Wille, wie Ancelotti es betonte, also auch Geduld ein Schlüssel sein, um die Dortmunder zu knacken. Schafft der spanische Meister es, in Ruhe den Ball laufen zu lassen, vorne Überzahlsituationen zu kreieren und in den richtigen Momenten das Spiel zu verlagern, um dann über die dribbelstarken Vinícius Junior und Rodrygo Eins-gegen-eins-Situationen zu provozieren, könnte es für den BVB extrem unangenehm werden.
Ein krönender Abschluss
Eine entscheidende Rolle wird dahingehend auch in seinem letzten Spiel auf Toni Kroos zukommen. Als Taktgeber wird er sich situativ in die letzte Kette fallen lassen, um von dort aus das Spiel aufzuziehen und sich andersherum auch mal in etwas höhere Zonen bewegen und mit gewohnt genialen Bällen Angriffe initiieren. Das zumindest sieht der Plan vor. Gewinnt der DFB-Rückkehrer, der bei sämtlichen Madridistas längst den Legendenstatus erreicht hat, in seinem allerletzten Spiel für Real auch seine letzte große Trophäe auf Vereinsebene? Er selbst versuchte, die besonderen Umstände auszublenden: „Ich denke nur daran, dieses Spiel zu gewinnen.“ Und wenn Kroos es nicht tut, wird Marco Reus derjenige sein, der den Henkelpott in den Londoner Nachthimmel reckt. Auch für ihn ist das Champions-League-Finale das letzte Spiel im schwarz-gelben Dress, eine Vereinslegende ist er schon lange. Ganz gleich also, was am Ende auf der Anzeigetafel steht: Wembley wird sich gebührend von zwei ganz großen Spielern verabschieden.
(Photo by GLYN KIRK/AFP via Getty Images)
Michael Bojkov
Lahm & Schweinsteiger haben ihn einst zum Fußball überredet – mit schwerwiegenden Folgen: Von Newcastle über Frankfurt bis Cádiz saugt Micha mittlerweile alles auf, was der europäische Vereinsfußball hergibt. Seit 2021 im Team. Hat unter anderem das Champions-League-Finale 2024 und die darauffolgende Europameisterschaft vor Ort für 90PLUS begleitet.